»I like your style!«

Eine gefühl­te Ewig­keit und tat­säch­li­che 8 Tage waren wir schon unter­wegs. Quer durch Yuca­tan haben wir vie­le Men­schen gese­hen, getrof­fen, ken­nen­ge­lernt. Tol­le, schrä­ge, absur­de, lang­wei­li­ge Begeg­nun­gen waren das für uns. Für die ande­ren wahr­schein­lich auch – doch am Ende stand allen noch eine Fra­ge im Gesicht: War­um trägt sie die­sen Strumpf?

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Wegen einer kürz­li­chen OP am lin­ken Bein muss ich zur Rege­ne­ra­ti­on einen Kom­pres­si­ons­strumpf tra­gen. Er ist grau, weil ich dach­te grau ist in der latein­ame­ri­ka­ni­schen Son­ne ein biss­chen weni­ger heiß als schwarz. Für ein paar Wochen lau­fe ich also mit einem grau­en und einem nor­ma­len Bein her­um. Das nervt beim Anzie­hen und sieht etwas schräg aus, ist aber nötig und eigent­lich auch egal. Nur zieht es doch stark die Auf­merk­sam­keit mei­ner Mit­men­schen auf sich. Neu­gier­ge­trie­ben blin­zeln Men­schen heim­lich auf mei­ne Bei­ne, star­ren, wenn sie sich in siche­rer Ent­fer­nung befin­den oder bera­ten sich auf schnel­lem Spa­nisch über den mög­li­chen Grund mei­ner Bein­bi­far­big­keit. Kin­der zei­gen auf mich und fra­gen ihre Mut­ter was da los ist. Doch kei­ner von ihnen frag­te mich. Nir­gends nahm sich jemand ein Herz und sprach mich dar­auf an.

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Kom­pres­si­ons­strümp­fe sind in Zen­tral­ame­ri­ka also anschei­nend nicht so ver­brei­tet. Was auf­grund der schlech­te­ren medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung zwar trau­rig, aber auch ver­ständ­lich ist. Aber das war nicht das über­ra­schen­de für mich. Viel mehr erstaun­te mich, dass die Mexi­ka­ner schüch­ter­ner sind als ich dach­te. Denn kei­ner trau­te sich zu fra­gen. Selbst wenn wir schon in einem Gespräch waren. Ich hat­te das Gefühl, sie befürch­te­ten, mir zu nahe zu tre­ten, eine zu inti­me Infor­ma­ti­on von mir zu erfah­ren und damit nicht umge­hen zu kön­nen. Das komi­sche graue Bein wur­de daher lie­ber rigo­ros umgan­gen. Das fand ich sehr scha­de, da ich viel lie­ber Inti­mi­tä­ten als Small­talk aus­tau­sche. Das fand ich auch ein klei­nes Ministück ent­täu­schend, da ich mir in mei­ner Unwis­sen­heit mit den Mexi­ka­nern offe­ne­re und per­sön­li­che­re Begeg­nun­gen gewünscht hat­te.

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Doch das änder­te sich schlag­ar­tig, als wir nach Caye Caul­ker fuh­ren. Schon auf der Schiff­hin­fahrt erzäh­le ich mei­ne Bein­ge­schich­te drei Mal. Der Kapi­tän, der Skip­per und der beli­zia­ni­sche Mit­fah­rer neben mir frag­ten mich danach. Gera­de auf Caye Caul­ker ange­kom­men, fuhr der Kapi­tän an mir vor­bei und rief „Ah, the girl with the one-leg-tat­too!“ Und so ging es wei­ter. Der ers­te Weg über die Insel und ich hat­te schon die drei belieb­tes­ten Zuru­fe ein­ge­sam­melt: „What’s wrong with your leg?“, „Is that a full-leg-tat­too?“ und „Come over and tell me about your grey leg!“. Die meis­ten aber dach­ten es sei ein neu­er aus Euro­pa impor­tier­ter Style und rie­fen: „I like your style!“.

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Nie­mand fürch­te­te eine unan­ge­neh­me Ant­wort und alle waren wahr­lich inter­es­siert. Ich fühl­te mich direkt will­kom­men und genoss es, die Neu­gier der Men­schen zu stil­len. Auch wenn ich einen gro­ßen Teil in dem Glau­ben ließ, Trend­im­por­teur zu sein. Noch viel mehr genoss ich, dass ich im Aus­tausch für mei­ne per­sön­li­che Geschich­te auch eine per­sön­li­che Geschich­te von ihnen bekam.

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Ich lern­te Flush ken­nen, der schon sein Leben lang Bas­ket­ball spielt auf dem Bas­ket­ball­platz, der das geo­gra­fi­sche, sozia­le und emo­tio­na­le Zen­trum der Insel bil­det. Dabei war er immer den Dro­gen und der Kri­mi­na­li­tät in Beli­ze aus dem Weg gegan­gen. Bei­des ist hier sehr ver­brei­tet und beson­ders für die Sinn- und Anschluss suchen­den Jugend­li­chen eine ver­füh­re­ri­sche Gefahr.

