Die Zeit vergessen

Da muss ich erst nach Finn­land rei­sen, um mein Zeit­ge­fühl mal völ­lig zu ver­lie­ren, in eine Hüt­te ohne Strom mit­ten im Wald. Es ist Juni, als mei­ne Freun­din Ali­na und ich zum ers­ten Mal nach „Suo­mi“ flie­gen.

Wir besu­chen Lau­ra, eine Freun­din aus Hel­sin­ki, und weil Mitt­som­mer ist, neh­men Lau­ra und ihr Mann Daa­vid uns übers Wochen­en­de mit auf ihr Mök­ki. Men­schen ohne Mök­ki sind in Finn­land so sel­ten zu fin­den wie güns­ti­ges Bier: Kaum jemand, der kein Feri­en­haus mit Sau­na an irgend­ei­nem See besitzt. Lau­ra und Daa­vid holen uns am Frei­tag­mor­gen am Hotel ab. Ihre Hüt­te, genau­er die von Daa­vids Eltern, liegt in der Nähe von Kuo­pio. Mit dem Ein­kauf, den wir auf der Stre­cke erle­di­gen wol­len, haben wir etwa sechs Stun­den Fahrt vor uns. Wenn wir gut durch­kom­men.

Grün, ja grün ist Finnland

Kom­men wir aber nicht. Wir ste­hen im Stau und müs­sen einen Umweg fah­ren. Seit Stun­den sehen wir nur noch grün. Auf 75 Pro­zent der Flä­che Finn­lands ste­hen Bäu­me, hat Daa­vid in der Schu­le gelernt, und das scheint immer noch zu stim­men. Schon beim Lan­de­an­flug auf Hel­sin­ki hat es so aus­ge­se­hen, als wür­den wir mit­ten im Wald lan­den. Immer öfter blitzt dazwi­schen das Blau eines Sees her­vor. Die Land­schaft stimmt uns ver­söhn­lich, denn je län­ger wir im Auto sit­zen, umso unru­hi­ger rut­schen Ali­na und ich auf der Rück­bank umher. „Hof­fent­lich lohnt sich das“, rau­nen wir uns auf deutsch zu, „so ein Ritt für andert­halb Tage in einem Holz­haus in der Pam­pa.“ Immer­hin haben wir an das Mücken­spray gedacht, vor den Mücken hat man uns gewarnt.

Nach neun Stun­den lau­fen wir zum ers­ten Mal den Hang von der Hüt­te zum Was­ser hin­ab. Über­all um uns her­um ragen Kie­fern in den Him­mel, unter unse­ren Füßen kna­cken Zwei­ge. Die Abend­son­ne malt hel­le Fle­cken auf den Boden, die Sträu­cher und Bäu­me. Und dann ste­hen wir an die­sem rie­si­gen See, es gibt kein ande­res Haus rund­her­um, kei­ne ande­ren Men­schen. Wir schau­en uns selig an.

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Lau­ras und Daa­vids Freun­de sind in einem ande­ren Auto ange­reist. Bis jetzt haben wir Sal­me, Johan­na, Onni und Jari nur flüch­tig beim Ein­kauf zwi­schen Fisch­the­ke und Back­stand die Hän­de geschüt­telt. Furcht­bar ange­neh­me Leu­te, wie sich her­aus­stellt. Daa­vid nagelt rie­si­ge Lachs­stü­cken an zwei Bret­ter und stellt sie am Lager­feu­er auf, Onni hackt selbst­ver­ges­sen Holz, wir ande­ren berei­ten Salat, Dill­kar­tof­feln und Quark vor. So gut habe ich lan­ge nicht geges­sen. Nach dem Essen ver­teilt Lau­ra Sekt­glä­ser, um zwölf sto­ßen wir an auf die kür­zes­te Nacht des Jah­res.

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Und dann kommt es mir abhan­den, mein Zeit­ge­fühl.

