Blaue Medina in den Bergen

Das Klim­pern des Schmieds hallt von den blau­en Mau­ern zurück, klirrt hin­ab von den Dach­firs­ten und dringt im Wech­sel der Regen­trop­fen durch mei­ne Ohren in mich, in mein Bewusst­sein. Ganz plötz­lich bin ich nun hier, bin Auge, Mund, Nase, Ohr. Marok­ko. Chef­chaouen, im Nor­den des Lan­des, im Riff­ge­bir­ge. Der Schmied holt aus und seufzt bei jedem Schlag.

Bei Rei­sen in frem­de Kul­tu­ren gibt es stets eine zwei­te Ankunft – die, wenn man wirk­lich ange­kom­men ist. Die See­le reist nicht schnell genug hin­ter­her – Flug­zeu­ge, Petit Taxis, Bus­se und selbst erschöpf­te ers­te Schlaf­pha­sen sind zu schnell für sie; sie hält nicht Schritt. Die ers­te Ankunft ließ die See­le noch erschöpft zurück. Sie gehört zu dem­je­ni­gen, der man hier – am Ankunfts­ort der Sehn­sucht – nicht mehr sein woll­te, der aber läs­tig an einem kleb­te, wie ein Haut­aus­schlag, den man nicht los­wird. In den ers­ten Hotels, bei den ers­ten Mahl­zei­ten mit Taji­nes und Krau­se­minz­tee, kleb­te die­ser Jemand an einem und ver­hin­der­te, dass man wirk­lich ankommt. Dann folgt jedoch unver­meid­bar der Augen­blick, in dem der Rei­sen­de eins wird mit dem Bild sei­ner Sehn­sucht, die ihn an die­sen Ort, in die­ses Land, geführt hat. Und wenn die­ser Augen­blick kommt, spürt man es zwei­fels­frei: Dies ist es.

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Dies ist es. Ich streu­ne durch den mor­gend­li­chen Regen in der Cal­le ibn Askar, in Chef­chaouen. Die Regen­trop­fen klop­fen auf mei­nen Schirm und trom­meln auf den Pflas­ter­stei­nen, um mich die vie­len Blau­tö­ne die­ser klei­nen Stadt in den Ber­gen. Die Ber­ge des Riff­ge­bir­ges zie­hen sich vom Nord­wes­ten des Lan­des, unweit des an der Stra­ße von Gibral­tar gele­ge­nen Ein­gangs­to­res Afri­kas (oder Aus­gangs­to­res, wenn man die aktu­el­len Nach­rich­ten bedenkt) – Tan­ger – bis nach Osten an die alge­ri­sche Gren­ze.

Ich befin­de mich in der Medi­na, der Alt­stadt. Die Medi­nas der Königs­städ­te in Marok­ko sind ein­far­big – rot in Mar­ra­kesch, weiß in Tan­ger, gelb­lich-weiß in Fez – doch in Chef­chaouen sind die Häu­ser blau. Man braucht nur aus der Tür sei­nes Riads, eines um einen nach oben offe­nen Innen­hof gebau­ten Gast­hau­ses, zu tre­ten; und allein der Anblick der Gas­sen und Stra­ßen lässt das Herz höher schla­gen.

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Schön­heit hat etwas Antrei­ben­des, etwas Moti­vie­ren­des… und sie kos­tet nichts. Das Klop­fen des Schmieds, der Geruch von gebra­te­nem Lamm, Fisch­ge­ruch von einem Stra­ßen­händ­ler in der Gas­se, das Stim­men­ge­wirr einer Grund­schul­klas­se um die Ecke, die im Chor Koran­ver­se des Leh­rers wie­der­holt. Selt­sam. Bei so viel Hass und Miss­ver­ständ­nis, die der­zeit das Ver­hält­nis des Wes­tens zum Islam bestim­men; die­ser Chor und die­se Wor­te klin­gen so fried­lich, so beru­hi­gend. Ich aber blei­be fremd, ver­ste­he nicht den Sinn hin­ter die­sen ein­lul­len­den Lau­ten und gehe wei­ter, berg­an durch die hell- und dun­kel­blau­en Wege. Heu­te habe ich mich allein auf den Weg gemacht, auch auf einer Rei­se zu zweit braucht man ab und an die Ein­sam­keit, die uns allen so lieb und teu­er ist.

