Changemaker im Nordirak

Terror, Gewalt, Krieg, Wirtschaftskrise, jetzt Corona. Die Kette an Krisen scheint im Nordirak nicht zu enden. So manch junger Mensch entscheidet sich für die Flucht ins Ausland. Doch sie bleiben: junge „changemaker“, Menschen, die auch in Krisenzeiten nicht aufgeben.  

Es ist nicht das Ende der Welt, auch wenn es uns viel­leicht so vor­kommt. Nur vier Flug­stun­den von Deutsch­land ent­fernt, im Län­der­drei­eck zwi­schen Iran Tür­kei und Syri­en liegt der Irak und die Auto­no­me Regi­on Kur­di­stan im Nord­irak. 

Erst in Erbil, dann durch das Berg-Hin­ter­land wei­ter nach Dohuk und Rich­tung Mos­sul hört die Autorin in Gesprä­chen das, was die Men­schen in Kri­sen moti­viert, wei­ter zu machen.

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Hoffnung durch Mode 

Ahmed Nauzad gehört mit dem Mode­kol­lek­tiv Mr. Erbil zu den bekann­tes­ten Influen­cern in der Regi­on. Vor fünf Jah­ren kehr­te er in sei­ne Hei­mat, der Auto­no­men Regi­on Kur­di­stan im Irak zurück, als er die Bil­der des Ter­rors vom Isla­mi­schen Staat über die Fern­seh- und Smart­phone- Bild­schir­me sah. Zurück in Erbil war die­ser Ter­ror plötz­lich nur noch 40 Auto­mi­nu­ten ent­fernt. Mit Freun­den grün­de­te er den­noch das Mode­kol­lek­tiv und den Gen­tle­men Club Mr. Erbil. Nie­mand der mode­be­geis­ter­ten Grün­der hat Mode-Design stu­diert. Doch mit Lei­den­schaft, dem Wil­len für etwas Posi­ti­ves in Ter­ror­zei­ten und moder­ner Dan­dy-Mode sorgt Mr. Erbil schnell vor Ort für Furo­re. Bis heu­te sind rund 120.000 Fans auf Insta­gram begeis­tert. 

Doch mit eng anlie­gen­den Hosen­an­zü­gen gibt es im Nord­irak auch kri­ti­sche Bli­cke. Als Entre­pre­neur sei es immer hart, aber man müs­se ein­fach begin­nen, so Nauzad, einer der Grün­dungs­vä­ter von Mr. Erbil. Neben neu­en Design-Schwung in der Män­ner­mo­de ver­ar­bei­tet Mr. Erbil Pro­duk­te aus der Regi­on. Dazu gehört eine exklu­si­ve Kra­wat­ten­kol­lek­ti­on aus loka­ler Zie­gen­wol­le. Zudem unter­stützt Mr. Erbil mit Netz­werktref­fen für Frau­en die Grün­de­rin­nen aus der Regi­on. 

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Zwischen Co-Working und Kriegsruinen

In den Städ­ten im Irak wach­sen Co-Working- Büros für Start-ups, Grün­de­rin­nen und Grün­der und für jun­ge Men­schen mit digi­ta­len Visio­nen aus dem Boden, teil­wei­se aus den Rui­nen des Ter­rors. In Büros in Bagh­dad, Sulei­ma­nia, Erbil oder Mos­sul fin­den sich jun­ge Men­schen zum Coden, Pro­gram­mie­ren und Tüf­teln zusam­men. Dort mes­sen sie sich in Hacka­thons um die bes­te App für digi­ta­le Lösun­gen für Pro­ble­me vor Ort oder ent­wi­ckeln ihre eige­nen Apps. 

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Ein Traum vom Fliegen 

Als Künst­le­rin im Irak ist es nicht ein­fach – doch über die Sozia­len Medi­en erreicht sie eine not­wen­di­ge Reich­wei­te, um ihre Kunst­wer­ke zu ver­kau­fen und sich unab­hän­gig von ver­krus­te­ten Struk­tu­ren ihrer Kunst zu wid­men.

