Wir fah­ren in einem klei­nen Motor­boot, einem soge­nann­ten Panga, durch die Fluss­mün­dung hin­aus ins Meer. Die Wel­len schnap­pen in allen Rich­tun­gen nach dem klei­nen Boot. Der Blick von Gar­rita, unse­rem Kapi­tän ist kon­zen­triert. Er und sein Gehilfe habe beim Anblick der wild schäu­men­den Pas­sage die Schwimm­weste ange­zo­gen. Sie haben die Fluss­mün­dung genü­gend oft pas­siert, um genau zu wis­sen wo die Fel­sen wenige Zen­ti­me­ter unter der Was­ser­ober­flä­che lau­ern, aber auch, um die Unbe­re­chen­bar­keit der Wel­len zu ken­nen. Immer wie­der kommt es hier am Rio Jaqué zu Unfäl­len. Für die knapp 3’000 Dorf­be­woh­ner ist der Fluss aber der ein­zige Zugang zum Meer und somit zum Rest der Welt; abge­se­hen von der Gras-Lan­de­bahn für Kleinst­flug­zeuge, die aber längst nicht für alle Bewoh­ner Jaqués eine erschwing­li­che Mög­lich­keit ist, das Dorf zu verlassen.

Vorne am Strand bre­chen die Wel­len viel zu hoch, als dass man ein Boot an Land brin­gen könnte und eine Stras­sen­ver­bin­dung gibt es keine. Jaqué ist die letzte grös­sere Ort­schaft an der Pazi­fik­küste Pana­mas. Bis nach Kolum­bien sind es nur noch 38 Kilo­me­ter. Und da wol­len wir heute hin. Genauer gesagt nach Ardita, die erste Sied­lung auf der ande­ren Seite der Grenze. Zwei, drei Stun­den mit dem Motor­boot entfernt.

Zum Glück ist das Wet­ter jetzt im März noch gut, als wir schliess­lich genü­gend Abstand zum Ufer haben, schwe­ben die Wel­len fast unbe­merkt unter uns vor­bei. Gar­rita und sein Mari­niero, der in heik­len Situa­tio­nen vorne am Bug das Boot lenkt, zie­hen ihre Schwimm­wes­ten aus und set­zen die Son­nen­bril­len auf. „Muy lindo,“ sagen sie und deu­ten auf die Küste. Ich nicke und bringe das Grin­sen wäh­rend der nächs­ten Stun­den nicht von mei­nem Gesicht. Es ist diese Art von Schön­heit, die bis ins Herz vor­dringt und mich gleich­zei­tig zum Lachen und Wei­nen bringt. Fels­wände und Hügel bewach­sen mit satt­grü­nem Dschun­gel zie­hen an uns vor­bei, Peli­kane segeln in wel­len­ar­ti­gen Linien über unsere Köpfe, flie­gende Fische sprin­gen neben uns aus dem Was­ser. Nicht das kleinste Zei­chen von Zivi­li­sa­tion. Ich kann unse­rem Kapi­tän nur zustim­men. Es ist wun­der­schön hier, im Darièn, der so ganz von der Welt abge­schnit­ten ist.

Die Grenz­re­gion zwi­schen Panama und Kolum­bien bestehend ein­zig aus dich­tem Dschun­gel, der sich weit und dicht über Berge und Täler zieht und es unmög­lich macht auf dem Land­weg von einem ins andere Land zu gelan­gen. Die Schön­heit die­ser ver­las­se­nen Gegend, die Ein­fach­heit des Lebens fas­zi­niert mich. Dylan, mei­nen Mann, der hier bereits vor vier Jah­ren man­gels Stras­sen mit einem selbst­ge­bau­ten Motor­rad­floß unter­wegs war, sowieso.

ardita_strand

Dro­gen­bosse, Mafia­an­ge­hö­rige, Gue­ril­la­kämp­fer. Der Darièn Gap ist Hei­mat vie­ler Gestal­ten, denen man nicht begeg­nen will. An die Poli­zei­kon­trol­len haben wir uns bereits vor ein paar Tagen gewohnt, als wir mit dem Auto bis ans Ende der Strasse gefah­ren sind. Dort wo die Strasse zu einem Sträs­s­chen und schliess­lich zu einem Fuss­pfad wird. In Yaviza hat­ten uns Sta­chel­draht­zaun und Poli­zis­ten emp­fan­gen und eine Hotel­be­sit­ze­rin, die uns warnte. „Every one is a ban­dito here.“ Lasst die Zim­mer­türe nie offen und schliesst euch gut ein, hatte sie gesagt und uns eine gute Nacht gewünscht.