Am Ran­de der Medi­na errei­che ich den Fluss, Oued Ras el Maa, der in den hohen Ber­gen ober­halb der Stadt aus dem Gestein ent­springt. Frau­en mit bun­ten Kopf­tü­chern machen an einem über­dach­ten, extra hier­für vor­ge­se­he­nen Becken die Wäsche. Sie schnat­tern fröh­lich und schrub­ben kräf­tig, in sol­chen Län­dern erfor­dert die Haus­ar­beit noch Elan. Wobei gesagt wer­den muss, dass Marok­ko mir – zumin­dest in den Städ­ten – in die­sen ers­ten Tagen unse­rer Rei­se ein Bild vor Augen führt, das sehr ange­passt, sehr west­lich, sehr modern ist.

Da hat man also den Salat. Man sitzt drei Stun­den im Flug­zeug, man erwar­tet Exo­tik und Frem­de, oder erwar­tet man, böses Wort, gar Folk­lo­re? Was die Fra­ge auf­wirft, wel­ches Recht sich der Rei­sen­de aus der ers­ten, der alten Welt, her­aus­nimmt, wenn er auf der einen Sei­te möch­te, dass es den Men­schen in der soge­nann­ten „Drit­ten Welt“ bes­ser gehen möge; auf der ande­ren Sei­te aber das tra­di­tio­nel­le, das ande­re Nord­afri­ka erwar­tet? Es gibt kein Recht auf die tota­le Frem­de, denn die­se tota­le Frem­de ist heu­te wohl nur an sol­chen Orten zu fin­den, die man nicht errei­chen kann. Oder sie sind, wenn auch erreich­bar, doch zu gefähr­lich, um sie ledig­lich aus Neu­gier auf­zu­su­chen. Die Fern­se­her, die Smart­phones, die Klei­dung, die Autos, selbst die Mode der meis­ten Frau­en – die mit­nich­ten alle ver­schlei­ert oder mit Kopf­tuch unter­wegs sind – all das ist so ange­passt und gleich wie bei uns in Euro­pa.

Erst das genaue Hin­se­hen und Hin­hö­ren lässt den Besu­cher gewahr wer­den, dass er sich tat­säch­lich in einer ande­ren, oder anders­ar­ti­gen Umge­bung, einem frem­den Land bewegt. Da sind zunächst die ara­bi­schen Schrift­zei­chen. So viel kunst­vol­ler und sub­ti­ler als mei­ne eige­ne Schrift, was haupt­säch­lich der ein­fa­chen Tat­sa­che geschul­det sein mag, dass ich sie nicht ver­ste­he, den Code nicht dechif­frie­re. Und den­noch. Allein der Anblick all die­ser fremd­ar­ti­gen Zei­chen lässt mich erken­nen, in der Frem­de, dem Nicht-Aus­tausch­ba­ren zu sein.

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Chef­chaouen macht es mir zudem dank der blau­en Far­be noch leich­ter – ich wüss­te von kei­ner Stadt zu Hau­se, in der alle Wän­de blau sind. Auch wenn der ein oder ande­re Leser ein­wen­den darf, dies hän­ge nur von der pas­sen­den Uhr­zeit und dem Alko­hol­pe­gel ab. Dann die Geräu­sche. Man hört noch den Schmied. Man wird vom Gesang des Muez­zins geweckt, wobei – ich wer­de vom Muez­zin geweckt, sie höre das mor­gens gar nicht, sagt sie.

Noch etwas? Aber ja. Man hört und sieht die Tie­re, bevor sie geschlach­tet oder gerupft wer­den. Ab und an sieht und hört man es nicht bevor, son­dern wäh­rend es geschieht. In den Souks der Medi­nas arbei­ten die Metz­ger, genau wie alle ande­ren, vor den Augen der Pas­san­ten und der Kun­den. Das nimmt dem all­täg­li­chen Leben sei­ne Ver­lo­gen­heit. Wäh­rend wir in Euro­pa so tun, als hät­te Fleisch­ver­zehr nichts mehr mit dem leben­den Tier zu tun – außer auf Pla­ka­ten vega­ner Akti­vis­ten – kann man hier noch aus dem gan­zen Tier wäh­len und auch betrach­ten, wie das Stück Fleisch aus dem Tier her­vor­geht. Also doch anders als zu Hau­se.

