Im Takt der Wellen und Moskitos

Es sieht aus wie eine Foto­ta­pe­te, und doch ist es Rea­li­tät: Wir sind an einem tro­pi­schen Strand in Cos­ta Rica ange­kom­men. Wir könn­ten uns wie Robin­son Cru­soe füh­len, wären da nicht die vie­len ande­ren klei­nen Hüt­ten, in denen Ein­hei­mi­sche und ame­ri­ka­ni­sche Rent­ner hau­sen. Und doch sehen wir, wenn wir vor unse­rer Hüt­te sit­zen, nur das Meer und die Pal­men. Kaum sind wir hier ange­kom­men, glei­ten die Tage und Wochen dahin. Es gibt nur noch einen Rhyth­mus, und den gibt die Natur vor.

Die­se Natur ist für mich noch ein Mys­te­ri­um. Ich habe noch kein Gespür für sie, wie ich es für deut­sche Eichen oder medi­ter­ra­ne Wan­der­we­ge ent­wi­ckelt habe. Ich habe bis jetzt nur auf sol­che Foto­ta­pe­ten mit Pal­men und Sand­strand von Plas­tik­sofas aus gestarrt. Ich habe schon an vie­len Orten auf die­ser Welt gelebt oder sie besucht, aber alles, was tro­pi­scher war als Flo­ri­da, habe ich aus­ge­spart. Die drei Wochen auf Indo­ne­si­en, als unse­re ältes­te Toch­ter lau­fen lern­te, zäh­le ich nicht dazu, weil wir vor allem auf Bali waren und mir dort sogar die Urwald­bäu­me am Stra­ßen­rand künst­lich vor­ka­men, wie für die Tou­ris­ten auf­ge­stellt. Und so füh­le ich mich hier plötz­lich in die­se unbe­kann­te Kulis­se hin­ein­ka­ta­pul­tiert. Ich sehe eine Kokos­nuss, die direkt von der Pal­me gefal­len ist, und habe kei­ne Ahnung, wie man da jetzt an das Inne­re kommt. Mei­ne ein­zi­ge Erfah­rung mit ech­ten Kokos­nüs­sen beschränkt sich auf eine Kind­heits­er­in­ne­rung, bei der ich mei­ne Mut­ter mit einer Säge und der besag­ten Nuss im Bade­zim­mer sehe. Ich weiß auch, dass es in tro­pi­schen Län­dern rie­si­ge Insek­ten gibt, aber dann mons­trö­se Amei­sen vor mir im Gras krab­beln zu sehen, erschreckt mich. Und schon nach kur­zer Zeit stel­le ich fest, dass Klei­der auch im Schrank schim­meln kön­nen. Ich ver­su­che zu ver­ste­hen, wie die Natur hier tickt, um nicht anzu­ecken oder ver­schlun­gen zu wer­den. Und ich ver­su­che zu ver­ste­hen, was die Leu­te welt­weit so dar­an fin­den. Ich bin dazu auch noch kein Oze­an­freund – Tau­chen und Fische und sowie­so das tie­fe Was­ser machen mir eine Hei­den­angst. Gebt mir Ber­ge, das macht mir Ent­de­cker­lust! Meer ist nur schön zum Anschau­en. Und die­ses Anschau­en übe ich inten­siv. Wäh­rend unse­re zwei klei­nen Mäd­chen und mein Mann fröh­lich unter den Pal­men ren­nen, Amei­sen zum Trotz, und sich ins Was­ser wer­fen, ste­he ich zunächst am Rand und beob­ach­te. Was mir dabei hilft? Wel­len. Wel­len sind mei­ne Inte­gra­ti­ons­hel­fer.

Sie kom­men aus dem Nichts, aber man kann dar­auf ver­trau­en, dass sie kom­men. Sie machen einen Buckel, und ecken dann an. Sie ent­wi­ckeln sich inner­halb von Sekun­den von einer glat­ten Woge in eine spru­deln­de Kraft. Wenn sie auf­be­geh­ren, wenn die Gischt spritzt, dann steht sie kurz vor dir, die­se eine Wel­le. Sie ist stark und mit­rei­ßend. Sie trägt dich bis zum Strand. Mit­rei­ßen und Tra­gen. Auf­be­geh­ren und Ver­söh­nen. Hin und her. Hin und her.