Heute mor­gen nun hatte ich vor unse­rer Abfahrt aus Jaqué eine SMS an meine Schwes­ter geschickt, darin der Kon­takt unse­rer Gast­ge­be­rin im Dorf. „Falls du bis in drei Tagen nichts von uns hörst, weiss Mari­ella mehr. Wir fah­ren mit einem Boot nach Kolum­bien. Aber mach Dir keine Sorgen.“

Eine SMS, die natür­lich Sor­gen aus­löst. Trotz­dem hatte ich mich woh­ler dabei gefühlt, jeman­dem von zu Hause über unse­ren Auf­ent­halts­ort und die Pläne zu infor­mie­ren. Hier sind nicht viele Aus­län­der unter­wegs, zudem haben wir unsere gesamte Film­aus­rüs­tung dabei und sind somit nicht gerade unauffällig.

Man­gels Stras­sen bleibt der Darièn Gap bis heute für alle Über­land­rei­sen­den, die mit dem eige­nen Fahr­zeug unter­wegs sind eine Her­aus­for­de­rung. Pri­vate Segel­schiffe oder ein Cargo Flug sind die Lösung. Da es keine offi­zi­elle Fähre gibt und jeder Rei­sende selbst einen Kapi­tän samt Schiff suchen muss, wel­cher ihn und sein Fahr­zeug zu trans­por­tie­ren gewillt ist, kam mein Mann, der vor vier Jah­ren mit sei­nem Motor­rad auf einer Welt­reise unter­wegs war, in Panama ange­kom­men auf die Idee hier sei­nen Kind­heits­traum zu verwirklichen.

Auf­ge­wach­sen als mit­tel­lo­ser Junge am Strand von Sri Lanka hatte er immer davon geträumt ein­mal ein Bam­bus­floß zu bauen und von der Armut weg in eine Welt vol­ler Aben­teuer zu segeln. Als er nun mehr als 30 Jahre spä­ter vor dem Darièn Gap stand, kam ihm der alte Traum wie­der in den Sinn und so baute er sich aus aus 10 Ölfäs­ser ein Floß, wel­ches er mit Hilfe sei­nes Motor­ra­des antrieb. Nach vier Wochen Bau­zeit stach Dylan von Panama Stadt aus in See, ohne je vor­her mit einem Boot auf dem Meer gewe­sen zu sein und ohne zu wis­sen was ihn im Darièn alles erwar­ten würde. Es folg­ten sechs inten­sive Wochen auf dem Pazi­fik. „Die här­teste aber gleich­zei­tig schönste Zeit mei­nes Lebens!“ Eine Erfah­rung, die ihn auch wegen den Begeg­nun­gen mit den Men­schen hier ver­än­dert hat. „Diese Men­schen haben so wenig, leben mit der stän­di­gen Gefahr des wil­den Mee­res, der Gue­ril­la­kämp­fer und was weiss ich. Trotz­dem haben sie eine unglaub­li­che Lebens­freude und eine Offen­heit, von der wir uns ein Stück abschnei­den können.“

Nun will Dylan mir diese Gegend zei­gen, gleich­zei­tig haben wir eine neue Idee: Wir wol­len die Men­schen auf­su­chen, die ihm auf sei­ner Odys­see gehol­fen und unter­stütz haben und aus dem gesam­mel­ten Film­ma­te­rial einen Doku­men­tar­film realisieren.

„La fron­tera!“ schreit Gar­rita über den Moto­ren­lärm hin­weg und zeigt mit dem Arm auf eine kleine Mar­kie­rung am Fel­sen. Die Grenze ist unspek­ta­ku­lär, Poli­zis­ten oder Sol­da­ten hat es hier keine. Andere Boote auch nicht. Nur wir, der Dschun­gel, das Meer und die Mar­kie­rung am Fels. Es fühlt sich unreal an, aber wir sind in Kolumbien!

