Flucht aus Kathmandu in die Berge

Wir haben ver­schla­fen. Jetzt ist es 15 Uhr, Susan­ne und ich sit­zen im Restau­rant unse­res Hotels und essen so eine Art spä­tes Früh­stücks­mit­tag­essen. Reis, Gemü­se, ein­ge­rühr­tes Ei, dazu eine leicht schar­fe Sau­ce. Das Essen ist gut, dass es nicht so recht schme­cken will, liegt dar­an, dass der Orga­nis­mus eher Obst­sa­lat und Crois­sant erwar­tet.

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Tru­bel in Tha­mel: Mode und Moder­ne, Tra­di­ti­on und Trek­king in Kath­man­dus Wusel-Stadt­teil

Es war früh mor­gens als wir in Kath­man­du gelan­det sind. Drei Stun­den danach erreich­ten wir das Hotel, ver­wirrt, geschockt, als hät­ten wir eine archai­sche Fol­te­rung mit anse­hen müs­sen. Nepals Metro­po­le ist eine Her­aus­for­de­rung und stellt alles in Fra­ge, was wir unter dem Kon­zept „Groß­stadt“ abge­spei­chert hat­ten. Die Hit­ze, der Staub, die schmut­zi­ge Luft, der Ver­kehr, die bil­li­gen Glit­zer­fas­sa­den, der Lärm, die Här­te, der Müll, die Armut, der all­ge­gen­wär­ti­ge Schutt, die Bau­rui­nen, die Well­blech­hüt­ten, der ver­dreck­te Fluss, die Enge, die Kühe in den Stra­ßen. Die Hotel­re­zep­ti­on – der ers­te Ort, den wir eini­ger­ma­ßen ver­stan­den.

Bis sich ein kahl­köp­fi­ger Kerl mit der Figur eines Braun­koh­le­bri­ketts wort­los unse­re bei­den Ruck­sä­cke packt, um sie ins Zim­mer zu wuch­ten. Wir hin­ter­her. Als der Mann ver­schwin­det, ohne unser Trink­geld anzu­neh­men, blei­ben wir wie benom­men zurück. 414 ist ein sau­be­rer Raum mit zwei neben­ein­an­der ste­hen­den Ein­zel­bet­ten und einem Bal­kon, den man nicht betre­ten kann, weil das Fens­ter ver­git­tert ist. Ich zie­he den Vor­hang ein wenig zur Sei­te, ein Affe mit nur einem Bein klet­tert an der Regen­rin­ne hoch. Oh, Mann.

Lie­ber Leser, kennst du das Gefühl, wenn du dir die Fra­ge stellst, ob dies wirk­lich der Ort ist, an dem du unbe­dingt sein woll­test? Das Gefühl, wenn du eigent­lich nur eins wis­sen möch­test, wann geht die nächs­te Maschi­ne nach Hau­se? Wenn du froh bist, dass du nicht allein reist, weil du dich jetzt an jeman­den schmie­gen kannst – und es ist völ­lig egal, ob das Leben dadurch bes­ser, leich­ter, siche­rer oder wer­weiß­was wird, für einen Moment ist es ein­fach nur gut. Kennst du das Gefühl? Ein­at­men. Aus­at­men.

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Auf den Dächern der Stadt: Was­ser­tanks, Solar­kol­lek­to­ren und ein Bar­ce­lo­na-Fan

Wir woll­ten „nur kurz“ aus­ru­hen. Das ist das fal­sches­te, was man gegen einen Jet­lag tun kann. Und so füh­len wir uns wie gerä­dert, als wir am frü­hen Nach­mit­tag wach wer­den. Anfangs fehlt uns kurz die Ori­en­tie­rung. Doch dann ist alles klar: Kath­man­du. Die chao­tischs­te Stadt der Welt. Wir sehen durchs Fens­ter. Der Affe ist weg. Auf dem Dach gegen­über steht zwi­schen Son­nen­kol­lek­to­ren und Was­ser­tanks ein Mann in einem rot-blau gestreif­ten FC-Bar­ce­lo­na-Jer­sey – Rücken­auf­druck: Mes­si – und raucht. Er sieht zu uns rüber. Und schnippt die Kip­pe in die Tie­fe.