Wir sit­zen am Feu­er und trin­ken Dosen­bier. Ali­na und ich den­ken an unse­ren Ankunfts­abend in Hel­sin­ki, als wir gleich in der ers­ten Bar sie­ben Euro für ein klei­nes Bier bezahlt und hys­te­risch gelacht haben. Und an die Stim­mung um uns her­um: Es war Mitt­woch, null Uhr, die Stra­ßen waren voll und auf der Ter­ras­se der Bar tanz­ten Fin­nen zu spa­ni­scher Musik auf den Tischen. Kei­ne Spur von nor­di­scher Küh­le. „Wir haben ja nicht viel Zeit, den Som­mer zu genie­ßen“, sagt Lau­ra, „und dar­um machen wir das Bes­te aus den war­men, hel­len Tagen.“ Dar­an ändern die Geträn­ke­prei­se nichts.

Finnische Songs handelt oft von Kummer. Und Sex

Auch nicht dar­an, dass die Leu­te zu viel trin­ken. Nicht nur, wenn sie aus­ge­hen. Lau­ra erzählt von einer Freun­din, die nichts dabei fin­det, jeden Abend eine Fla­sche Wein zu lee­ren. Sal­me pro­phe­zeit, dass an die­sem Mitt­som­mer-Wochen­en­de wie­der zehn, fünf­zehn Leu­te ster­ben, weil sie betrun­ken baden gehen oder mit dem Auto gegen einen Baum fah­ren. Nicht immer pas­siert so etwas unge­wollt. Wie hat Lau­ra den Stau kom­men­tiert, bei dem wir in der Fer­ne einen quer ste­hen­den LKW erken­nen konn­ten? „Bestimmt ein Selbst­mord­ver­such. In einen Las­ter hin­ein­ra­sen, so machen es ganz vie­le.“

Johan­na sagt, man braucht nur das Radio anzu­ma­chen, dann hat man ihn wie­der, den Win­ter mit sei­ner Dun­kel­heit und Eises­käl­te von Okto­ber bis April. Fin­ni­sche Songs han­deln meist von Kum­mer, Ein­sam­keit, Ver­las­sen­wer­den, einem gebro­che­nen Her­zen. Oder von Sex. Die ande­ren geben uns ein paar Kost­pro­ben fin­ni­scher Lie­der, danach grö­len wir zusam­men „Bohe­mi­an Rhap­so­dy“ in die tag­hel­le Nacht. Es ist so hell und still, dass der Wald kei­ne Angst macht. Wir las­sen die Türen und Fens­ter zur Hüt­te offen. Kurz vorm Ein­schla­fen den­ke ich an mei­ne Woh­nung in Ham­burg, in der ich die Fens­ter nachts schlie­ßen muss wegen des Stra­ßen­lärms.

Mit Dosenbier in die Sauna 

Wer braucht schon Strom, den­ke ich, als Daa­vid uns am nächs­ten Mor­gen (oder ist es Nach­mit­tag?) Kaf­fee und Pfann­ku­chen ser­viert. Auf die kür­zes­te Nacht folgt der ent­spann­tes­te Tag des Jah­res. Nach dem Früh­stück gehen die Män­ner mit einer Säge in den Wald und kom­men mit zwölf schma­len Holz­stü­cken zurück, Daa­vid malt mit Koh­le Zah­len drauf. Mölk­ky heißt das Spiel, bei dem es dar­um geht, mög­lichst vie­le Pflö­cke, bes­ser noch den mit der höchs­ten Punkt­zahl, umzu­wer­fen. Ali­na und Lau­ra bas­teln Vas­tas – Bun­de aus fri­schen Bir­ken­zwei­gen, mit denen man sich in der Sau­na abschlägt, weil sie die Haut rei­ni­gen und gut duf­ten. Neben­bei erklä­ren uns die ket­te­rau­chen­den Fin­nen („wegen der Mücken“) die Eigen­hei­ten ihrer Spra­che: kei­ne Arti­kel, kei­ne Prä­po­si­tio­nen, dafür fünf­zehn Fäl­le. Wir ler­nen, auf fin­nisch bis zehn zu zäh­len, das macht schon allein des­halb Spaß, weil es mit „yksi, kak­si“ los­geht.