Wie viele Dro­gen hier in umge­kehrte Rich­tung jähr­lich die Grenze pas­sie­ren, weiss nie­mand so genau. Mari­ella, die uns in Jaqué beher­berg hatte, weiss aber aus eige­ner Erfah­rung, dass der Dro­gen­schmug­gel exis­tiert. Neu­lich hatte sie am Strand ein Plas­tik­fass gefun­den. Vol­ler Freude hatte sie es nach Hause geschleppt. Sie wollte es als gros­sen Pflan­zen­kü­bel benut­zen – so weitab von der nächs­ten Stadt, hat alles sei­nen Nutzen.

In ihrem Gar­ten ange­kom­men, hatte sie es geöff­net und vor lau­ter Schreck gleich wie­der geschlos­sen. Schön säu­ber­lich umwi­ckelte Päck­chen vol­ler weis­ses Pul­ver seien darin gele­gen. Sie war so schnell sie konnte zur Poli­zei­sta­tion gerannt. „Mein Gott! Mit dem Zeugs will ich nichts zu tun haben. Die haben viel­leicht Peil­sen­der dran. Ich lebe hier alleine in einem Haus am Strand. Nein, keine Sekunde habe ich dar­über nach­ge­dacht wie viel Wert das Kokain haben könnte. Ich wollte es so schnell wie mög­lich los­wer­den.“ Wäh­rend sie erzählt hatte, war die Ner­vo­si­tät von damals zurückgekommen.

 

Hin­ter der nächs­ten Bucht liegt Ardita, wer­den wir infor­miert und spä­hen mit zusam­men geknif­fe­nen Augen an Land. „Wie ist es zurück zu sein?“, frage ich mei­nen Mann und es dau­ert lange bis ich eine Ant­wort bekom­men. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals wie­der hier bin. Es ist… ich bin gespannt wer alles noch in dem Dorf ist. Siehst du, es hat nur diese weni­gen Häu­ser. 15 Fami­lien, mehr nicht.“

Ardita hat für Dylan eine spe­zi­elle Bedeu­tung. Es ist der Ort wo er nach einem Sturm mit sei­nem Motor­rad­floß stran­dete und wo er sein Aben­teuer vor­zei­tig abbre­chen musste, weil das Motor­rad zu gros­sen Scha­den erlit­ten hatte. Die Dorf­be­woh­ner und eine Gruppe vor Ort sta­tio­nierte Sol­da­ten hat­ten ihn, den Frem­den, den ver­rück­ten Motor­rad­ka­pi­tän, in der schwie­ri­gen Situa­tion mit offe­nen Armen empfangen.

Vor­erst fah­ren wir an Ardita vor­bei, denn wir sind zwar in Kolum­bien, aber der Ein­rei­se­stem­pel im Pass, der fehlt noch. Erst acht Kilo­me­ter wei­ter, in Jùrado, erwar­ten uns die kolum­bia­ni­schen Zoll­be­hör­den. Auch hier müs­sen wir aber zuerst eine schäu­mende Fluss­mün­dung pas­sie­ren, um über­haupt zur Ort­schaft zu gelan­gen, wel­che wir von der Küste aus kaum erken­nen können.

Mit­ten auf den Fel­sen, die den Fluss in zwei Ein­mün­dun­gen auf­spal­tet, thront die hei­lige Maria und beob­ach­tet uns mit stren­gem Blick. Die Schwimm­wes­ten wer­den ohne Worte ange­zo­gen, dann kon­zen­triert sich unser sonst so fröh­li­cher Kapi­tän voll und ganz auf den wil­den Kuss zwi­schen Meer und Fluss. Es dau­ert eine Weile bis er Gas gibt und das kleine Boot ziel­si­cher durch die hohen Wel­len fährt. Ich klam­mere mich etwas fes­ter an die Sitz­bank und öffne die Augen erst wie­der als das Boot ruhi­ger wird.

