Chisinau in Worten

Ich weiß nichts über Mol­da­wi­en. Ich kann noch nicht ein­mal Bil­der zei­gen, da mei­ne Kame­ra am letz­ten Abend „abhan­den“ gekom­men ist. Aber ich will ver­su­chen, ein Bild von die­sem klei­nen Lands am öst­li­chen Rand Euro­pas mit Wor­ten zu zeich­nen.

Um in die Mol­da­wi­sche Haupt­stadt Chișinău zu gelan­gen, ruckelt man etwa zwölf Stun­den in einem sowje­ti­schen Schlaf­wa­gen durch die Regi­on Mol­dau. Schwe­re Türen, ver­ram­mel­te Fens­ter, Vor­hän­ge aus gekrepp­tem Poly­es­ter, gol­den bestickt mit kyril­li­schen Logos. Stier­na­cki­ge Schaff­ner mit aus­ge­beul­ten Trai­nings­ho­sen schlur­fen nachts durch den Gang. Die Hei­zung steht auf fünf.

Es sind nur etwa 450 Kilo­me­ter bis zum Ziel. War­um das den­noch über 8 Stun­den dau­ert? Nun, der Zug fährt etwa drei Stun­den lang rück­wärts. Selt­sam, auf einer Leder­prit­sche zu lie­gen und durchs Fens­ter zu beob­ach­ten, dass alles, was man die letz­ten 180 Minu­ten gese­hen hat, noch ein­mal an einem vor­über­zieht. Ich hab das nicht ver­stan­den und woll­te es auch nicht hin­ter­fra­gen. Die Schaff­ner sahen nicht so aus als woll­ten sie mit mir über Mol­da­wi­sche Fern­zug­fahr­plä­ne spre­chen. Resi­gna­ti­on ist ein sanf­tes Ruhe­kis­sen. Ich habe vor­züg­lich geschla­fen.

Chișinău riecht nach Kunst­le­der

Wäre Chișinău eine Frau, dann wäre sie eine, die regel­mä­ßig ins Son­nen­stu­dio geht, blon­dier­te Haa­re mit dunk­lem Ansatz hat und mal bei Schle­cker gear­bei­tet hat. Geil auf eine bil­li­ge Art, bies­tig, wenn man sie reizt, und sie riecht nach Kunst­le­der. Und doch: Chișinău ist rich­tig lus­tig und eine posi­ti­ve Über­ra­schung, wenn man der Stadt ohne Vor­stel­lun­gen und Ansprü­che begeg­net. Sowjet-Archi­tek­tur? Klar. Plat­ten­bau­sied­lun­gen am Stadt­rand? Sowie­so. Und ein hit­zi­ger Markt im Stadt­kern als die Wirt­schafts­pum­pe des klei­nen Lan­des vol­ler quietsch­bun­ter Pro­duk­te made in Chi­na, Tai­wan und Ban­gla­desch. Selbst­ver­ständ­lich.

Das ist die eine Sei­te. Es gibt aber eben auch klei­ne, fei­ne Bars, die eine Idee davon geben, was Chişinău sein könn­te, wenn es nicht das Armen­haus Euro­pas wäre. Eben nicht das Land, in dem Müt­ter ihre Kin­der in Hei­me geben müs­sen, um im Aus­land unwe­sent­lich mehr Geld zu ver­die­nen als zu Hau­se. Die Bar Spa­la­to­rie (zu deutsch: Wasch­sa­lon) in der Emi­nes­cu 72 eröff­net einen Blick auf das coo­le Mol­da­wi­en. Wir sind durch Zufall hin­ein­ge­stol­pert und sehen den Ber­li­ner Stan­dard: Wän­de aus Sicht­be­ton, ein Bret­ter­ver­schlag als Bar, Bier mit Schnapp­ver­schluss, Floh­markt-Ramsch als Sitz­ge­le­gen­hei­ten, Hips­ter. Und eine jid­di­sche Band aus New York, die mit Akkor­de­on, Kon­tra­bass und Trom­pe­te so viel Ghet­to-Melan­cho­lie ver­strömt, dass ich mich trotz jüdi­scher Wur­zeln ein biss­chen schä­me. Ein­fach aus Prin­zip. Aber die Stim­mung ist super!

Ich habe in Mol­da­wi­en lie­be, gast­freund­li­che Men­schen getrof­fen, das bes­te Rind­fleisch außer­halb Argen­ti­ni­ens geges­sen und wahr­schein­lich hät­te auch ein Ber­li­ner Kell­ner mei­ne Kame­ra ein­ge­steckt, wenn ich sie ein­fach auf sei­nem Tisch hät­te lie­gen las­sen. Chişinău ist eine Stadt wie der Rest der Welt: Ein biss­chen bil­lig, ein biss­chen gars­tig, aber man kann ihr nicht lan­ge böse sein. Dafür ist sie ein­fach zu unter­halt­sam.

Foto: Gut­torm Fla­ta­bø auf Flickr

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Antworten

  1. Avatar von Oscar

    »Wäre Chișinău eine Frau, dann wäre sie eine, die regel­mä­ßig ins Son­nen­stu­dio geht, blon­dier­te Haa­re mit dunk­lem Ansatz hat und mal bei Schle­cker gear­bei­tet hat. Geil auf eine bil­li­ge Art, bies­tig, wenn man sie reizt, und sie riecht nach Kunst­le­der.«

    Das ist mir ehr­lich gesagt ein biss­chen zu nega­tiv aus­ge­drückt an die­ser Stel­le. Was mir fehlt ist, dass die­se Frau auch ein sehr gro­ßes und gutes Herz hat. Zumin­dest mei­ner Mei­nung nach…

  2. Avatar von Marc Bellmann

    Ich bin im Som­mer mit einem Auto durch Chi­si­nau gefah­ren. Das ein­zi­ge was mir in Erin­ne­rung geblie­ben ist: Wir haben 2 Stun­den den Aus­gang der Stadt gesucht. Selbst ein Kom­pass konn­te die feh­len­de Beschil­de­rung nicht ersetz­ten. Wir kamen immer wie­der am sel­ben Kreis­ver­kehr vor­bei.
    Mol­da­wi­en war aber schön und die Men­schen waren sehr hilfs­be­reit!

  3. Avatar von der Muger

    Eine wun­der­schö­ne Beschrei­bung von Chișinău, fast genau­so haben wir das kürz­lich auch erlebt…
    lie­be Grüs­se vom Muger

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