Die Stre­cke von Prešov nach Ubl’a ver­sprach auf der Stra­ßen­karte zwei­ein­halb Stun­den gepflegte Lan­ge­weile. Es moch­ten viel­leicht ein­hun­dert­fünf­zig Kilo­me­ter sein, eher weni­ger, und die Land­schaft ließ nichts son­der­lich Auf­re­gen­des erwar­ten. Mit dem Auto würde man die Distanz ohne große Begeis­te­rung, aber auch ohne Stress bewältigen.

Lei­der hatte ich kein Auto.

Ubl’a war einer von nur zwei Grenz­über­gän­gen, die aus der Slo­wa­kei in die Ukraine führ­ten. Dort­hin wollte ich. In der Prešo­ver Tou­ris­ten­in­for­ma­tion erkun­digte ich mich nach Ver­bin­dun­gen in die Ukraine. Es stellte sich her­aus, dass ich zuerst bis Vra­nov fah­ren, anschlie­ßend einen Bus nach Humenné neh­men und in Snina ein drit­tes Mal umstei­gen musste. Ins­ge­samt würde ich nach Ubl’a min­des­tens einen hal­ben Tag unter­wegs sein. „Das ist immer noch schnel­ler als mit dem Zug“, beschied mir die etwa zwan­zig­jäh­rige Ange­stellte, nach­dem sie inten­siv ihren Com­pu­ter zu Rate gezo­gen hatte. Mit Jeans und T‑Shirt war sie für slo­wa­ki­sche Ver­hält­nisse – wo Frauen gerne etwas schi­cker daher­kom­men – leger geklei­det. „Außer­dem“, fügte sie mit mali­ziö­sem Lächeln hinzu, „fährt die Eisen­bahn nur bis Snina!“

Griechisch-katholische-Holzkirche-am-Fuß-des-Vihorlat

Was sie denn an mei­ner Stelle machen würde, fragte ich die immer noch über­le­gen lächelnde Dame von der Tou­ris­ten­aus­kunft: mit dem Bus fah­ren? „Ich würde über­haupt nicht fah­ren“, kam die Ant­wort. „Was soll ich denn in der Ukraine?!“ Tat­säch­lich war sie in ihrem gan­zen Leben noch nie dort gewe­sen. Wenn sie wie ihre Alters­ge­nos­sin­nen ins Aus­land fuhr, ging es immer nur in eine Rich­tung, nach Wes­ten – oder über den Dukla-Pass ins nahe Polen, das sie wie ihr eige­nes Land zu Mit­tel­eu­ropa zählte. Die Ukraine dage­gen sei für Slo­wa­ken gleich­be­deu­tend mit Osten, Sowjet­union und Kom­mu­nis­mus – Schreck­ge­spinste, mit denen sich ihre Eltern jahr­zehn­te­lang her­um­ge­plagt hat­ten und die anschei­nend immer noch geeig­net waren, brave Töch­ter von der Reise gen Don und Dnjepr abzuhalten.

Da ich der ein­zige Gast in der Tou­ris­ten­in­for­ma­tion war, nutzte das Fräu­lein vom Ver­kehrs­amt die Zeit für ein paar Rei­se­emp­feh­lun­gen. Ich solle mir doch lie­ber Svid­ník anschauen. Dort gebe es ein Museum der ruthe­ni­schen Min­der­heit. Oder ins nahe Med­zi­la­borce fah­ren, wo der berühm­teste aller Ruthe­nen, ein gewis­ser Herr War­hola, sei­nem Volk eine Samm­lung sei­ner Werke ver­macht habe, die abso­lut sehens­wert sei. Sie selbst stamme aus Bar­de­jov, einem Städt­chen, das von der UNESCO in die Liste des Welt­kul­tur­er­bes auf­ge­nom­men wurde. Wenn ich wollte, könne ich gerne eine Woche kos­ten­los bei ihr woh­nen, und sie würde mich nach Fei­er­abend in ihrem neuen Škoda her­um­kut­schie­ren und mir den wun­der­schö­nen Markt­platz Ihres Hei­mat­or­tes sowie alle Holz­kir­chen in der Umge­bung zei­gen. Den letz­ten Satz sagte sie nicht wirk­lich, obwohl er der ein­zige gewe­sen wäre, der mich von einer Reise in die Ukraine hätte abhal­ten können.