Dann fah­ren wir ent­lang des idyl­lisch anmu­ten­den Flus­ses ruhig dahin, bis uns hin­ter einer Kurve eine Poli­zei­kon­trolle erwar­tet. Ros­tige Maschi­nen­ge­wehre über den Schul­tern, grim­mige Bli­cke und vom Salz­was­ser zer­fres­sene Kampf­stie­fel. Wort­los wer­den unsere Pässe ent­ge­gen­ge­nom­men und kon­trol­liert, dann dem Kapi­tän ein paar Fra­gen gestellt. Wir sol­len unsere Taschen öff­nen, deu­tet die­ser uns und wir tun wie geheis­sen. Schliess­lich folgt ein Nicken und ein „Adiòs!“, wir dür­fen weiter.

Gerade noch hat üppige Natur das Fluss­ufer gesäumt, nun steht Haus an Haus auf Stel­zen auf den Fluss hin­aus gebaut. Fischer­boote sind ange­bun­den, Schweine ren­nen herum. Eine Frau wirft gerade einen Korb vol­ler Abfall in den Fluss, wei­ter oben sprin­gen Kin­der vom Boots­rand aus kopf­voran ins schmut­zige Was­ser. Wir zie­hen unser Panga an Land, dann fol­gen wir Gar­rita über dünne Holz­plan­ken wan­kend hin­auf zum Sträs­s­chen. Eine augen­lose Puppe liegt neben Scher­ben im Dreck. Die Schön­heit, die Unver­sehrt­heit des Darièn Dschun­gels, die wir eben noch genos­sen haben, ist plötz­lich weit weg.

Der Zoll­be­amte ist ein Freund unse­res Kapi­täns und begrüsst uns herz­lich. Eine Weile dis­ku­tie­ren die bei­den hin und her und mit Hilfe einer Über­set­zer-App ver­ste­hen wir schliess­lich worum es geht: Eigent­lich dürfte er uns nicht den Ein­rei­se­stem­pel und gleich­zei­tig den Aus­rei­se­stem­pel in den Pass drü­cken. Aber weil wir so nett seien, mache er es jetzt ein­fach, sagt der Zöll­ner und ermög­licht uns somit über­mor­gen direkt aus Ardita wie­der zurück nach Panama zu fah­ren, ohne ein wei­te­res Mal hier in Jùrado vor­bei zu kom­men. „Aber es wird eine Weile dau­ern, ich muss war­ten bis das Inter­net funk­tio­niert, um das Pro­gramm zu star­ten.“ Als das Inter­net die Ver­bin­dung end­lich auf­ge­baut hat, macht er sich auf die Suche nach Papier, um ein For­mu­lar aus­zu­dru­cken. Wir sit­zen gedul­dig und kleb­rig vor Hitze auf den Plas­tik­stüh­len und warten.

Wie oft den hier Rei­sende vor­bei kämen, fra­gen wir den Beam­ten, als er wie­der im Büro auf­taucht. Viele, sagt er und fährt fort: „Bis zu acht in einer Woche viel­leicht.“ Wir nicken aner­ken­nend. End­lich wird der Stem­pel zuerst ins Stem­pel­kis­sen, dann in unsere Pässe gedrückt. Danach das Datum auf den mor­gi­gen Tag geän­dert und das Pro­ze­dere wie­der­holt. Kolum­bia­ni­sche Effizienz.

Wir sind froh, sind wir mit Gar­rita unter­wegs, er kenne Ardita und sei gerade erst letzte Woche hier gewe­sen, sagt er zu uns, also wir uns wie­der ins Boot set­zen und vom Fluss zurück ins Meer und in Rich­tung Nor­den steuern.

Wir sind gespannt, ob die Men­schen in Ardita sich noch an Dylan erin­nern wer­den. Umso näher wir der Bucht kom­men, umso grös­ser wird bei mir die Anspan­nung und bei Dylan die Vor­freude. „Dort an jener Palme hatte ich mein Floß ange­bun­den. Und dort drü­ben, ganz am Ende des Stran­des waren damals die Sol­da­ten sta­tio­niert. Jetzt schei­nen keine mehr da zu sein. Ein gutes Zei­chen für die Men­schen im Dorf.“ Und für uns, denke ich. Die Situa­tion hier scheint sich beru­higt zu haben. In mei­nem Kopf habe ich näm­lich immer noch die Erzäh­lung dar­über, wie Dylan mit­er­lebt hatte, warum die Sol­da­ten über­haupt da waren. Eine Gruppe Gue­ril­las hatte das Dorf damals wäh­rend sei­ner Anwe­sen­heit angegriffen.