„Ich habe eine Skulp­tur einer Frau gemacht, deren Arme gebro­chen waren und lose her­ab hin­gen. Dann stell­te ich eine Lein­wand hin­ter ihr auf und mal­te für sie zwei Flü­gel. Das bedeu­tet: auch wenn dir die Gesell­schaft dei­ne Arme bricht, soll­test du nie­mals auf­hö­ren vom Flie­gen zu träu­men“, so Rawa über ihre Kunst, wo sie die The­men ihrer Gene­ra­ti­on ver­ar­bei­ten möch­te. Auch Rawa träumt vom Flie­gen. Irgend­wann will sie einen Tag im Lou­vre- Muse­um in Paris ver­brin­gen und sich dort von der Kunst inspi­rie­ren las­sen. Ihr ira­ki­scher Pass macht es nicht ein­fach, ein Visum für eine Rei­se nach Euro­pa zu bekom­men. Sie hofft, dass sich das irgend­wann ändert. Zusam­men mit den Vor­ur­tei­len gegen­über ihrem Land. 

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Kerzen für ein gutes Leben 

Was in Deutsch­land der Nach­mit­tags­kaf­fe ist, ist im Irak der Schwar­ze Tee mit viel Zucker in klei­nen, geschwun­ge­nen Glä­sern. Huda Sar­hang füllt die­se typi­schen Tee­glä­sern mit Ker­zen­wachs. Was als Hob­by neben ihrem Full-time Job begann, gießt sie seit knapp zwei Jah­ren in ein pro­fes­sio­nel­les Unter­neh­men. „Lala Cand­les“ wer­den durch die sozia­len Medi­en wie Insta­gram und Face­book schnell bekannt. Bestel­lun­gen kom­men aus dem gan­zen Irak. Ihren Full-Time Job mit Fest­an­stel­lung hat sie mitt­ler­wei­le gekün­digt – sehr zum Bedau­ern ihrer Eltern. Doch Huda lässt sich von ihrem eige­nen Unter­neh­mer­geist nicht abbrin­gen. Mit Mut, Stär­ke und Lei­den­schaft arbei­te­te sie zuerst von einer klei­nen Gara­ge aus. Heu­te ver­netzt sie sich mit geflüch­te­ten Frau­en, um ihnen in Flücht­lings­camps ein selbst­stän­di­ges Ein­kom­men zu ermög­li­chen und so die vie­len Bestell­an­fra­gen abar­bei­ten zu kön­nen. Jede Ker­ze ist ein Uni­kat – und gibt neben Huda auch einer wei­te­ren Frau nach Krieg und Leid mit ein wenig mehr finan­zi­el­ler Unab­hän­gig­keit die Hoff­nung für ein gutes Leben. 

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Bilder abseits von Krieg

Er will über das Schö­ne aus sei­ner Hei­mat berich­ten. Für ihn geht es um Bil­der abseits von Krieg und Ter­ror und die Moti­va­ti­on für jun­ge Men­schen im Irak, dass man sein Leben selbst in der Hand hat. Auch in einer Kri­sen­re­gi­on und auch, wenn die eige­nen Eltern nicht ganz an das glau­ben, was man selbst als Beru­fung sieht. Kai­wan Sha­ran ist Fil­me­ma­cher und Influen­cer. Viel­leicht kann man ihn am Bes­ten als Con­tent Crea­tor beschrei­ben mit Mil­lio­nen views auf You­tube und mehr als 120.000 Fans auf Insta­gram. Sei­ne Eltern ken­nen You­tube und Insta­gram nicht. Sein Geld ver­dient er mit Foto­fil­tern und Tuto­ri­als auf You­tube für Foto­be­ar­bei­tung. Was er im Leben für sei­nen Erfolg braucht?  Kai­wan sagt: Inter­net, ein smart­phone und Ideen. Alles hat er hier im Nord­irak. Hin­der­nis­se sind für ihn Moti­va­ti­on, noch wei­ter zu kämp­fen. Vie­le jun­ge Men­schen möch­ten das Land ver­las­sen. Kai­wan bestärkt sie, sich den Schwie­rig­kei­ten zu stel­len und sich nicht in der Fer­ne den Pro­jek­tio­nen von Glück hin­zu­ge­ben. Denn Kai­wan ist sich sicher: wer es in einer Kri­sen­re­gi­on schaf­fe, dem liegt die ganz Welt zu Füßen. 

