Eine Rheinländerin wandert zur Rheinquelle

»Die gan­ze Geschich­te von Euro­pa liegt in die­sem Fluss«, schrieb Vic­tor Hugo über den Rhein. Den hüb­schen Satz ver­fass­te er 1838, wahr­schein­lich an sei­nem Schreib­tisch. Sit­zend. Viel­leicht im Mor­gen­man­tel. Tee schlür­fend. Mit Blick auf Paris.
Anders kann ich mir das nicht vor­stel­len. So einen Satz schreibt nie­mand, der nach Luft japst oder des­sen Füße bren­nen. Weil er zur Quel­le eben die­ses Flus­ses wan­dert. Durch die Alpen. 2.300 Meter über dem Mee­res­spie­gel.
Gut, mag sein, dass ich über­trei­be, aber auf einer Berg­wan­de­rung hat man genug ande­res zu tun. Mir jeden­falls schießt da kei­ne gro­ße Lite­ra­tur in den Kopf. Lei­der. Viel­mehr ist da nichts. Gar nichts. Nur der nächs­te Schritt zählt. Und der Atem. Und die Atem­wölk­chen in der Käl­te.
Hier in Grau­bün­den heißt es, sei die Wan­de­rung zur Rhein­quel­le so leicht, dass man auch mit wenig Kon­di­ti­on ent­spannt das Ziel errei­chen kön­ne. Ich glau­be, die Schwei­zer und ich haben unter­schied­li­che Vor­stel­lun­gen von dem Wört­chen »ent­spannt«. Ich schnau­fe und habe schwe­re Bei­ne. Viel­leicht liegt es aber auch an mei­ner Melan­cho­lie, dass die ent­spann­te Leich­tig­keit nicht über mich kommt. Ich bin ja Rhein­län­de­rin. Wasch­ech­te. Gebo­ren in Mön­chen­glad­bach, der Per­le am Nie­der­rhein, der gol­de­ne Licht­blick im urba­nen Nichts. Und der Nie­der­rhei­ner ist von Natur aus nie­der­ge­drückt. So sag­te es ein­mal Kaba­ret­tist Hanns Die­ter Hüsch. Das käme von der fla­chen Land­schaft. Von der Aus­sichts­lo­sig­keit.
Da hat die Schweiz zum Glück mehr zu bie­ten. Die Aus­sicht ist alle Mühe wert. Sogar die schwe­ren Bei­ne. Denn das Auge wird ent­schä­digt. Unten im Tal fär­ben sich die Blät­ter rot und hier oben tra­gen die Ber­ge Schnee­hü­te. All das reicht schon für eine ganz­tä­gi­ge Ergrif­fen­heit. Als Rhein­län­de­rin ist man schnell zu beein­dru­cken. Aber ich habe immer­hin noch eine wich­ti­ge Mis­si­on zu erfül­len: Ich will sie end­lich sehen, die Quel­le, den Ursprung des Flus­ses, der durch mei­ne Hei­mat rauscht.

Nixen und Nibelungen

Als Wie­ge des Rheins gilt der Toma­see in Grau­bün­den. Von dort schlän­gelt sich der gro­ße Euro­pä­er durch die Schweiz, Öster­reich, Deutsch­land, die Nie­der­lan­de, streift die Gren­zen von Liech­ten­stein und Frank­reich und endet nach 1.233 Kilo­me­tern in der Nord­see. Von der Quel­le bis zur Mün­dung braucht ein Trop­fen Rhein­was­ser rund einen Monat. Seit Jahr­tau­sen­den beför­dert der Fluss Boden­schät­ze, Kunst, Con­tai­ner, Men­schen, Mär­chen und Ideen. An sei­nen Ufern erbau­ten die Anwoh­ner feu­da­le Städ­te, pracht­vol­le Kathe­dra­len und mit­tel­al­ter­li­che Bur­gen. Er wur­de umkämpft, erobert, begra­digt und ver­schmutzt. Hagen von Tron­je soll laut Nibe­lun­gen­lied eine gan­ze Ladung Gold in den Fluss gekippt haben. So manch unver­bes­ser­li­cher Roman­ti­ker sucht noch immer danach. Und die Was­ser­ni­xe Lore­ley saß auf ihrem Fel­sen, kämm­te sich das blon­de Haar und lock­te Schif­fer ins Ver­der­ben. Heu­te ver­führt sie Tou­ris­ten. Als stei­ner­ne Sta­tue in Rhein­land-Pfalz. In Zusam­men­ar­beit mit Mar­ke­ting­agen­tu­ren und im Schat­ten der Som­mer­ro­del­bahn, die 2013 auf dem Pla­teau des Fel­sens errich­tet wur­de. Es gab Pro­tes­te. Die UNESCO for­dert den Abbau des Lore­ley-Bob.
»Und brach­te viel zuschan­den«, dich­te­te einst Cle­mens Bren­ta­no über die net­te Nixe. Die Lore­ley bleibt sich treu und stif­tet wei­ter­hin Unfrie­den.