Die far­bi­gen Fle­cken am Strand wer­den zu Häu­ser und umso mehr Details wir sehen, umso mehr erzählt mir Dylan. „Hier unter dem Dach stand mein Zelt, dort ganz links ist die kleine Schule. Das grosse Haus hier gehört dem Dorf­ober­haupt. Er hatte das grosse Boot mit dem wir mein Motor­rad dann in die nächste Stadt trans­por­tiert haben.“

Wir fin­den eine Lücke zwi­schen den bre­chen­den Wel­len und Gar­rita fährt das Boot an Land. Men­schen sehen wir vom Strand aus keine. Die fünf­zehn Häu­ser wir­ken ver­las­sen. Erst als wir den Strand hin­ter uns las­sen und zwi­schen den Cas­hew­bäu­men und den orange und pink blü­hen­den Bou­gain­vil­lea Büschen hin­durch­ge­hen, erken­nen wir einen alten Mann und seine Frau, die auf der Veranda ihres Haues sitzen.

Sie schauen uns fra­gend an, als Dylan ohne zu zögern die Treppe hoch­steigt und direkt zu ihnen hingeht.

„Weißt du wer ich bin?“ Der alte Mann schüt­telt zuerst den Kopf. Dann sagt Dylan was vom balsa, dem Floß und das Gesicht des Man­nes hellt sich auf. „Natür­lich! Der Mann mit dem Floß!“ Warum bist du zurück? Willst du mit dem Floß wei­ter­fah­ren?“ Sie lachen herz­lich und schüt­teln Dylan die Hand.

Nach und nach tau­chen mehr Leute auf und jeder erin­nert sich an den Mann, der damals mit einem Motor­rad und 10 Ölfäs­ser bei ihnen gestran­det war.

„Dach­tet ihr nicht er sei total ver­rückt mit einem Motor­rad­floß übers Meer zu fahren?“

Doch, doch, loco sei er schon. Sie hät­ten ihren Augen nicht getraut, als sie sahen, mit was für einem Vehi­kel er hier ange­kom­men war. Als er dann noch erzählte er sei in Panama Stadt los gese­gelt, staun­ten sie noch mehr. Und alle woll­ten frü­her oder spä­ter wis­sen warum er diese ver­rückte Reise denn über­haupt gemacht hatte. Und wie das aven­tura nach Ardita wei­ter­ge­gan­gen ist.

Aber, so frag ich mich, ist es nicht auch ver­rückt, in einem Dorf ohne jeg­li­che Stras­sen­ver­bin­dung mit­ten im Darièn Dschun­gel zu leben?

Die Wahr­neh­mung ist ein wun­der­li­ches Pflänz­chen, sie wächst auf dem Boden unse­rer indi­vi­du­el­len Rea­li­tät – auch hier im satt­grü­nen Urwald.

Spä­ter bie­tet uns der alte Mann eine kleine Hütte zum Über­nach­ten an. Wir haben erwar­tet am Strand zu schla­fen und neh­men das Ange­bot gerne an. Auch wenn die Matratze schmut­zig ist und die Rat­ten davon­ren­nen, als wir die Türe öff­nen; vor dem Regen, der in der Nacht der Küste ent­lang zieht, hält uns das Zim­mer­chen alle­mal trocken.

Als die Däm­me­rung lang­sam eine Bett­de­cke über den Pazi­fik und den Dschun­gel legt, kommt ein wei­te­res Boot an Land. Eine schwan­gere Frau und ihr Mann stei­gen aus und kom­men zwi­schen den Häu­ser hin­durch auf uns zu. Als der Mann Dylan sieht, macht er grosse Augen und ver­wirft die Hände. Er erkennt den Floß­mann sofort. Die bei­den umar­men sich.

