Cabo Polonio: Stromlos glücklich

Leich­te Panik kriecht in mir hoch. Irgend­wo gibt es doch bestimmt eine Steck­do­se. Oder etwa nicht? Ein Pie­pen noch, dann ist mein Smart­phone tot. Immer wie­der schaue ich auf den Bild­schirm. Mal mecha­nisch, mal hyp­no­tisch. Aber da ist nichts. Das gro­ße, schwar­ze Nichts auf dem Bild­schirm. Nichts als Land­schaft um mich her­um. Ich füh­le mich wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt und nicht weiß, was als nächs­tes pas­sie­ren wird. Aber der Rei­he nach:

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 „Cabo Polo­nio? Da musst du unbe­dingt hin!“

Wie oft habe ich die­sen Satz in Mon­te­vi­deo gehört. Da ist die Rede von bis zu 20 Meter hohe Wan­der­dü­nen, von end­lo­sen Strän­den, spek­ta­ku­lä­ren Son­nen­un­ter­gän­gen, sel­te­nen Arten wie die grü­ne Schild­krö­te oder der vie­r­äu­gi­ge Frosch. Haie und Wale soll es dort auch geben. Aber vor allem gilt Cabo Polo­nio als  Eldo­ra­do der Lebens­künst­ler. Ein Dorf ohne Strom irgend­wo im Nir­gend­wo an der Küs­te Uru­gu­ays, unweit der Gren­ze zu Bra­si­li­en.

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Mit dem Bus geht es also Rich­tung Nor­den, das letz­te Stück mit einem Truck durch san­di­ges Gelän­de. Ich tref­fe Rober­to und Sant­ia­go, die Hüter des Natio­nal­parks Cabo Polo­nio. Noch bevor ich das Dorf gese­hen habe fah­ren wir mit ihrem Gelän­de­wa­gen durch die Dünen. Eine wil­de, unbe­rühr­te Land­schaft mit krum­men Bäu­men und dor­ni­gen Büschen, mit Schilf und Vögeln.

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Einen schö­ne­ren Job kann es nicht geben

Sant­ia­go sitzt hin­ten, trinkt sei­nen Mate und schaut glücks­strah­lend und stau­nend in die Land­schaft, so als kön­ne er es noch gar nicht glau­ben, dass er sei­nen per­sön­li­chen Sech­ser im Lot­to gezo­gen hat. Er ist Stu­dent und macht seit ges­tern ein Prak­ti­kum im Natio­nal­park. Heu­te fährt er zum ers­ten Mal raus. „Einen schö­ne­ren Job kann es doch nicht geben“ sagt er strah­lend und zieht genüss­lich an sei­nem Mate-Halm.

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Ich fin­de mei­nen Job auch ziem­lich gut und hal­te mei­nen Kopf jauch­zend aus dem Fens­ter. Das ist öko­lo­gisch und poli­tisch nicht so ganz kor­rekt aber ich habe gera­de einen Mords­spaß.  Rober­to auch. Er gibt auf gera­der Sand­stre­cke Gas und wir bret­tern am Was­ser ent­lang. Dann geht es lang­sam und vor­sich­tig durch die Dünen. Wir wol­len ja kei­ne Tie­re ver­schre­cken.

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Auf einer Anhö­he machen wir halt. Sant­ia­go ent­deckt Eulen auf den Fel­sen und ist ziem­lich aus dem Häuss­chen. Eine vom Aus­ster­ben bedroh­te Art, die auf dem Fel­sen sitzt und tut als ob nichts wäre.

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Rober­to ist in einem Fels­spalt ver­schwun­den. Und kommt lachend und nass wie­der her­aus. Er hat im Inne­ren eine Quel­le mit eis­kal­tem, glas­kla­rem Was­ser ent­deckt. Erfrischt fah­ren wir wei­ter zum Dorf.

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Ein Dorf, sieb­zig Men­schen, null Strom

Die ehe­ma­li­ge Fischer­sied­lung liegt auf einem Hügel und hat nichts wei­ter als einen Leucht­turm, eini­ge zer­streut lie­gen­de, bunt ange­stri­che­ne Häuss­chen, zwei Hos­tels, ein Hotel, eini­ge Restau­rants und einen Lebens­mit­tel­la­den. Etwa sieb­zig Men­schen woh­nen hier.

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Vom Leucht­turm aus schaue ich auf die Fel­sen, auf denen die See­hun­de und See­lö­ven schwarz in der Son­ne glän­zen. Ihre Vor­fah­ren hat­ten es weni­ger gemüt­lich: sie wur­den grau­en­voll abge­schlach­tet, zusam­men mit Walen, und direkt vor Ort aus­ge­nom­men. Aber das ist lan­ge her. Inzwi­schen ist der Fang ver­bo­ten und die Tie­re räkeln sich genüss­lich in der Son­ne, ohne den Men­schen fürch­ten zu müs­sen.

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In den sech­zi­ger Jah­ren kamen dann immer mehr Jugend­li­che nach Cabo Polo­nio und besetz­ten die ver­las­se­nen Fischer­häuss­chen. Sie stri­chen sie rot, blau und gelb an, kamen in den son­ni­gen Win­ter­mo­na­ten und gin­gen wie­der, wenn im Som­mer die See rau und der Wind stür­misch wur­de.