Trotz des Ärgers, trotz Rei­be­rei­en zwi­schen Ger­ma­ni­en und Gal­li­en, der Schweiz und Bur­gund, Deutsch­land und Frank­reich, Hol­land und Bel­gi­en, Lore­ley-Bob und UNESCO ist der Rhein ein Mär­chen­buch. Erzählt er doch Geschich­ten und Legen­den. Leb­ten an sei­nen Gren­zen doch Rit­ter und Prin­zes­sin­nen. Und wer bekommt bei dem Wort »Rhein­gold« kei­ne glän­zen­den Augen?
Nun gut, es gab mal in Düs­sel­dorf eine Dis­co am Haupt­bahn­hof, die hieß »Rhein­gold«. Aller­dings glänz­te dort nicht viel. Aber das wür­de jetzt zu weit füh­ren. Zurück also zum ech­ten Rhein­gold, wonach die unver­bes­ser­li­chen Roman­ti­ker immer noch suchen. Dabei sol­len schon die Kel­ten das Edel­me­tall gewa­schen haben, auch die Römer und Ger­ma­nen. Jahr­hun­der­te bevor das Nibe­lun­gen­lied gedich­tet wur­de.
1838, im Jahr als Vic­tor Hugo den hüb­schen Satz auf­schrieb, gab es am rech­ten Rhein­ufer angeb­lich 400 Gold­wä­scher. Heu­te wird damit kei­ner mehr reich. Es sei denn, man ent­wi­ckelt eine cle­ve­re Geschäfts­idee, und befrie­digt die mensch­li­che Sehn­sucht nach Aben­teu­er und Glit­zer.

Diagnose: Goldfieber

August Bränd­le stapft mit Gum­mi­stie­feln durch das Fluss­bett, in der Hand eine Pfan­ne, im Gesicht die Son­ne. Im Klos­ter­dorf Disen­tis Mus­tér im Gott­hard-Mas­siv nen­nen sie den Mitt­sech­zi­ger nur noch Gold-Gus­ti.
Vor 32 Jah­ren hat ihn das Gold­fie­ber gepackt. Seit­dem schürft er in Kana­da, Aus­tra­li­en, Neu­see­land und in sei­ner Hei­mat, der Schweiz. 1996 stieg er in eine Schlucht, grub ein Loch, tauch­te eine Man­nes­län­ge hin­ab und hol­te ein fast 50 Gramm schwe­res Nug­get mit einem Samm­ler­wert von 50.000 Fran­ken aus der Tie­fe. Wie ein klei­nes Gehirn sieht es aus. Ein sol­ches Gold­stück galt damals als Rekord­fund in der Alpen­re­pu­blik.
»Vor Glück habe ich so laut geju­belt, dass es in der gan­zen Klu­se hall­te!« erzählt der Gold­wä­scher und sei­ne Augen leuch­ten als hät­te er den Klum­pen erst ges­tern aus dem Was­ser gefischt. »Nur das Erleb­nis zählt, die Auf­re­gung. Hat man was gefun­den, ist der Reiz schnell weg und man will wie­der was Neu­es her­aus­zie­hen aus dem Boden«, sagt er und taucht die Pfan­ne in den Rhein. »Man wird süch­tig.«
Das Gold über­ließ er dem Dorf­mu­se­um. Heu­te gibt Gus­ti Kur­se. Und so stie­feln hier regel­mä­ßig Schwei­zer und Nicht-Schwei­zer durch den knie­ho­hen, noch jun­gen Vater Rhein und sie­ben und schür­fen und freu­en sich über ein paar Körn­chen, die nicht mehr wert sein mögen als eine Tas­se Kaf­fee. Doch dar­um geht es nicht. Es ist die Land­schaft, die Luft, das Spru­deln des Flus­ses.
»Die Ver­bin­dung mit der Natur bringt einen mäch­tig zurück«, sagt Gus­ti und sei­ne Lach­fal­ten kräu­seln sich. Wasch­ta­ge kön­nen eben doch manch­mal ganz schön sein.