Ich über­que­re den Fluss und las­se die Frau­en mit ihrer Wäsche zurück. An einem der stei­len Berg­hän­ge, an denen sich die Stra­ßen der Medi­na wie die Ten­ta­kel eines Kra­ken fest­saugen, führt ein Wan­der­weg hin­auf. Mitt­ler­wei­le hat der Regen auf­ge­hört, die Son­ne durch­bricht zag­haft die Wol­ken­fet­zen über dem Riff­ge­bir­ge. Seit­lich des Weges wach­sen wil­de Oli­ven­bäu­me und Kak­teen. Gan­ze Hai­ne an Kak­teen stre­ben hier nach der bes­ten Aus­sicht auf die blaue Stadt und man kann es ihnen nicht ver­den­ken.

Städ­te von oben haben immer auch etwas Ord­nen­des. Das Gewirr der Stra­ßen, Innen­hö­fe, der Plät­ze und der her­aus­ste­chen­den Gebäu­de bekommt eine Struk­tur. Man erkennt Zusam­men­hän­ge, man sieht, dass die­ses Restau­rant doch gar nicht so weit vom eige­nen Riad ent­fernt liegt, son­dern dass man sich nur im ver­win­kel­ten Laby­rinth der Medi­na ver­lau­fen hat­te. Im Hin­ter­grund domi­nie­ren die grün bewach­se­nen Ber­ge das Pan­ora­ma, wie mit einer Kar­tu­sche hin­ge­wor­fen erschei­nen sie rück­links der Häu­ser­men­ge.

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Mein Weg führt mich vor­bei an einem ein­ge­schos­si­gen Haus, das der hie­si­gen Fami­lie als Bau­ern­hof dient. Kaum pas­sie­re ich die Gar­ten­pfor­te, springt mir ein erbos­ter Hahn mit wun­der­bar rotem Kamm vor die Füße. Als ich ihm aus­wei­chen will, höre ich eine rau­chi­ge Män­ner­stim­me etwas auf Ara­bisch rufen. Ich kann es nicht ver­ste­hen, aber zwei­fels­oh­ne ist es ein Appell an das erbos­te Haus­tier, Ruhe zu geben. Wir­kungs­los, mit stak­si­gem, stol­zem Schritt mar­schiert er den Weg hin­auf in Rich­tung sei­nes Harems. So an die fünf­zehn Hüh­ner dürf­ten es sein, die dort im Dreck her­um­wu­seln. Der Mann bit­tet mich in den Gar­ten, das nun wie­der passt mir nicht in den Kram.

Ich bin nicht schüch­tern, aber ich ver­ste­he ihn über­haupt nicht und wenn uns in den ver­gan­ge­nen Tagen Marok­ka­ner ohne Grund oder ohne Fra­ge unse­rer­seits anspra­chen, dann meist – ich muss es lei­der so berich­ten – um Geld für irgend­et­was zu erhal­ten; ger­ne auch für nichts. Sei­ne Enke­lin, eine jun­ge Frau mit blau­em Kopf­tuch, erklärt mir auf Fran­zö­sisch: „Er möch­te sich für den Hahn ent­schul­di­gen. Sie sol­len sich nicht erschre­cken.“ Ich ant­wor­te, dass es kein Pro­blem gibt, alles in Ord­nung, da greift mich der Mann bereits am Arm und führt mich in die Wohn­stu­be. Kar­ge, aber geschmack­vol­le Ein­rich­tung, ein gro­ßer Tisch aus dunk­lem Holz, ein paar Stüh­le, ein altes, quietsch­gel­bes Sofa.