Nach dem Essen ein ers­ter Spa­zier­gang. Unser Hotel liegt in Tha­mel. Der Stadt­teil ist eine Mischung aus Bang­koks-Chi­na­town und dem Suk von Kai­ro. Geschäf­tig, eng, laut. Schma­le Stra­ßen, gesäumt von Müll und geprägt von gro­ßen Schlag­lö­chern. Bun­te drei- bis fünf­ge­schos­si­ge Häu­ser mit schma­len Fens­tern und schad­haf­ten Fas­sa­den, an Stra­ßen­la­ter­nen und Strom­lei­tungs­mas­ten hän­gen dicke Knäu­el schwar­zer Kabel. In den Läden wer­den Tücher und Tep­pi­che ver­kauft, Holz­fi­gu­ren und Gold­schmuck. Und vor allem Out­door-Klei­dung.

Kath­man­du ist Aus­gangs­punkt für vie­le Expe­di­tio­nen und Trek­king-Rei­sen in den Hima­la­ya. Die meis­ten Pro­duk­te, die man hier kau­fen kann, so heißt es, sind Fäl­schun­gen. In einem Shop sehe ich die glei­che Dau­nen-Wes­te von Mam­mut hän­gen, wie ich sie habe. Sie soll nicht ein­mal ein Drit­tel des deut­schen Laden­prei­ses kos­ten. Exper­ten sagen, selbst das ist noch zu viel für den Schrott. Aller­dings kön­nen auch nur Exper­ten den Unter­schied zwi­schen Ori­gi­nal und Fäl­schung erken­nen. Mir gelingt es nicht.

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Wenn es Abend wird in Kath­man­du: Die Shops beleuch­ten Waren, das Hotel den Vish­nu-Schrein

Durch Tha­mel zu spa­zie­ren, ist nicht leicht. Immer wie­der hupen einen Autos von den schma­len Stra­ßen, die kaum breit genug sind für zwei ein­an­der begeg­nen­de Fahr­zeu­ge. Aus den Läden locken die Ver­käu­fer. „Cheap! Cheap! Bil­lig! Bil­lig!“ rufen sie und beglei­ten uns ein paar Schrit­te, dabei stän­dig redend und ihre Pro­duk­te anprei­send. Ande­re fra­gen „Wo kommst du her, mein Freund?“ Wer kauf­in­ter­es­siert ist, muss sich an ein­fa­che Regeln hal­ten: Es gibt kei­ne fes­ten Prei­se. Man fragt, ver­han­delt und hat am Ende immer das Gefühl, zu viel bezahlt zu haben. Dabei sind die Prei­se für die Pro­duk­te hier so nied­rig, dass man sich für jede run­ter­ge­han­del­te Rupie schä­men könn­te.

Wir ver­las­sen Tha­mel und kom­men durch Stadt­tei­le wie Tha­hi­ty und Basan­ta­pur. Mit­ten auf einer Kreu­zung bie­ten Frau­en Obst und Gemü­se an, sie hocken im Staub der Stra­ße, eine Pla­ne vor sich aus­ge­brei­tet, und hal­ten ihre Äpfel feil. In offe­nen Fahr­rad­werk­stät­ten wer­den Rei­fen repa­riert und indi­sche Moun­tain­bikes ange­bo­ten. Das Rad soll für einen Tag 1500 Rupi­en (ca. 13 Euro) kos­ten, was krass zu viel ist für die Schrott­kis­te. Und wäh­rend man am Laden vor­bei geht, wird das Rad immer güns­ti­ger, auf weni­gen Metern fällt der Preis des Rades auf 300 Rupi­en, kaum drei Euro. Ich weiß gar nicht, ob ich mich trau­en wür­de, hier zu radeln, und leh­ne dan­kend ab. Es tut fast weh, die Ent­täu­schung in den Gesich­tern zu sehen.

Susan­ne lei­det an der Armut, die sie hier sieht. Es berührt sie, dass eine Mut­ter am Stra­ßen­rand die Haa­re ihrer Kin­der nach Läu­sen durch­sucht. Dass ein „Zahn­arzt“ in einer zur Stra­ße hin offe­nen Pra­xis im Mund eines älte­ren Man­nes han­tiert. Und dass ein ande­rer ganz allein einen rie­si­gen Kühl­schrank trans­por­tiert, der hängt mit einem Rie­men am Kopf des Man­nes. In Kath­man­du zu über­le­ben, kos­tet viel Kraft.