Snina-im-Regen

Die Fahrt über Vra­nov, wo ich umstei­gen musste, bis nach Humenné ver­lief recht ereig­nis­los. Inzwi­schen war es Nach­mit­tag gewor­den. Mei­nen Anschluss­bus nach Snina hatte ich wohl ver­passt, jeden­falls musste ich über eine Stunde auf die nächste Abfahrt war­ten, wie die große Tafel über dem Aus­gang des Bus­bahn­hofs ver­kün­dete. Ich schlen­derte zur Eisen­bahn­sta­tion, die direkt gegen­über lag. Dort stand sogar ein Zug bereit, ein rot gestri­che­ner Trieb­wa­gen mit gel­bem Dach, der auf den fünf Glei­sen etwas ver­lo­ren wirkte. Der Die­sel­mo­tor tuckerte bereits, und viele Fahr­gäste, dar­un­ter auch einige aus mei­nem Bus, hat­ten bereits darin Platz genom­men. Ich beschloss, kur­zer­hand eben­falls ein­zu­stei­gen, denn das put­zige Gefährt fuhr, wie die Nach­frage beim Schaff­ner ergab, direkt nach Snina. Die Fahr­karte würde ich im Zug lösen können.

Ich hatte mich gerade gesetzt, da ging es auch schon los. Damit hatte die Dyna­mik lei­der bereits ihr Ende: Mit einer Geschwin­dig­keit von geschätz­ten zehn Stun­den­ki­lo­me­tern nahm der Trieb­wa­gen die rest­li­che Stre­cke in Angriff. Eine halb­wegs trai­nierte Schild­kröte hätte locker neben­her lau­fen können.

Rechts zogen die grü­nen Hügel des Vihor­lat-Gebir­ges vor­bei. Oder zogen wir an ihnen vor­bei? In der Hitze und dem schräg ein­fal­len­den Son­nen­licht schien alles zu ver­schwim­men. Der Zug hielt an jeder Ansamm­lung von mehr als vier Häu­sern. Heute würde ich nicht mehr in die Ukraine kom­men, was viel­leicht auch sein Gutes hatte: Nachts vor einem mög­li­cher­weise geschlos­se­nen Grenz­über­gang zu ste­hen war alles andere als eine ver­lo­ckende Aussicht.

Kommt man in Snina aus dem Bahn­hof, liegt vor einem die Fuß­gän­ger­zone. Die meis­ten Bau­ten stam­men aus den 1960er und 1970er Jah­ren, und die vor­herr­schende Farbe ist grau. Doch machte die Stadt ins­ge­samt kei­nen depres­si­ven Ein­druck. Snina wies eine recht jugend­li­che Bevöl­ke­rung auf, wohl­tu­end anders als die deut­schen, von Glat­zen und Grau­schöp­fen gepräg­ten Städt­chen ähn­li­cher Grö­ßen­ord­nung und Abge­schie­den­heit. Es gab meh­rere Piz­ze­rien, Eis­die­len und Kaf­fee­stu­ben, ein Kul­tur­zen­trum, ein gro­ßes Kino, zwei Fit­ness­zen­tren, zwei Inter­net-Cafés – also genug Mög­lich­kei­ten, sich zu amüsieren.

Snina,-Fußgängerzone

Fehlte noch eine Unter­kunft. Auf einem aus Sozi­zei­ten stam­men­den unför­mi­gen Hoch­haus­kas­ten in der Ferne prang­ten rie­sige blaue Let­tern, die sich zu einem Namen zusam­men­füg­ten: „Hotel Vihor­lat“. Da ich nicht lange suchen wollte, begab ich mich schnur­stracks dorthin.

Die Rezep­tio­nis­tin trug ein Rin­gel-T-Shirt und ging wohl noch zur Schule. Ja, sie hät­ten noch Zim­mer frei, beant­wor­tete sie meine Frage und nannte einen selbst für slo­wa­ki­sche Ver­hält­nisse äußerst mode­ra­ten Preis. Ich akzep­tierte freu­dig, tauschte Pass gegen Schlüs­sel und stieg in den Auf­zug, um mir das Zim­mer anzu­schauen. Mit atem­be­rau­ben­der Geschwin­dig­keit – ich war noch an das Tempo des Zuges gewöhnt – wurde ich nach oben in den vier­ten Stock katapultierte.