Auf dem Tep­pich­bo­den spielt ein klei­nes Mäd­chen, viel­leicht zwei Jah­re alt. Der Mann nimmt das Kind lachend auf sei­nen Arm, es beginnt zu wei­nen. Aber wo kom­men wir denn da hin? Ein Gast ist im Haus, dazu ein Gast aus dem fer­nen Deutsch­land, wie ich erklä­re… da muss nun auch das Kind durch. Ich set­ze mich und das Kind wird mir auf den Schoss gestellt – Wider­re­de zweck­los, für uns bei­de. Da sit­ze ich nun und wer­de von mei­nen Gast­ge­bern aus­ge­fragt.

Wie lan­ge sei ich in Chef­chaouen? Wie gefal­le mir Marok­ko? Ob ich die spa­ni­sche Moschee auf dem Hügel schon gese­hen habe? Letz­te­res gibt mir die Gele­gen­heit, Bewe­gung in die Sache zu brin­gen. Ich erklä­re, genau dort­hin sei ich gera­de unter­wegs gewe­sen, bevor mir der Hahn so abrupt den Weg abschnitt. Lachend und ges­ti­ku­lie­rend erhal­te ich ein Glas Tee, dann eini­ge selbst­ge­ba­cke­ne süße Teil­chen und damit bin ich ent­las­sen. Es ist schön, dass man von Men­schen immer wie­der über­rascht wird. Die­se paar Minu­ten glei­chen alle aus­ge­streck­ten Hand­flä­chen der letz­ten Tage aus.

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Bis zur spa­ni­schen Moschee sind es von dem klei­nen Haus aus nur noch ein paar Minu­ten Fuß­weg, steil berg­an. Als ich mein Ziel errei­che, geht mir mein Faux­pas auf. Die spa­ni­sche Moschee ist mehr eine Art Kir­che, das Mina­rett mehr ein baro­cker Kirch­turm. Und das Gebäu­de ist sehr klein. Die Spa­ni­er hat­ten das Gebäu­de in den 1920er Jah­ren errich­tet – genutzt wur­de es nie. Doch wie so oft bei sol­chen Unter­neh­mun­gen ist der Weg das Ziel. Ich bin froh, hier hoch gewan­dert zu sein. Chef­chaouen mit sei­nen blau­en Häu­sern zu mei­ner Rech­ten, das wei­te Tal inmit­ten des Riff­ge­bir­ges mit sei­nen grü­nen Berg­hän­gen vor mir, Ber­ge zu mei­ner Lin­ken.

Ein spa­ni­sches Paar sitzt auf der Mau­er neben mir und schweigt. Ich betrach­te die bei­den. Irgend­et­was muss vor­ge­fal­len sein, ein Blin­der kann die Kluft zwi­schen den zwei­en erken­nen. Ich sehe auf das Paar, dann auf die Stadt. Ich ver­su­che, irgend­wo in dem Laby­rinth der Medi­na die Dach­ter­ras­se unse­res Riads aus­zu­ma­chen. Ver­geb­lich. Aber ich weiß, dort hin­ten liegt es. Dort hin­ten liegt sie.

Und mit einem Ruck ver­las­se ich die Aus­sicht, die Ber­ge, die Spa­ni­sche Moschee und gehe so schnell ich kann zurück in die Medi­na, zurück zu ihr. Manch­mal braucht man Momen­te der Ein­sam­keit auf der Rei­se. Aber jetzt brau­che ich sie.

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Antworten

  1. Avatar von 12monthsoff

    Schö­ner Bericht, der unse­re Vor­freu­de noch wei­ter wach­sen lässt. Wir sind gera­de seit einem Monat in Marok­ko unter­wegs und wer­den in den kom­men­den Wochen auch noch Chef­chaouen pas­sie­ren.
    Jetzt erst recht! 😉

  2. […] Ein Bei­trag von Rei­se­de­pe­schen […]

  3. Avatar von Nord-Peru Reisen

    Ein tol­ler Bericht mit wun­der­ba­ren Pho­tos. Du hast die Stim­mung sehr gut wie­der­ge­ge­ben. Wir waren 2009 in Marok­ko und haben meh­re­re blei­ben­de Begeg­nun­gen gemacht. Es ist ein fas­zi­nie­ren­des Land.

  4. Avatar von Flügge via Facebook

    Hab ich sehr gern gele­sen. Noch dazu die­se tol­len Fotos. Jetzt will ich’s sel­ber sehen.

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