Unse­re Tage begin­nen frü­her, als wir es auf unse­rer Lang­zeit­rei­se gewohnt sind. Schon um sechs Uhr am Mor­gen dringt das Vogel­ge­zwit­scher durch die immer offe­nen Fens­ter hin­ein. Es ist hell und heiß, und unse­re zwei Töch­ter krab­beln zwi­schen Ven­ti­la­tor und Mos­ki­to­netz in unser Bett. „Huuun­ger“, schreit eine. Da ste­hen wir wohl auf, und ich bete dann immer ein­mal kurz, dass auch die letz­te Kaker­la­ke die Küche ver­las­sen hat und ich kei­ner mehr begeg­nen muss. Genüss­lich schlür­fen die zwei blon­den Mäd­chen in Unter­wä­sche ihr Müs­li, und wir Erwach­se­nen sit­zen dane­ben und trin­ken etwas und star­ren in die Pal­men­wip­fel. Der Strand liegt direkt dahin­ter, man kann direkt von unse­rer Ter­ras­se los­ren­nen und ist Sekun­den spä­ter in eine Wel­le gesprun­gen. Das machen wir auch, sobald die Müs­li­scha­len geleert wur­den. Das Was­ser strahlt in einem Blau, das ich von der Nord­see nicht ken­ne. Im ewi­gen Rau­schen sit­zend las­se ich mich über­rol­len. Hin und her, hin und her. Mei­ne Kin­der bud­deln hin­ter mir lei­den­schaft­lich im Sand, und ich den­ke, dass es weni­ge Orte auf die­ser Welt gibt, wo ich sie so sorg­los aus den Augen las­sen kann. Die Son­ne ist noch nicht so inten­siv und wir kön­nen Muscheln suchen und Grä­ben aus­he­ben. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, so wie auch die letz­ten Tage nicht. Von Zeit zu Zeit glei­ten Peli­ka­ne ganz knapp über den Wel­len­käm­men. Ich wür­de ger­ne so schwe­ben kön­nen wie ein Peli­kan. Ich lie­ge aber zwi­schen Schüt­zen­grä­ben und Wach­tür­men aus Sand wie ein Wal­ross und habe das Gefühl, nie wie­der einen Schritt machen zu wol­len.

Das ändert sich mit der inten­si­ver wer­den­den Son­ne. Wahr­schein­lich ist es erst zehn Uhr, oder schon spä­ter? Ich bin nor­ma­ler­wei­se ziem­lich gut dar­in, die Uhr­zeit zu schät­zen, aber hier im Sand ver­liert das an Bedeu­tung. Es ist auf alle Fäl­le heiß und die Son­ne brennt. „Kommt, wir gehen zurück“, sage ich in die Run­de. Und da trot­ten wir wie­der zurück zu unse­rer Hüt­te, mit Schwimm­flü­geln und Stö­cken bewaff­net. Wäh­rend die ande­ren in der Hän­ge­mat­te chil­len, schlur­fe ich lang­sam in die Küche. Mein Magen sagt mir, dass es Zeit zum Kochen ist, auch wenn ich kei­ne Uhr habe. Das ken­ne ich noch aus mei­nem alten Leben mit Job und Haus­halt: Das stres­si­ge Kochen am Mit­tag, wenn zwei klei­ne Kin­der vor Hun­ger und Müdig­keit schrei­en und mein Mann auf die Minu­te von der Arbeit nach Hau­se kommt, sei­ne Por­ti­on ver­schlingt, und genau vier­zehn­ein­halb Minu­ten spä­ter wie­der auf­springt, um zurück ins Büro zu hech­ten. Und wäh­rend ich in aller Ruhe Zwie­beln schnei­de, erin­ne­re ich mich dar­an, wie stark ich mich bis jetzt gegen Rhyth­men gewehrt habe. Wenn die Tage in ein Mus­ter gezwängt wer­den, wenn alles auf die Minu­te genau funk­tio­nie­ren muss, dann will ich nicht. Dann wür­de ich am liebs­ten aus­gie­big auf dem Wohn­zim­mer­bo­den pick­ni­cken, oder bis mit­tags im Bett lie­gen blei­ben. Rhyth­men, die ich nicht selbst bestim­men kann, machen mich zur Teen­age­rin.

Jetzt sagt mein Bauch, dass wir essen soll­ten. Trä­ge sit­zen wir geschützt unter dem Blät­ter­dach, und sto­chern in Reis mit Boh­nen. In die­sem Punkt pas­sen wir uns der hei­mi­schen Küche an. Die Träg­heit, ange­feu­ert von der Hit­ze und dem Mor­gen am Was­ser, schickt uns direkt danach ins Bett. Das Baby, das noch vor einem Monat den Mit­tags­schlaf abge­schafft hat­te, ratzt in der Hän­ge­mat­te. Zwei Stun­den lang rührt sich nie­mand, außer die Peli­ka­ne, die immer wie­der über die Pal­men flie­gen. Und ich den­ke über Rhyth­men nach, die von der Son­ne bestimmt wer­den. Ich weh­re mich jetzt nicht gegen das frü­he Auf­ste­hen, die pünkt­li­che Mahl­zeit, die Zeit des Nach­hau­se­ge­hens. Nicht wie im hoch­op­ti­mier­ten Arbeits­all­tag, wo ich mor­gens im Dun­keln auf­stand und abends bis in die Pup­pen noch am PC saß. Hier bin ich im Ein­klang. Ich pas­se mich den Vögeln, Amei­sen und Kokos­nüs­sen an, die unbe­weg­lich auf dem Boden lie­gen, und ver­sin­ke. Da ist kei­ne Rebel­li­on, kei­ne Unzu­frie­den­heit. Ich habe das Gefühl, die Foto­ta­pe­te hat mich hyp­no­ti­siert und ver­schlingt mich gera­de. Und das las­se ich gesche­hen. Im Halb­schlaf höre ich die Wel­len bre­chen und wer­de an den Strand getra­gen.