Ein lan­ger Gang erwar­tete mich. Nach gefühl­ten zwei­hun­dert Metern stand ich vor mei­ner Tür. Dahin­ter ver­bar­gen sich zwei kleine Zim­mer mit vier Bet­ten. Nach rechts ging ein sepa­ra­ter Dusch­raum ab. Nur der Gestank störte mich. Es roch so, als hätte es in der Nacht zuvor einen aus­gie­bi­gen Hotel­brand mit mensch­li­chen Opfern gege­ben. Ich ver­suchte, ein Fens­ter zu öff­nen. Das war gar nicht so ein­fach. Ich musste kräf­tig daran rüt­teln – und hielt es eine Sekunde spä­ter kom­plett mit Rah­men in der Hand. Was sollte ich tun? Regen war zwar nicht zu erwar­ten, aber auch mit reich­lich Frisch­luft­zu­fuhr konnte ich unmög­lich auch nur eine Nacht in dem Zim­mer ver­brin­gen. Ich stellte das Fens­ter auf den Boden, schloss die Tür ab und begab mich wie­der nach unten, wo das Fräu­lein von der Rezep­tion bereits auf mich war­tete. Dies­mal war mir die Situa­tion unangenehm.

Hotel-Vihorlat,-am-Rand-der-Fußgängerzone-betrachtet

„Sagen Sie mal“, fragte ich unbe­fan­gen, „hat es bei Ihnen vor kur­zem gebrannt?“- „Ja, letzte Nacht“, kam die uner­war­tet offene Ant­wort. „Sämt­li­che Hotel­an­ge­stell­ten sind dabei ums Leben gekom­men. Ich hatte gott­sei­dank frei, aber jetzt muss ich hier alles alleine machen.“ Jeden­falls inter­pre­tierte ich ihre Ant­wort so. Es konnte auch sein, dass meine slo­wa­ki­schen Sprach­kennt­nisse noch nicht aus­reich­ten und sie ein­fach mit „Nein“ geant­wor­tet hatte.

„Kön­nen Sie ein ande­res Hotel in Snina emp­feh­len?“, ver­suchte ich es. „Nicht wirk­lich“, seufzte die junge Dame. „Aber wenn’s ledig­lich am Geruch liegt: Pro­bie­ren Sie es doch mit einem der Zim­mer zur ande­ren Seite hin. Da hätte ich noch eins anzu­bie­ten, zum sel­ben Preis.“

Ich nahm den Schlüs­sel, den sie mir reichte, und sprang in den Auf­zug. Er hätte einem Pilo­ten das Zen­tri­fu­gal­trai­ning erspa­ren kön­nen. Das neue Zim­mer wirkte noch grö­ßer als das alte. Es war mit Dusche und Bade­wanne aus­ge­stat­tet, und roch nur so, als hätte es vor einem hal­ben Jahr gebrannt. Viel­leicht stammt der Geruch auch aus dem Ofen der Piz­za­kü­che, die direkt unter mei­nem Fens­ter lag.

Ach ja, Hun­ger hatte ich auch. Ich begab mich direkt ins Restau­rant, über­legte kurz, ob ich das Per­so­nal der Gefahr einer Befeue­rung des Holz­koh­le­ofens aus­set­zen durfte, ent­schied mich dann aber doch für eine Pizza. Sie schmeckte aus­ge­zeich­net und war kein biss­chen verbrannt.

Am nächs­ten Mor­gen machte ich einen letz­ten Rund­gang durch Snina. In einer Wech­sel­stube konnte ich einige Griwni erwer­ben. Ich plante, die Grenze zu Fuß zu über­que­ren; wer weiß, wann sich eine Mög­lich­keit zum Geld­tausch erge­ben würde. Dann stieg ich in den Bus nach Ubl’a. Bald schon rollte ich auf der Natio­nal­straße 74 aus Snina her­aus. Eine halbe Stunde Fahrt, dann zwei Kilo­me­ter Fuß­weg durch den Wald, am Fuß des Vihor­lat-Gebir­ges, und ich würde die EU verlassen.

Cate­go­riesSlo­wa­kei
Ralf Höller

Ralf Höller ist Journalist und reist am liebsten in Osteuropa herum, wo Landschaft und Städte noch nicht die Verwechselbarkeit ihrer westlichen Pendants erreicht haben. Ab und zu schreibt er auch mal ein Buch, zuletzt: Die Elchyklopädie. Ein Streifzug durch die Zivilisation in 13 Kapiteln (www.elchyklopaedie.de).

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