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In der Hoch­sai­son sind die weni­gen Gäs­te­bet­ten belegt. Viel zu tun gibt es nicht. Schau­en, Chil­len und stau­nen. Nir­gend­wo anders ist der Ster­nen­him­mel so nah wie im strom­lo­sen Cabo Polo­nio. Und nir­gend­wo sonst ist es so still wie hier. Kein Fern­se­her, der nervt. Kei­ne Radio, das mich voll­dröhnt. Irgend­wann ist auch der Akku mei­nes Smart­phones leer.

Der Bild­schirm tot. Alles schwarz.

Und plötz­lich bemer­ke ich, was ich alles nicht tun kann, so ganz ohne Strom:

nach­schau­en wie das Wet­ter mor­gen wird

auf die Uhr sehen

Whats App Nach­rich­ten emp­fan­gen

Bescheid sagen, dass es mit gut geht

Face­book che­cken

Insta­gram Fotos machen

News gucken

mal eben goo­geln bis wann hier die Wal­fi­sche abge­schlach­tet wur­den.

Statt des­sen sit­ze ich auf einem Fel­sen, schaue aufs Meer und träu­me. Mei­ne Woh­nung taucht auf. Mit all ihren Steck­do­sen und Strom­pa­ra­si­ten. Mal sehen, was haben wir denn da (nicht in Schub­la­den, son­dern immer­zu ver­füg­bar):

In der Küche: ein Kühl­schrank, ein Herd, ein Back­ofen, eine Spül­ma­schi­ne, ein sehr schnel­ler Mixer, ein Toas­ter, ein Warm­was­ser­boi­ler, ein Was­ser­ko­cher, ein Milch­auf­schäu­mer, eine Oran­gen­pres­se, eine Musik­box, eine Mikro­wel­le. Und hey: mei­ne Küche hat gera­de mal 7 qm!

Im Bad: ein Föhn, eine elek­tri­sche Zahnbürste…hört sich beschei­den an, weil die Wasch­ma­schi­ne im Kel­ler steht.

Im Arbeits­zim­mer geht’s erst rich­tig los: ein Com­pu­ter (immer im Bereit­schafts­mo­dus),  ein Fern­se­her, ein Radio, ein CD Play­er, ein Plat­ten­spie­ler, ein Rou­ter, ein Tele­fon, ein Dru­cker,

und Hän­ge­Lam­pen, Steh­Lam­pen, Tisch­Lam­pen und Boden­lam­pen.

Wow. Schock. So viel! Wozu?

In Cabo Polo­nio. Nichts. Kein Strom nir­gend­wo. Geht auch. Die sieb­zig stän­di­gen Ein­woh­ner könn­ten Strom haben. Wäre tech­nisch kein Pro­blem. Aber die wol­len nicht. Kein Radio, kein Fern­se­her, kein gar nix. Sie kochen mit Gas, waschen per Hand und gucken abends auf das fun­keln­de Meer von Ster­nen statt Soaps im Fern­se­hen. Und das ist gar nicht so schlecht. Statt stän­dig auf mein Han­dy zu gucken, schaue ich aufs Was­ser.

Da sind kei­ne Infos, aber Far­ben.

Wo ich vor­her nur Blau gese­hen habe, bemer­ke ich jetzt: Dun­kel­blau, Algen­blau, Kobalt­blau, Lupi­nen­blau, Sil­ber­blau, Indi­go­blau und Dun­kel­blauf­ast­schwarz. Der zap­peln­de Käfer ist ver­schwun­den und ich bin jetzt, genau jetzt, wunsch­los glück­lich.

Mein Han­dy ist aus, mein Lap­top tot – nur mei­ne eige­nen Akkus, die laden kräf­tig auf. Von Stun­de zu Stun­de. Ich wäre ger­ne noch ein Weil­chen geblie­ben. Strom­los glück­lich in Cabo Polo­nio.

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Antworten

  1. Avatar von Marcus
    Marcus

    Bin gebür­ti­ger Uru­gu­ay­er, lebe aber seit 22 Jah­ren in Euro­pa. Habe dort mei­ne Kind­heit ver­bracht, ein Traum! Erin­ne­re mich auch an Cabo Polo­nio, eine Tan­te eines Kum­pels wohn­te dort. Tol­le Erin­ne­run­gen!

    1. Avatar von Gitti Müller

      Mar­cus, ich glau­be in Cabo Polo­nio hat sich rein gar nichts ver­än­dert. Falls du jetzt noch mal hin­fährst wirst du dich wie­der wie ein klei­ner Jun­ge füh­len

  2. Avatar von Sabrina Herr via Facebook

    Ein­fach per­fekt! Ja wir sind mehr als abhängig…leider

  3. Avatar von ana hafner
    ana hafner

    Uru­gu­ay <3

  4. Avatar von Ariane Kovac

    Wow, ein wirk­lich schö­ner Bericht! Manch­mal muss man eben wirk­lich gezwun­gen wer­den, abzu­schal­ten 😉

    1. Avatar von Gitti Müller

      Aria­ne, ich wer­de mich jetzt des Öfte­ren selbst dazu zwin­gen digi­ta­le Ent­halt­sam­keit zu üben. Tut gut, aber es braucht wirk­lich Dis­zi­plin. Die Ver­su­chung doch mal ein­zu­schal­ten ist echt groß.

  5. Avatar von Anton Kürzinger via Facebook

    Tol­le Geschich­te!
    Da merkt man mal wie man von all dem Tech­nik zeugs abhän­gig ist ^^

    1. Avatar von Gitti Müller

      das stimmt! und ich dach­te ich sei es nicht (-;

  6. Avatar von Johanna
    Johanna

    So eine schö­ne Geschich­te!

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