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Mit 20 Jah­ren soll­te er in eine Dro­gen­gang gesteckt wer­den. Da man dazu nicht ein­fach „Nein, dan­ke“ sagen kann, ent­schloss er sich kurz vor’m Gang­tat­too­stechen aus­zu­wan­dern. Er lan­de­te in Öster­reich und spiel­te dort 14 Jah­re für die Natio­nal­mann­schaft Bas­ket­ball. Dort lern­te er deutsch, ein ganz ande­res Leben und eine Frau ken­nen. Als die Ehe in die Brü­che ging, kehr­te er zurück nach Caye Caul­ker. Hier unter­stützt er heu­te die Jugend mit sei­ner Erfah­rung mit Bas­ket­ball und sei­ner Erfah­rung mit einem siche­ren, ver­ant­wor­tungs­vol­len Leben. Als Trai­ner und als Vor­bild. Um sie, genau so wie einst sich selbst, vor der beli­zia­ni­schen Kri­mi­na­li­tät zu beschüt­zen. Selbst wäh­rend eines Spiels wird er nie aggres­siv oder laut, was eine gro­ße Vor­bild­wir­kung auf die ande­ren Spie­ler hat. Flush sagt „Bet­ter go to the court than to the court.“

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Oder B‑J. B‑J lebt allein, schon immer. In sei­ner Eigen­bröd­le­rei hat er sei­ne eige­ne Kokos­eis­re­zep­tur gebraut und sein eige­nes Kühl­fahr­rad gebaut. Er macht täg­lich fri­sches Eis aus fri­scher Kokos­nuss, ver­kauft es dann in den Stra­ßen von Caye Caul­ker und unter­hält sich mit jedem, den er dabei trifft. Alle lie­ben ihn und sein Eis. Alle ken­nen ihn und sein Eis. Doch kei­ner kennt sei­ne Rezep­tur. Sein Fahr­rad steht immer län­ger als es fährt. Dabei sprüht er nur so vor guter Lau­ne und Ent­spannt­heit. Die Kraft dafür schöpft er jeden Tag aus sei­nem Glau­ben. Bevor er abends ein­schläft und bevor er mor­gens auf­steht, liest er immer eine Sei­te in der Bibel. Er sagt „A per­fect day is when I get home, have a nice din­ner and read my bible.“

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Oder der 14jährige Frank. Mit sei­nem 12jährigen Bru­der ist er allein auf Caye Caul­ker und ver­kauft Früch­te aus einem Bauch­la­den. Als ich auf dem Steg sit­ze und mei­ne Bei­ne ins Was­ser pen­deln las­se, ärgert Frank mich immer und zieht an mei­nem grau­en Bein wie ein Kind. Als er mit mir auf dem Steg sitzt und von sich erzählt, wirkt er wie ein zu klei­ner Erwach­se­ner. Er erzählt uns vom teu­ren Schul­sys­tem in Beli­ze, das sich sei­ne Fami­lie nicht über die Grund­schu­le hin­aus leis­ten kann, von Freun­den, die bereits in sei­nem Alter Hero­in neh­men und von Erwach­se­nen, die sinn­los Alko­hol in sich hin­ein­kip­pen. Auf Caye Caul­ker möch­te er Geld für sei­ne Fami­lie ver­die­nen, Ver­ant­wor­tung für sei­nen klei­nen Bru­der über­neh­men und Er sagt „Inbet­ween we always have time to chill at the sea­si­de.“

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Oder Amen­i­ta, die sich wäh­rend eines Urlaubs auf Caye Caul­ker in einen loka­len Fischer ver­liebt hat und für ihn blieb. Doch wie so der All­tag ein­kehr­te und der Urlaubs­zau­ber ver­flog, ver­flog auch die Ver­liebt­heit. Sie ver­gisst immer mehr, war­um sie eigent­lich da ist. Und was sie denn so moch­te – an ihm und an der Insel. Wenn sie sich in die Augen sehen, sieht das trau­rig aus. So viel­ver­spre­chend war ihre Zwei­sam­keit ein­mal gewe­sen. Wenn sie sich tref­fen, ist min­des­tens einer ent­täuscht, weil der ande­re zu früh, zu spät oder sonst­wie falsch kommt. So fröh­lich waren ihre Tref­fen ein­mal gewe­sen. Wenn sie mit­ein­an­der tan­zen, sieht es nach Schmer­zen aus. So ener­ge­tisch waren ihre Kör­per ein­mal gewe­sen. Sie sagt „May­be the vaca­ti­on is over soo­ner than I thought.“