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Auf den Punkt gebracht: Ein Mönch ent­deckt uns – und malt uns ein Til­a­ka auf die Stirn

Auf dem Weg zum Dur­bar Squa­re drän­geln sich zwei in Oran­ge geklei­de­te Mön­che durch das Gewu­sel der Men­schen auf zu und drü­cken uns jeweils einen roten Punkt auf die Stirn. „A bles­sing“, sagt der Älte­re der bei­den und hält die Hand auf, damit sofort klar ist, dass das nicht umsonst war. Für den Fall, dass wir es doch nicht ver­stan­den haben soll­ten, fügt er hin­zu: „A dona­ti­on.“ Wir geben ihm 50 Rupi­en. Er sagt: „More.“ Wir ver­dop­peln. Er schüt­telt den Kopf. Wir geben auch sei­nem jün­ge­ren Gefolgs­mann einen Schein. Miss­bil­li­gend den Kopf hin und her wie­gend, zieht er mit sei­nem Schü­ler im Gefol­ge ab.

Wir errei­chen den Dur­bar Squa­re, den hei­li­gen Platz der Stadt. Schwer bewaff­ne­te Poli­zis­ten ste­hen vor dem Tale­ju-Tem­pel, dem höchs­ten von rund 50 Tem­peln und Pago­den. Grund für den Poli­zei­ein­satz: eine Demons­tra­ti­on der Kom­mu­nis­ten. Wir wol­len eini­ge der Sta­tu­en und Schnit­ze­rei­en anse­hen. Doch immer mehr Demons­tran­ten und immer mehr Poli­zis­ten zie­hen auf. Und wir ab.

Vor­bei am rosa­far­be­nen Königs­pa­last, der heu­te ein Muse­um ist. Vor­bei am wuse­li­gen Bus­bahn­hof, an dem die Fah­rer aben­teu­er­li­cher Gefähr­te, auf deren Karos­sen teils grö­ßen­wahn­sin­ni­ge Slo­gans zu lesen sind, etwa „King of the Road“. Man­che ver­ra­ten aber auch die Über­le­bens­stra­te­gie ihres Fah­rers: „Slow dri­ve – long life“. Vor­bei am Park, in dem die Händ­ler ihre Stof­fe und Klei­der, T‑Shirts und Schu­he anprei­sen, und in dem die Köche von ihren Gar­kü­chen Momos ver­kau­fen, gefüll­te Teig­ta­schen, und fri­tier­te Teig­krin­gel. Es ist eine wun­der­sa­me Welt, die einen über­wäl­tigt mit melo­diö­sen Stim­men und süß­li­chen Düf­ten, mit schar­fen Gewür­zen und fri­schen Pro­duk­ten. Am frü­hen Abend erst fin­den wir zurück in den Gar­ten unse­res Hotels. Und sind völ­lig erschöpft.

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Macht und Kraft: Der Dur­bar Squa­re war einst das spi­ri­tu­el­le und poli­ti­sche Zen­trum der Stadt, Trä­gern – wie dem Mann mit Kühl­schrank am Kopf – begeg­net man in Kath­man­du stän­dig

Mann, ist das eine schwie­ri­ge Stadt. Nichts fühlt sich hier ver­traut an. Alles muss man die­sem Mini-Moloch abrin­gen, beson­ders das Fla­nie­ren. Sobald man auch nur ein paar Sekun­den am Stra­ßen­rand ste­hen bleibt, um zu foto­gra­fie­ren oder sich zu ori­en­tie­ren, kom­men von allen Sei­ten Händ­ler, selbst­er­nann­te Frem­den­füh­rer, Bett­ler. Um nicht stän­dig von Rik­scha- und Taxi­fah­rer ange­spro­chen zu wer­den, haben wir uns ange­wöhnt, ent­ge­gen dem Ver­kehr zu gehen – das hat auch den Vor­teil, dass man in letz­ter Sekun­de aus dem Weg sprin­gen kann, soll­te einer der stän­dig hupen­den Auto­fah­rer doch drauf hal­ten.

Es gibt kei­ne Stra­ßen­ca­fés in Kath­man­du. Wer einen Moment der Ruhe sucht, flüch­tet sich auf ein Dach, in eines der Roof­top-Restau­rants, oder hin­ter hohe Mau­ern oder Zäu­ne, in einen Beer­gar­den. Man trinkt sich ein wenig Mut an für die letz­te Etap­pe des Rück­wegs zum Hotel. Und möch­te dann doch stän­dig wei­ter lau­fen, noch mehr sehen. Wir sind gespannt, wie sich die Stadt für uns anfüh­len wird, wenn wir in drei Wochen zurück kom­men.