Quellenglück

Es ist kalt gewor­den hier oben. Ich zie­he mir die Müt­ze tie­fer ins Gesicht und schnau­fe und jap­se. Schnee liegt auf den Stei­nen, der Wind pfeift. Die Rhein­quel­le ist bald erreicht. Ich stel­le mir das so ähn­lich vor wie der Gold­topf am Ende des Regen­bo­gens. Den man lan­ge sucht und für den man alle Stra­pa­zen auf sich nimmt. Sogar schwe­re Bei­ne.
Ein Gold­topf, ja, das wür­de pas­sen. Immer­hin geis­tert hier angeb­lich der ein oder ande­re Kobold her­um. Noch heu­te erscheint am Toma­see manch­mal das Pazo­la­männ­chen, so wird berich­tet. Wenn die Gäs­te in den Alm­hüt­ten zu wild fei­ern, klopft das Männ­chen ener­gisch an die Schei­be. Grau soll es sein, mit kan­ti­gem Gesicht und hell blin­ken­den Augen. Wie­der ande­re sahen es die Abhän­ge ent­lang ren­nen und zwi­schen den Fels­bro­cken ver­schwin­den. Ob die Fei­ern­den tat­säch­lich einen Kobold sich­te­ten oder zu tief ins Glas schau­ten, bleibt an die­ser Stel­le unkom­men­tiert.
Im Toma­see wohnt übri­gens auch eine Nixe, so wird berich­tet. Mari­usch­la schläft tags­über und mor­gens sam­melt sie Tau­trop­fen auf der Wie­se ein und füllt die Quel­le, damit sie immer genug Was­ser führt. Das ist nett. Da könn­te sich die Lore­ley mal eine Schei­be von abschnei­den.
Kobol­de hin, Nixen her, mär­chen­haft ist der Weg zur Quel­le alle­mal. Die Land­schaft ist schroff und schön und die Ber­ge bli­cken in uner­reich­ba­rer Erha­ben­heit auf den Wan­de­rer her­ab. Ich lie­be die Schweiz. So viel wun­der­vol­le Natur. Wer hier wohnt, muss sicher den gan­zen Tag selig lächeln. Bei all der Schön­heit.

Nach zwei Stun­den berg­wärts ist es geschafft: Hin­ter einer Anhö­he liegt der Toma­see, die Rhein­quel­le. Ruhig und klar. Umsäumt von zuge­schnei­ten Gip­feln. 2.345 Meter über dem Mee­res­pie­gel. Von dort aus plät­schert der Rhein als Bäch­lein ins Tal hin­un­ter. Ein Gedenk­stein ist auf­ge­stellt, den ich foto­gra­fie­re. Erschöpft bin ich, aber glück­lich. Ich habe mei­nen Soll als Rhein­län­de­rin erfüllt. Ich muss in mei­nem Leben kei­nen Baum mehr pflan­zen, kein Haus bau­en, kei­nen Sohn zeu­gen. Eine Wan­de­rung zur Rhein­quel­le soll rei­chen.
Ich set­ze mich auf ein Stück Fels und hole ein zer­matsch­tes But­ter­brot aus dem Ruck­sack. Schnee­flo­cken tän­zeln und immer noch sind da die Atem­wölk­chen in der Käl­te. Und irgend­wo tief im Toma­see macht sich ein Rhein­was­ser­tröpf­chen auf den lan­gen Weg durch die Schweiz, Öster­reich, Deutsch­land, die Nie­der­lan­de, streift die Gren­zen von Liech­ten­stein und Frank­reich und mün­det nach einem Monat und 1.233 Kilo­me­tern in die Nord­see.

Über­nach­tung
Klau­sur & Kul­tur­zen­trum Klos­ter Disen­tis
DZ mit Früh­stück 160 CHF, EZ mit Früh­stück 130 CHF
Auf Nach­fra­ge gibt es sogar WLAN. Aber nur bis 23 Uhr
www.klausur-und-kultur.ch

Gold­wa­schen mit Gold-Gus­ti
Der Ein­füh­rungs­kurs für 45 Minu­ten kos­tet 20 CHF
Der Inten­siv­kurs für 1 bis 2 Per­so­nen inkl. Aus­rüs­tung kos­tet 220 CHF, Kin­der je 40 CHF
Post­fach 5, CH-7180 Disen­tis
www.gold-gusti.ch

Wei­te­re Infos
www.disentis-sedrun.ch
www.graubuenden.ch
www.myswitzerland.com

Erschienen am



  1. […] Wer weiß, wo der Rhein ent­springt? Ha! Habe ich euch erwischt! Ganz ähn­lich erging es auch der Rhein­län­de­rin von den Rei­se­de­pe­schen, die ein­mal zur Rhein­quel­le wan­dern woll­te. Die liegt näm­lich in der […]

  2. Avatar von Dick van Cock
    Dick van Cock

    Ach, das ist schön. Ich wür­de jetzt auch ger­ne dort wan­dern. Viel lie­ber als in Düs­sel­dorf Rad­fah­ren. Eines stimmt jedoch nicht, vor dem Rhein­gold glänz­te hier frü­her auch etwas: Die Augen der Dea­ler.

  3. Avatar von Micha M
    Micha M

    Eine schö­ne Geschich­te eines tol­len Flus­ses.
    Dan­ke !

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert