Der Älteste der drei zündet gerade einen Joint an, als der Gnadenloseste sich auf den Rücken des Geschöpfs mit den ängstlichen Augen schwingt. Er krallt sich seine Hörner und schleudert den Kopf wie ein verrückt gewordenes Lenkrad hin und her. Nachdem er seine Füße abermals mehrfach in die Seiten gerammt hat, versucht er sich aufzurichten, um für ein Foto zu posieren. Er steht etwas wackelig auf dem Rücken und streckt den Daumen für die Kamera hoch, als es urplötzlich mit letzter Kraft zur Flucht ansetzt.
Panisch hievt das Yak seine Vorderhufe über die Metallplanken des rostigen Pickups. Kurz darauf springen seine Hinterhufe auf, um die unmenschliche Last auf seinem Rücken von sich zu stoßen. Der erbarmungslose Reiter fällt hinab und rutscht mit seinen Sneakern auf dem Fladen aus, den es vor ein paar Minuten auf der Ladefläche hinterlassen hat. Schnell findet er Halt und springt sogleich wieder auf, um die Flucht zu verhindern. Doch die ist ohnehin aussichtslos: Die Hörner sind mit Seilen festgezurrt, sein Schicksal ist besiegelt. Der Älteste drückt seinen Joint auf dem Hinterteil aus.
Ich bin Zeuge davon, wie drei kirgisische Brüder ein Yak misshandeln, das sie gerade auf einem Pickup vom Tulpar-See am Fuße des 7.134 Meter hohen Pik Lenin hinunter in den Weiler Sary-Mogul transportieren. Am Morgen bin ich die 25 Kilometer zu Fuß gelaufen. Zu fortgeschrittener Stunde ist der Pickup eine der wenigen Möglichkeiten, meine schweren Beine nicht weiteren Kilometern auszusetzen. Ich kann nicht mehr. Und doch beginne ich mich zu fragen, ob ich nicht einfach abspringen sollte, um den Qualen vor meinen Augen selbst zu entfliehen.
In der Früh konnte ich die Spitze des Lenin ein paar Mal sehen, inzwischen ist er komplett von dunklen Wolken umschlungen. Ich war bereits ein paar Kilometer vorgelaufen, als ich hinter mir eine dreckige Staubwolke herannahen sah, die zwischen den ziegelroten, grünen und grauen Hängen aufstieg und sich alsbald als Pickup entpuppte. Meine Rettung. Die Gebirgswelt des Pamir im Süden Kirgisistans gehört zu den faszinierendsten, die ich je erleben durfte. Zugleich werde ich hier Zeuge meiner eigenen Ohnmacht, meiner eigenen Feigheit.
Nach außen hin lehne ich scheinbar entspannt in der hinteren rechten Ecke des Pickups, während das Yak vor mir Höllenqualen ausgesetzt ist. „Where you from?“, fragen sie mich. Ich bin froh über den Smalltalk und plaudere ein wenig, um mich von meinem Zwiespalt abzulenken. „Das ist hier Normalität“, sage ich mir immer wieder, „sei kein übermoralischer Deutscher.“ Indem ich meine Moral beiseite schiebe, versuche ich mich von der Situation zu lösen.
Beschämt schaue ich Mal ums Mal nach hinten, wo sich die versteckten Gipfel des Pamir Meter für Meter entfernen und die vorgelagerten „Hügel“, die teils noch immer über 4.000 Meter hoch sind, in der Staubwolke unseres Wagens verschwinden. Ich versuche alles, um mental gar nicht wirklich hier zu sein, um mich mit dem Leiden des Yaks nicht auseinandersetzen zu müssen. Zwischendurch fühle ich mich, als würde auf dem Pickup nur mein Körper mitfahren, nicht aber mein Kopf.
Ich denke zurück an gestern, als mich meine Gastgeber zum Abendessen einluden. Halb Sary-Mogul war da, um das muslimische Opferfest zu begehen. Es gehört zur Tradition, an diesem Tag ein Schaf zu schlachten und das gekochte Fleisch mit Freunden und Familie zu teilen. Besonders für meinen Gastgeber, der als einziger im Dorf nach Mekka pilgerte und deshalb hochangesehen ist. Seine Frau hielt mir einen Teller mit Schafsfett und Schafleber vor die Nase. Ich konnte nicht anders, als zuzugreifen. Aus reiner Höflichkeit. Für eine halbe Stunde nur behielt ich es im Magen.
Dem Yak auf dem Pickup wird das gleiche Schicksal zuteil wie dem Schaf gestern, wie wohl tausenden anderen Tieren im rauen Süden Kirgisistans. Gemeinsam mit ihrem Vater, der den Wagen lenkt, werden sie es schlachten, kochen, essen. „Das ist hier Normalität“, sage ich mir immer wieder, „das ist hier Tradition.“ Eigentlich ganz einfach. Und doch brennt sich sein Leiden so nachhaltig in meinen Kopf ein, dass es die Erinnerung an meine Reise durch Kirgisistan auf den Kopf stellen wird. Ich bin kein Vegetarier. Aber die Qualen, die die drei dem armen Geschöpf zumuten, lassen mich sprach- und tatenlos zurück.
Es ist die Frage nach dem Respekt gegenüber diesem Tier, das ohnehin bald nicht mehr sein wird, die mich umtreibt, die mich bald – wie auch immer – einschreiten lassen will. Hin- und hergerissen versuche ich in meinem Kopf Sätze zu bilden, die in einfachem Englisch ausdrücken, was ich von dieser Schlachtung vor der Schlachtung halte. Das Yak wird ohnehin gleich sterben, also lasst es in seinen letzten Stunden, in seinen letzten Minuten bitte einfach in Ruhe. Es lebt noch!
Doch ich scheitere und bleibe stumm. „Ich kann es nicht ändern,“ rede ich mir ein, im Wissen das Falsche zu tun, „sie würden mich ohnehin nicht verstehen.“ Ich befürchte, dass sie mich genauso auslachen würden wie das Yak, das sie bald schlachten werden, was sie in diesem Moment eigentlich schon machen. Wahrscheinlich würden sie es gleich noch mehr in die Prügel nehmen, um zu zeigen, was sie von dem deutschen Weichei mit seiner schwarz-weißen Adidas-Jacke halten.
Der jüngste der drei Brüder stand bislang vergleichsweise tatenlos neben mir. Er schaut zu seinen Brüdern auf, sie sind seine Vorbilder. Schritt für Schritt jedoch ließ auch er seine Hemmungen fallen. Es begann mit einem schelmischen Grinsen über die Tritte der anderen beiden, das irgendwann in schallendes Lachen ausbrach, das nur bei einem Zwölfjährigen so falsch und so ehrlich zugleich klingen kann. Um den anderen seinen Mut zu beweisen, greift auch er irgendwann das Yak am Schwanz, während sein Bruder noch immer auf ihm sitzt und es weiter malträtiert. Mit aller Kraft reißt er den Schwanz hin und her, von links nach rechts, von rechts nach links, immer wieder. Und ich, ich könnte mich zerreißen.
Plötzlich verliert das Tier seinen Stand. Seine Beine rutschen in der eigenen Scheiße aus. Bis es fürchterlich knackt. Es verbleibt von nun an in dieser Position, ist zu schwach, um sich wieder aufzurichten. Seine Hinterhufe scheinen gebrochen. Seine Augen sind feucht, als würde es weinen. Für einen kurzen Moment scheinen die drei geschockt. Es sind Sekunden, in denen die Gedankenlosigkeit ein Ende zu finden scheint. Doch dieser Pickup ist kein Ort für Schwächlinge: Der Jüngste macht das, was er von seinen Idolen gelernt hat.
Er tritt noch einmal nach.
Ins Gesicht.
Gegen seine Hufe.
In den Hintern.
Das Yak hat längst aufgegeben.
Und ich mich auch.
Mir blieb noch knapp eine Woche in Kirgisistan. Meine Reise aber war mit diesem Erlebnis beendet. Ich hatte das Gefühl, alles erlebt zu haben in diesem Land, das mir seine schönsten Seiten gezeigt hatte, in dem ich zum ersten Mal auf knapp 4.000 Meter wanderte, zum ersten Mal Stutenmilch probierte, zum ersten Mal alleine reiste und mich dabei doch nie alleine fühlte. In diesem Land, das mich an meine Grenzen brachte, über den Rand innerlicher Zerrissenheit hinaus.
Ich hatte genug vom Reisen. Und das ist das beste Zeichen dafür, dass ich wirklich gereist bin.




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