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Oder Jay, der sich in sei­ner Jugend am Ran­de der Kri­mi­na­li­tät beweg­te. Dro­gen ver­zeh­ren, Dro­gen ver­kau­fen, für Dro­gen ver­prü­geln. Bis er eines Tages ange­schos­sen wur­de – die Kugel flog durch sei­nen Rücken rein, durch sei­nen Bauch wie­der raus. Die OP war lang und anschlie­ßend muss­te er auch Kom­pres­si­ons­trümp­fe tra­gen! Sei­ne waren beige und beschütz­ten ihn vor Throm­bo­se, als er noch wochen­lang im Bett lie­gen muss­te. Die Strümp­fe gefie­len ihm so gut, dass er sei­ner Mut­ter auch ein Paar kauf­te. Denn die­se hat­te immer schwe­re Bei­ne bei lan­gen Rei­sen. Und auch sonst ent­schied er sich, noch mehr Gutes zu tun. Nach­dem er wie­der fit war, grün­de­te er eine Orga­ni­sa­ti­on für die Jugend­li­chen auf der Insel, um sie vor einer Lauf­bahn wie die sei­ne zu beschüt­zen. Mit Bas­ket­ball­trai­ning, Bas­ket­bal­l­e­quip­ment und klei­nen Aus­flü­gen. Immer wenn er das gera­de nicht plant, sam­melt er Spen­den. Er sagt „Sto­ckings are even more com­for­ta­ble than bas­ket­ball pants.“

0.Basketball

Caye Caul­ker ist eine Insel vol­ler Men­schen mit schwe­ren Geschich­ten. Doch Caye Caul­ker ist auch eine Insel vol­ler Men­schen mit Lebens­freu­de. Mit Leich­tig­keit und Urver­trau­en erzäh­len sie ihre Geschich­te auf der Stra­ße, wenn man sie fragt. Mit gro­ßer Lei­den­schaft wer­fen sie Kör­be auf dem Bas­ket­ball­platz. Mit lau­ter Stim­me sin­gen sie Lie­der auf dem Weg zur Müll­kip­pe. Das Leben kann ihnen zuset­zen, doch ihnen nie­mals ihre fröh­li­che Ein­stel­lung neh­men. Genau die­se hat sich auch auf mei­nen Strumpf über­tra­gen. Was ich zuvor anstren­gend emp­fand, möch­te ich jetzt gar nicht mehr aus­zie­hen.

0.Steg

 

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Antworten

  1. Avatar von Chris

    Hal­lo Lena,

    dan­ke für die­sen tol­len Arti­kel, der mir hof­fent­lich auch noch einen ande­ren Blick auf Caye Caul­ker ermög­li­chen wird – auch ganz ohne Ver­let­zung. Aber viel­leicht hat sich dein »Trend« ja auch schon durch­ge­setzt und alle tra­gen »Ein-Bein-Tat­toos«. Ich wer­de es dann in zwei Tagen sehen 🙂

    Lie­be Grü­ße aus Mexi­ko
    Chris

  2. Avatar von Björn

    Hey Lena,
    viel­leicht hast du ja jetzt mit dei­nem Kom­pres­si­ons­strumpf einen Trend in Mexi­ko gesetzt und irgend­wann kommt es über Ame­ri­ka dann in Deutsch­land an 😉

    1. Avatar von Lena

      Hehe, mir gefällt es mitt­ler­wei­le tat­säch­lich ganz gut. Ich freue mich schon auf den ers­ten Trend­ad­ap­teur. Viel­leicht bist du es ja? 🙂

  3. Avatar von Tamara
    Tamara

    Da glaubt man, man wäre selbst da 🙂 (und man wünscht sich’s auch! 😉 )

    Bin schon gespannt, was die Rei­se sonst noch so bereit hält !!! 🙂

    1. Avatar von Lena

      Dan­ke Tama­ra! Ich bin genau­so gespannt und freue mich drauf es mit dir zu tei­len 🙂

  4. Avatar von Ronald
    Ronald

    Hm, Caye Caul­ker ganz ken­nen ler­nen? Sehr schwie­rig 😉

    Die Geschich­ten von den Leu­ten sind toll, viel­leicht soll­te man immer
    mit Arm­schlin­gen, Kopf­ver­bän­den oder ähn­li­chem rei­sen, dann kann
    man bes­ser Lei­dens­ge­schich­ten tau­schen (das hat irgend­wie immer Kon­junk­tur).

    Aber Caye Caul­ker ist ins­ge­samt eher eine Oase. Im rest­li­chen
    Beli­ze sind die – von Dir ange­spro­che­nen – sozia­len Pro­ble­me wesent­lich
    grö­ßer und deut­lich spür­ba­rer.

    1. Avatar von Lena

      Dan­ke für dein Kom­men­tar, Ronald. Oh ja, lei­der sind sie dort grö­ßer und auch auf Caye Caul­ker nicht zu unter­schät­zen.
      Mich hat aber beson­ders beein­druckt, dass sich so vie­le die­ser Pro­ble­me bewusst sind und auf ihre Wei­se etwas dafür tun, die Situa­ti­on zu ver­bes­sern.

  5. Avatar von Krystian Be via Facebook
    Krystian Be via Facebook

    Erin­ne­run­gen an Lena’s Guest­house: aus 3 geplan­ten Tagen wur­den 10. abends die »Raub­fi­sche«, die die »Sprites« gefres­sen haben am lazy lizard. Pan­bread, oran­ge chi­cken, bana­na­ca­ke, Juni­or von rag­gam­uf­fin­tours. Mann­mann­mann: will da irgend­wann noch­ma hin!

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