Mädchen, die auf Ampeln starren

Diens­tag­mor­gen, 6:30 Uhr. Die Son­ne geht mil­chig oran­ge über dem New Brigh­ton Pier an Christ­churchs Pazi­fik­strand auf. Ich sit­ze an einer still­ge­leg­ten Bus­hal­te­stel­le im Osten der Stadt, esse Hafer­flo­cken und star­re auf eine Ampel. Die wech­selt gera­de von Rot zu Grün. Das mache ich jeden Tag. Das ist mein Job. Dafür wer­de ich bezahlt.

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Ich bin eine der vie­len Traf­fic Con­trol­ler an den unzäh­li­gen Bau­stel­len. Dank uns fah­ren alle Ver­kehrs­teil­neh­mer brav im Sla­lom durch einen Wald von Ver­kehrs­hüt­chen, hal­ten an Stra­ßen­sper­ren und wer­den weit­räu­mig umge­lei­tet. Klar, das geht auch alles ohne uns. Aber mit uns wird das täg­li­che Ver­kehrs­chaos ein biss­chen erträg­li­cher. Wir sind fast alle weib­lich, wir haben Charme, wir win­ken, wir lächeln, wir plau­dern, wir beschwich­ti­gen. Wir sind der nöti­ge Scho­ko­rie­gel für eine gestress­te Stadt.

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Seit vor fast vier Jah­ren das Beben die Stadt wie ein stau­bi­ges Bett­la­ken aus­ge­schüt­telt, und nichts als Trüm­mer zurück­ge­las­sen hat, ist es hier recht post­apo­ka­lyp­tisch: Star­bucks mit zuge­na­gel­ten Türen, Bret­ter­ver­schlä­ge vor Läden, die einst geschäf­ti­ge Cafés und Fri­seur­sa­lons waren. Sat­tes Unkraut wuchert aus Beton­rit­zen.

Für eine Tour durchs Zen­trum braucht man viel Fan­ta­sie. Hier war mal ein Irish Pub mit eige­ner Braue­rei, dort das nobels­te Hotel der Stadt, dane­ben eine Gale­rie loka­ler Künst­ler. Der einst so leb­haf­te Cathe­dral Squa­re ist wie leer gefegt. Die Tau­ben in den Rui­nen des sakra­len Wahr­zei­chens Christ­churchs schau­en mit trau­ri­gem Gur­ren dar­auf hin­un­ter, wäh­rend sie die Stahl­stüt­zen voll­ka­cken. Alles war ein­mal in Christ­church, dem „used to be town“.

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Nach einer lan­gen Pla­nungs­pha­se baut sich die Stadt wie­der auf, und alle hel­fen mit. Für jeden sicht­bar sind die vie­len Bau­ar­bei­ter in ihren Neon-Wes­ten. Weni­ger sicht­bar sind all die Frei­wil­li­gen, Land­schafts­gärt­ner und Gas­tro­no­men, die der Stadt ihr Flair zurück­ge­ben wol­len.

Wo ich bin, ist es laut, mat­schig und es riecht nach Dixi­klo. Ich arbei­te für eines von fünf gro­ßen Bau­un­ter­neh­men, die von Staat und Kom­mu­ne für den Wie­der­auf­bau von Christ­churchs Stra­ßen, Was­ser- und Strom­ver­sor­gung ver­pflich­tet wur­den. Mei­ne Auf­ga­ben sind über­schau­bar: Ich stel­le umge­fal­le­ne Ver­kehrs­hüt­chen wie­der auf, war­ne jeden auf der Bau­stel­le davor, nicht in ein Loch zu fal­len, und ich trin­ke viel Kaf­fee. Nach sechs Wochen ken­ne ich jedes Vier­tel, jedes Traf­fic-Con­trol­ler-Team, jeden Arbei­ter.

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Aus der Frosch­per­spek­ti­ve, mit­ten zwi­schen die­sen aber­tau­sen­den gott­ver­damm­ten Ver­kehrs­hüt­chen, wirkt Christ­church win­zig klein. Ein geschäf­ti­ger Mikro­kos­mos oran­ge­far­be­ner Amei­sen mit Helm und Stahl­kap­pen­schu­hen in ihren Trucks und Bag­gern. Kom­plex orga­ni­siert gra­ben sie Löcher, ver­le­gen Roh­re und schau­feln die Löcher wie­der zu. Eine Sisy­phos­ar­beit bis zum nächs­ten Erd­be­ben. Dane­ben ste­hen wir Ampel-Mäd­chen, lächeln und win­ken.

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Vom Gip­fel der Port Hills, ganz nah am Epi­zen­trum von einst, ver­blas­sen die­se Details. Von hier oben sieht man nichts von den Wun­den, die die Amei­sen-Armee müh­sam flickt. Von hier aus wirkt Christ­church wie eine ganz nor­ma­le Stadt  und nicht bloß wie eine Erin­ne­rung dar­an, die lang­sam ver­blasst.