Es dau­ert eine Wei­le, die­se Lethar­gie wie­der abzu­schaf­fen. Irgend­wann packt einen von uns die Unge­duld, und wir trot­ten wie­der an den Strand. Die­se Woche ist nach­mit­tags Flut, und die Wel­len lecken an den Pal­men. Wo am Vor­mit­tag noch ein brei­ter Sand­strei­fen war, sind jetzt nur weni­ge Meter bis zum Was­ser. Dort liegt hau­fen­wei­se Schwemm­holz. Was so unfo­to­gen aus­sieht, ist in Wahr­heit ein rich­ti­ger Schatz. Die schöns­ten Höl­zer, ver­schlun­gen, geschlif­fen und aus­ge­spuckt von den Wel­len. Ihnen wur­de ein zwei­tes Leben gege­ben, und jedes ist ein Kunst­werk. Stun­den­lang kön­nen wir sam­meln, bewun­dern, und ver­bau­en. Mein Mann hat direkt eine klei­ne Hüt­te gebaut, unter deren Dach wir im Schat­ten sit­zen und Kek­se essen. Eigent­lich müss­ten wir mal gegen die Schmutz­wä­sche, die sich im Bade­zim­mer sta­pelt, ange­hen, oder uns infor­mie­ren, wo wir als nächs­tes hin­ge­hen kön­nen, wenn in einer Woche unse­re Hüt­te besetzt ist. Aber hier am Strand ist das so eine Sache mit dem „Ich-soll­te-ein­mal“. Die Wel­len bre­chen über die­sen Wor­ten, und klang­los wer­den sie ins Meer getrie­ben. Unter der Was­ser­ober­flä­che schwim­men vie­le Sät­ze und blei­ben unge­hört. Ich habe ein Gefühl und das Gefühl flüs­tert mir ins Ohr, war­um Men­schen auf der gan­zen Welt sich tro­pi­sche Strän­de ins Wohn­zim­mer hän­gen. Ich nicke.

Die Son­ne beugt sich zum Hori­zont her­un­ter. Die Far­ben eines Son­nen­un­ter­gangs wür­de ich nie­mals für eine Innen­de­ko aus­wäh­len, aber hier, zwi­schen den Hügeln und Wel­len, sind sie ein­fach genau rich­tig. Die Amei­sen sind schla­fen gegan­gen, und wir gehen schnell ins Haus. Denn in der Däm­me­rung kom­men die gan­zen Mücken her­vor, die die­sem Strand den Namen „Zan­cu­do“ gege­ben haben. Sie sind dann ein­fach da, und nachts wachen die Kin­der krat­zend auf. Auch Insek­ten­spray hilft gegen die Bes­ti­en nicht, und so schlie­ßen wir wider­spruchs­los die Tür hin­ter uns und las­sen die Natur drau­ßen Natur sein. Es gibt Reis mit Boh­nen und für unse­re Töch­ter Ket­chup. Kur­ze Zeit spä­ter ist es stock­dun­kel. Zu einer Zeit, in der an ande­ren Orten Men­schen erst raus gehen und Gemein­schaf­ten zum Leben erwa­chen, zie­hen wir uns hier in uns zurück. Kurz nach dem Essen wer­den die Mäd­chen sehr müde, und wir brin­gen sie vor sie­ben Uhr ins Bett. Es fühlt sich an, als wäre es schon spät. Sehr spät. Wir Erwach­se­ne lie­gen noch kurz mit erleuch­te­ten Han­dy­bild­schir­men im Bett, aber die Müdig­keit schwappt auch über uns. Viel­leicht holen wir den Schlaf nach, den wir uns in all den exzes­si­ven Freund­schafts- und Fami­li­en­mo­men­ten der letz­ten Mona­te nicht gegönnt haben. Viel­leicht aber las­sen wir uns ein­fach von der Wel­le trei­ben, die gera­de unse­re Tage hier ver­schwim­men lässt. Der Rhyth­mus, dem wir uns anpas­sen und der uns die Ver­ant­wor­tung nimmt, Ent­schei­dun­gen zu tref­fen. Denn die Ent­schei­dun­gen sind schon getrof­fen wor­den, und wir dür­fen uns ein­fach in einer Gemein­schaft fal­len las­sen, die bis aufs Kleins­te funk­tio­niert. Amei­sen, Kokos­nüs­se, Peli­ka­ne – jeder weiß, was zu tun ist. Ich kann mei­nen Wider­wil­len los­las­sen und wer­de das für eine gan­ze Wei­le tun. Denn die­se Welt, die tro­pi­sche Foto­ta­pe­te, wird zu unse­rem Lebens­vor­der­grund für gan­ze vier Mona­te. Aus einer Woche wur­de eine unbe­stimm­te Zeit, die sich manch­mal eben doch wie eine Woche anfühlt und manch­mal wie ein ein­zi­ger Traum. Ich las­se es ein­fach zu und las­se mich in die Unge­wiss­heit des mor­gi­gen Tages tra­gen. Auf­be­geh­ren und ver­söh­nen. Hin und her.

Hin und her.


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