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Raus aus dem Moloch: Über eine üble Schot­ter­pis­te, vor­bei an Män­nern mit Zie­gen, geht es zur Sum­mit Vil­la­ge Lodge in die Ber­ge. Selbst beim Wäsche­auf­hän­gen ist der Blick gran­di­os

Wir ver­las­sen Tha­mel und machen uns auf zur in den Ber­gen über der Stadt gele­ge­nen Sum­mit Vil­la­ge Lodge. Da, auf 1800 Metern Höhe, tref­fen wir unse­ren Gui­de für das Trek­king im Hima­la­ya. Den Wech­sel aus den Gas­sen in den Him­mel über Kath­man­du hiel­ten wir anfangs für einen bana­len Hotel­wech­sel. Dass der Aben­teu­er-Cha­rak­ter haben wird, deu­tet sich an, als wir den betag­ten Mer­ce­des-Gelän­de­wa­gen sehen, auf des­sen Dach­trä­ger nun unse­re Ruck­sä­cke lie­gen. Fast eine Stun­de lang win­det sich der Wagen durch lich­ten Tro­pen­wald über eine stei­le, rote Lehm­pis­te, deren Buckel und Schlag­lö­cher uns manch­mal den Atem neh­men.

Doch als wir aus­stei­gen und auf die klei­ne Wie­se tre­ten, um die sich die Gäs­te-Bun­ga­lows der Lodge grup­pie­ren, sind wir sicher, für die­sen Blick hat sich jeder Schlag gelohnt: unter uns das Kath­man­du-Tal mit den Städ­ten Bhak­ta­pur, Patan und Kath­man­du. In der Däm­me­rung gehen die ers­ten Lich­ter an, ein Flug­zeug lan­det. Dahin­ter zeich­nen sich, von der unter­ge­hen­den Son­ne zart ange­leuch­tet, eini­ge Berg­spit­zen des Hima­ly­as ab, impo­san­te Eis­rie­sen wie der 8091 Meter hohe Ana­pur­na, der gewal­ti­ge Manas­lu (8156 Meter), die Lang Tang-Ket­te (höchs­ter Punkt 7246 Meter) und der Sisal Pang­ma (8013 Meter).

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Akkli­ma­tis­a­ti­ons­tour: Aus rund 1800 Meter Höhe fällt der Blick auf die Gip­fel in den Wol­ken

Am nächs­ten Mor­gen machen wir mit Som – sprich: Schumm –, unse­rem Gui­de, eine klei­ne Wan­de­rung. Wir ler­nen ein­an­der ken­nen, gewöh­nen uns an sein Tem­po. Und wir erklä­ren ihm, was wir suchen im Hima­la­ya, dass uns nicht die Höhen­me­ter­jagd treibt son­dern eher das Bedürf­nis, die­sen Ber­gen nahe zu sein. Wir kom­men ganz gut mit­ein­an­der klar. Und den­noch sind Susan­ne und ich eini­ger­ma­ßen gedämpft, als wir am Abend unse­re Taschen umpa­cken.

Einen unse­rer Ruck­sä­cke kön­nen wir in Kath­man­du las­sen, mehr als 15 Kilo­gramm Gepäck pro Per­son sind für den Flug nach Luk­la nicht erlaubt (unser gesam­tes Gepäck wiegt 37 Kilo­gramm). Wir stel­len den Wecker auf 5.30 Uhr und krie­chen unter die Decken. Wir wer­den nicht beson­ders gut schla­fen. Denn Luk­la, der Aus­gangs­punkt für fast alle Rei­sen in die Ever­est-Regi­on, gilt als einer der gefähr­lichs­ten Flug­hä­fen der Welt. Immer wie­der kommt es zu schlim­men Unfäl­len. Beim letz­ten, im Okto­ber 2012, star­ben 19 Men­schen. Unse­re Maschi­ne geht mor­gen früh um acht Uhr.

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Früh­ne­bel über dem Kath­man­du-Tal: Rot leuch­ten die Wol­ken vor den Gip­feln des Hima­la­ya

Wir dan­ken dem DAV-Sum­mit Club für die Unter­stüt­zung bei der Trek­king-Tour.

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Antwort

  1. […] Flucht aus Kath­man­du in die Ber­ge von rei­se­de­pe­schen […]

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