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Antworten

  1. Avatar von Miguel

    Schon unfass­bar, was Erd­be­ben so alles bewir­ken. Auch bei nicht zu gro­ßer Stär­ke schon…
    Zum Glück gibt es in mei­ner neu­en Wahl­hei­mat auf der Insel, kei­ne Erd­be­be­ben­ge­fahr.

  2. Avatar von Marsela

    Oh, das klingt aber ganz schön trau­rig 🙁 Als wir 2011 da waren, war alles noch »frisch«, über­all Absper­run­gen und bloß nicht rein ins Zen­trum fah­ren. Ich habe gehofft, dass sich bis zu unse­rem nächs­ten Besuch wenigs­tens ein biss­chen was tut. Wir kom­men im Novem­ber nach NZ und las­sen uns dies­mal noch mehr Zeit für die­ses wun­der­schö­ne Land. Auf Christ­church bin ich gespannt. Viel­leicht ent­de­cken wir ja doch noch den Flair ver­gan­ge­ner Tage…

  3. Avatar von Simone

    Tol­ler Arti­kel!
    Die Bil­der spre­chen Wor­te und regen zum Nach­den­ken an.

  4. Avatar von Aylin

    Lie­be Pia,

    toll geschrie­ben und ein inter­es­san­ter Ein­blick in das Wir­ken der Ampel­mäd­chen 😉

  5. Avatar von WorldWhisperer

    Ich ken­ne die Stadt nur von »davor«, aber die Bil­der spre­chen schon Wor­te und du hast es auch wun­der­bar in Wor­te gefasst.…

  6. Avatar von Alice

    Hal­lo Pia!
    Ich flie­ge am 1. August nach Neu­see­land und wer­de die ers­te Nacht in Christ­church ver­brin­gen – zum ers­ten Mal nach dem Beben (ich war davor 2003 und 2007 dort). Obwohl ich nie eine emo­tio­na­le Bin­dung zu die­ser Stadt hat­te, den­ke ich doch dar­über nach, ob ich sehen möch­te, wie das Stadt­zen­trum jetzt aus­sieht (ohne Kirch­turm und so) oder lie­ber gleich wei­ter­fah­ren soll. Natür­lich ers­te­res.
    Ob ich die Stadt wohl noch wie­der­erken­ne? Zumal ich das ers­te Mal im Win­ter hier sein wer­de…
    Von Per­so­nen, die Ch’ch nach dem Beben besucht haben, höre ich immer wie­der, dass die Bewoh­ner schier uner­müd­li­che Ener­gien in den Wie­der­auf­bau der Stadt inves­tie­ren und aus der Not so gut es geht eine Tugend machen (re: START Mall). Wie es scheint, bist du ja eine die­ser Per­so­nen. Ich wün­sche dir und dei­nen Nach­barn und work mates auf jeden Fall ganz viel Kraft und bin erst mal gespannt, wie es jetzt aus­sieht, und – da es ganz sicher nicht mei­ne letz­te Rei­se nach Neu­see­land war – wie das zukünf­ti­ge Christ­church aus­se­hen wird.
    Ganz lie­be Grü­ße aus Wien,
    Ali­ce

    1. Avatar von Pia Röder

      Hi Ali­ce, ich woll­te eigent­lich nur vier Tage blei­ben, als ich im Mai hier in Christ­church ange­kom­men bin. Aber die Stadt hat so eine eigen­tüm­li­che und span­nen­de Dyna­mik … war mir gleich klar, dass ich hier ne Wei­le ver­brin­gen wer­de. Uner­müd­li­che Ener­gien trifft’s ziem­lich gut. Engels­ge­duld auch. Ist fast schon rüh­rend, wie alle hier die ver­sehr­te Stadt ver­arz­ten. Sicher umso span­nen­der nach all den Jah­ren wie­der­zu­kom­men und so eine kras­se Ver­än­de­rung zu sehen. Kenn den Sta­tus vor dem beben ja nur aus Erzäh­lun­gen. Hab viel Spaß hier in NZ und guten Flug! Viel­leicht lau­fen wir uns ja mal über den Weg 🙂

  7. Avatar von Vio
    Vio

    Wahn­sinns­fo­tos!!! 🙂

  8. Avatar von Matthias

    Klas­se Arti­kel. Ich war damals beim Erd­be­ben in Christ­church live dabei. War ziem­lich krass und ich bin sofort danach weg und seit­dem nicht mehr in der Stadt gewe­sen.
    Nach 4 Jah­ren ist wohl immer noch nicht die Nor­ma­li­tät in das Christ­church zurück­ge­kehrt, dass ich einst ken­nen­ge­lernt habe.

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