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Gewinner einer Krise

Der online Han­del ist der Gewin­ner in der Coro­na­zeit. Auch im Irak, wo Ama­zon & Co. Nicht exis­tie­ren und loka­le Lie­fer­diens­te erst im Auf­bau sind. 

Jun­ge Erwach­sen kau­fen für Eltern oder Groß­el­tern online ein und las­sen es direkt lie­fern. Was für uns mit sta­bi­ler Inter­net­ver­bin­dung viel­leicht All­tag ist, zeigt sich im Nord­irak als Neu­heit und Unter­neh­mung mit Hür­den. Doch vor allem jetzt, in Zei­ten der glo­ba­len Coro­na- Pan­de­mie, zählt der online Han­del zu den Gewin­nern. Auch im Nord­irak, wo Pro­duk­te nicht online bestellt und über Nacht aus ver­netz­ten Lager­stät­ten gelie­fert wer­den kön­nen, gibt es seit Kur­zem digi­ta­le Lösun­gen für ange­lie­fer­tes Klo­pa­pier. 

Grün­der Dana Sabah von Erbil Deli­very ist aus­ge­bil­de­ter Bau­in­ge­nieur. Eine eige­ne App mit einem Lie­fer­dienst zu bau­en, reiz­te ihn jedoch mehr als die Bau­stel­le. Sabah betont aber: Es sei nicht ein­fach, hier jemand mit Visio­nen zu sein. Er ist aktu­ell dank­bar für Inter­net und Elek­tri­zi­tät – bei­des funk­tio­nie­re momen­tan kon­stant gut und ermög­licht sei­nem Lie­fer­dienst erfolg­reich zu sein. Doch im Irak kön­ne sich die­ser Zustand von Tag zu Tag ändern. Zudem feh­le ihm die Fach­kräf­te für Pro­gram­mie­ren und neue Fah­rer für die gro­ßen Pro­dukt­lie­fe­run­gen. Da der Andrang zwi­schen den lock­downs kaum zu steu­ern ist, schal­tet er die Online-Bestell­for­mu­la­re bei zu hohen Stoß­zei­ten aus. 

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Ausgebremst

Ein Ort zum Ver­wei­len, Grü­beln, Schrei­ben, Schlem­men und Dis­ku­tie­ren – das gan­ze bei smoothies und fri­schem Kaf­fee. Was für eine Ber­li­ne­rin nach einem Ort klingt, der ein­fach zu errei­chen ist, ist im Nord­irak nicht All­tag. Das Erbil Bus Café ist kein klas­si­sches Tee­haus, son­dern viel­mehr ein Kaf­fee­haus in einem alten, aus­ge­bau­ten Schul­bus. Bis der Stand­ort geneh­migt war, ver­ging ein Jahr. Dann – Social Media sei Dan­ke- wur­de das Café im Bus schnell bekannt und zu einem hip­pen Treff­punkt. Anfang 2020 war plötz­lich Schluss. Die Stadt­ver­wal­tung ent­zog die Aus­schank­ge­neh­mi­gung. Für die Grün­der Shadi, Kann und Zhe­dar ein Schlag. Eine Wie­der­eröff­nung in Zei­ten von poli­ti­schen Umbrü­chen im Nord­irak, Coro­na und den immer wie­der­keh­ren­den lock­downs bleibt eine Her­aus­for­de­rung. 

Mit die­sen jun­gen Chan­ge­ma­ker wird schnell klar, wie sehr der Erfolg in die­ser Regi­on heu­te von Sozia­len Netz­wer­ken abhän­gig ist. Immer so lan­ge, wie das Inter­net besteht und von der Poli­tik nicht abge­schal­tet wird, funk­tio­niert auch das Geschäft. So lan­ge kön­nen Ideen wach­sen und sich Gleich­ge­sinn­te ver­net­zen. Fest steht: Die „Chan­ge­ma­ker“ aus die­sen Gesprä­chen las­sen sich nicht unter­krie­gen – auch bei einer lan­gen Ket­te von Kri­sen.

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