Als mein Mann Julio vor vier Jah­ren zum ers­ten Mal traf, war er gerade erst mit Frau und Kin­dern in Ardita ange­kom­men. Sie waren zuvor 14 Tage durch den Dschun­gel mar­schiert, um der andau­ern­den Gewalt, die zwei Gangs in ihrer Hei­mat ver­brei­te­ten, zu ent­kom­men. Im Gepäck nichts aus­ser dem Mut neu anzufangen.

Die waren durch Sumpf und Dickicht vor­ge­drun­gen, hat­ten sich ein­zig von den Pflan­zen im Wald ernährt und in den Flüs­sen Was­ser gefun­den. Die Flucht aus der Hei­mat mit sechs klei­nen Kin­dern war, so anstren­gend und gefähr­lich es erscheint, immer noch die bes­sere Option gewe­sen, als sich tag­täg­lich von der rohen Gewalt zweier Ban­den drang­sa­lie­ren zu lassen.
Das erste was er nun zu mir sagt ist: „Er gab mir damals 20 Dol­lar!“ Und Dylan erklärt, dass er dem Mann nicht anders hatte unter­stüt­zen kön­nen als mit 20 Dol­lar —alles was er an Bar­geld noch übrig hatte, nach­dem er sechs Wochen auf dem Pazi­fik unter­wegs gewe­sen war. Jetzt will Julio unbe­dingt, dass wir am nächs­ten Mor­gen seine Finca besu­chen. Er willl uns zum Früh­stück ein­la­den und so zumin­dest etwas sei­ner Dank­bar­keit, die auch nach all den Jah­ren noch zu spü­ren ist, zurück­ge­ben. Wir neh­men das Ange­bot gerne an.

Am Abend, als wir müde aber schlaf­lose neben­ein­an­der im Bett lie­gen, sagt Dylan, dass keine Begeg­nung hier ihn glück­li­cher mache als die mit Julio. „Ich hatte so gehofft ihn wie­der zu sehen. Ich bin froh scheint es ihm gut zu gehen. Er hatte damals wirk­lich nichts.“

Um sie­ben Uhr in der Früh holt Julio uns ab. Es fol­gen 20 Minu­ten Fuss­marsch durch den Dschun­gel. Über mäch­tige Baum­wur­zeln, durch Sumpf und Fluss­bette gehen wir hin­ter ihm her. Irgend­wann kreu­zen wir sechs sei­ner mitt­ler­weile acht Kin­der auf dem Weg zur Schule. Jedem tät­schelt er lie­be­voll auf den Kopf und gibt ihm auf­mun­ternde Worte mit. Wir erhal­ten von den Kin­dern ein schüch­ter­nes Lächeln, bevor sie, mit den Schul­bü­chern unter dem Arm, bar­fuss im Wald verschwinden.

Dann plötz­lich, hin­ter einer Fluss­bie­gung ein gros­ses Holz­haus auf Pfäh­len, gedeckt mit einem ein­fa­chen Pal­men­blät­ter­dach. Die Hunde begrüs­sen uns bel­lend, wäh­rend die Hüh­ner und Kat­zen uns nicht beach­ten und die Schweine sich über­glück­lich grun­zend über den Mais her­ma­chen, der Julio ihnen vor­wirft. Als die Tiere ver­sorgt sind, stellt er uns sei­ner Frau vor, die gemein­sam mit den zwei jüngs­ten Kin­dern dabei ist Mais­kör­ner von den Kol­ben zu lösen. Vor sich den dicken Bauch – in einem Monat gibt es bereits wie­der Familienzuwachs.