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Spä­ter set­zen wir uns mit unse­rem Bier in die Sau­na, die Frau­en nach den Män­nern. Gro­ßes Geläch­ter beim Raus­kom­men: Wir sind von oben bis unten schwarz. Es dau­ert eine Wei­le, bis sich der Ruß von der Haut löst. Irgend­wann gehen wir zum Haupt­haus zurück, irgend­wann gewin­ne ich im Mölk­ky, und dann sit­zen wir wie­der auf der Ter­ras­se und essen Fisch, viel­leicht ist es drei, viel­leicht auch sechs Uhr mor­gens, ich weiß es nicht, es küm­mert mich nicht.

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Man kann so viel Zeit haben in andert­halb Tagen, den­ke ich auf der Rück­fahrt, wäh­rend Ali­na ihre Mücken­sti­che zählt. Natür­lich hat sich die Fahrt gelohnt, und viel­leicht ist das der Trick: nicht immer auf die Uhr zu schau­en, nicht immer in Stun­den, Tagen, Mona­ten und Jah­ren zu den­ken. Ali­na kommt auf fünf­zehn.

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Antworten

  1. Avatar von Inarijoen Peter
    Inarijoen Peter

    »Men­schen ohne Mök­ki sind in Finn­land so sel­ten zu fin­den wie güns­ti­ges Bier«.
    Das ist schon etwas über­trie­ben. Nur ca. jeder elf­te besitzt ein Mök­ki.
    Bevöl­ke­rung: 5,513 Mil­lio­nen (2018) Mök­ki: 509 800 (2018)

  2. Avatar von Reena

    Dan­ke für den tol­len Bei­trag! Das stimmt wirk­lich, ich ver­lie­re auch jedes Zeit­ge­fühl, wenn ich in Finn­land bin. Ein biss­chen so, als wür­de die Zeit ein­fach still­ste­hen, oder gar nicht wich­tig sein. Sehr schön beschrie­ben, da kriegt man gleich »Heim­weh« nach Finn­land 🙂

    Herz­li­che Grü­ße
    Ree­na

    1. Avatar von Susanne Helmer

      Lie­be Ree­na,
      das freut mich, dann wirst Du wohl bald, spä­tes­tens nächs­ten Som­mer, wie­der da sein? 🙂

  3. […] fand. Fee hat einen sehr lie­bens­wer­ten Ent­schul­di­gungs­brief an das Wan­dern geschrie­ben. Susan­ne schreibt dar­über, wie sie in Finn­land ihr Zeit­ge­fühl völ­lig ver­lor. Jens erzählt von einer Kajak­fahrt in […]

  4. Avatar von Rosa

    So eine schö­ne Geschich­te! 🙂 Da seh­ne ich mich direkt nach Finn­land zurück! Und ich kann dir ver­spre­chen, im Win­ter ist es nicht nur dun­kel und kalt wird einem auch nicht, wenn man das rich­ti­ge anhat. Im Februar/​März zum Bei­spiel scheint oft die Son­ne und man ist in einem Win­ter­wun­der­land aus Eis! Dann noch ein paar Hus­kys und man hat eine gute Zeit!
    Lie­be Grü­ße
    Rosa

    1. Avatar von Susanne Helmer

      Vie­len Dank, lie­be Rosa! Gera­de neu­lich hat mir jemand von sei­nem Leben in Lapp­land erzählt. Das klang schon schön, trotz Käl­te.

  5. Avatar von Norah

    Wie kann es sein, dass ich als gröss­te Sau­na-Lieb­ha­be­rin noch nie in Finn­land war…?!

    Dank dei­nem Arti­kel steht das Land nun ganz oben auf mei­ner Rei­se­lis­te – am bes­ten zur Som­mer­son­nen­wen­de 🙂

    1. Avatar von Susanne Helmer

      Lie­be Norah,

      das freut mich, dan­ke! Nur zu, ich kann es wirk­lich nur emp­feh­len. Und dann ab ins Mök­ki. 🙂

  6. Avatar von Mel (worldwhisperer)

    Finn­land ist zu jeder Jah­res­zeit ein­fach nur wun­der wun­der schön 🙂 Immer eine Rei­se wert.

    LG Mel

    1. Avatar von Susanne Helmer

      Lie­be Mel,
      das glau­be ich Dir aufs Wort, owohl ich fürch­te, dass es mir im Win­ter zu dun­kel und kalt sein könn­te.

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