Um das Haus herum führt Julio uns etwas spä­ter über sein Farm­land, wel­ches sich die Fami­lie in den letz­ten Jah­ren erar­bei­tet hat. Er zeigt auf Avo­ca­dos und Papa­yas und „dort hin­ten, siehst du sie die Ana­nas?“ Dann gehen wir an Koch­ba­na­nen- und Pfef­fer-Sträu­cher vor­bei einen schma­len Pfad ent­lang. Als wir auf einem klei­nen Hügel ankom­men, sehen wir erst wie gross die Flä­che tat­säch­lich ist. „Ihr habt diese alles selbst gemacht?“, fra­gen wir mehr als ein­mal und Julio ist sicht­lich stolz. Er hat dem Dschun­gel ein Stück Land gestoh­len und dar­aus eine kleine Farm gemacht, die es ihm ermög­licht seine Fami­lie zu ernäh­ren und den Kopf gerade so über Was­ser zu hal­ten. Sie haben Mais, Papaya, Ana­nas, Avo­ca­dos, Kar­tof­feln, Koch­ba­na­nen und vie­les mehr ange­baut. Er muss wie ein Wahn­sin­ni­ger gear­bei­tet haben in den letz­ten Jah­ren. Wir sind tief beein­druckt. Was seine Fami­lie nicht selbst isst, ver­kauft er an die Dorf­be­woh­ner und kauft mit dem Geld wie­derum in ihrem Laden ein was ihnen fehlt.

„Kei­ner hat mir gehol­fen. Wir haben alles alleine geschafft. Wir, nur wir!“ Die Zufrie­den­heit, die in sei­nen Wor­ten mit­schwingt, springt förm­lich auf uns über.

Zurück beim Haus erhal­ten wir einen schwar­zen Kaf­fee und eine frisch gepflückte Papaya gereicht. Es schmeckt nach Feuer und Sonne; das beste Früh­stück der gesam­ten Reise.

Und als wären wir nicht schon über die Wil­lens­kraft der bei­den gerührt, ver­schwin­det Julios Frau jetzt hin­ter einem Baum­woll­vor­hang und kommt dann mit einem fast bis zur Unkennt­lich­keit zer­knit­ter­ten Dol­lar­schein in der Hand zurück. Sie reicht ihn Julio und die­ser sagt zu Dylan: „Schau, die­sen einen Dol­lar von den 20, die du mir damals gege­ben hast, habe ich auf­be­wahrt, um dich in Erin­ne­rung zu behalten!“

„Wirk­lich?“ Dylan ist sprach­los als er den nahezu zer­brö­seln­den Schein zwi­schen zwei Fin­gern hält. Ich habe einen Kloss Glück im Hals. „Ich hatte nur noch so Klein­geld über­all und habe alles was noch da war zusam­men­ge­sucht, als er mir von ihrer Flucht erzählt hat.“, sagt Dylan zu mir und wir wischen uns beide die Trä­nen aus den Augen und sind über­glück­lich den beschwer­li­chen Weg nach Ardita auf uns genom­men zu haben. Ein­zig jetzt hier zu ste­hen und zu erfah­ren, dass Julio, der nie mit der Rück­kehr des Floß­man­nes gerech­net hat, die­sen einen, für ihn so wert­vol­len Dol­lar, in Erin­ne­rung an den Frem­den auf­be­wahrt hatte, war es wert gewe­sen das kleine Dorf zu besu­chen. Die­ser Augen­blick er ist unbezahlbar.

Als wir die Spra­che end­lich wie­der fin­den, fragt Dylan den Mann, der in einem ver­wa­sche­nen T‑Shirt und abge­wetz­ten Hosen vor uns steht: „Bist du glücklich?“

Julio ant­wor­tet ohne zu zögern „Si! Muy feliz!“ Sehr glück­lich! „Wir hat­ten nichts, damals als du zum ers­ten Mal hier warst. Jetzt haben wir alles was wir brau­chen.“ Seine Augen strah­len und er ver­liert kein Wort dar­über wie anstren­gend die letz­ten vier Jahre für ihn und seine Fami­lie gewe­sen sein müs­sen. Er zeigt uns, hier mit­ten im Dschun­gel, abge­schnit­ten vom Rest der Welt, was es bedeute, wenn wird das Glück im Her­zen anstatt auf dem Bank­konto tragen.

 

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Martina Zürcher und Dylan Wickrama

Martina Zürcher und Dylan Wickrama sind freischaffende Journalisten und Fotografen. Gemeinsam haben sie das Abenteuer-Reise-Buch „Am Ende der Strasse“ geschrieben und herausgegeben. Es erzählt die Geschichte von Dylans 3-jähriger Motorradweltreise. Heute arbeitet er unter anderem auch als Vortragsreferent und leitet Motorradreisen nach Sri Lanka und Bhutan.

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