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Buenos Aires: Vorhang auf, Film ab!

Es gibt Orte, deren Namen mehr inne­wohnt als ihre pure Bezeich­nung. Sie ver­hei­ßen etwas Magi­sches, rufen direkt Asso­zia­tio­nen her­vor. San­si­bar zum Bei­spiel. Mada­gas­kar auch. Oder Pata­go­nien. Das sind Orte, die kom­men mir fast fan­tas­tisch vor – als wären sie wie Panem oder Naboo, gar nicht real ber­eis­bar, son­dern ledig­lich Schau­plätze fik­ti­ver Aben­teuer.Bue­nos Aires genoss für mich immer ähn­li­chen Sta­tus. Die Groß­stadt, die die­sen abge­wetz­ten Begrif­fen Metro­pole und Moloch gerecht wird- weil sie hek­tisch, viel­sei­tig und nacht­ak­tiv ist. Diese ver­ruchte Diva, die sich „schöne Lüfte“ nennt, obwohl ihr unsäg­li­cher Smog einem mit­un­ter den Blick ver­ne­belt. Eine Stadt, lau­nisch wie eine arro­gante Schau­spie­le­rin- diese Asso­zia­tion gefiel mir.

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Wie bei­nahe immer in Süd­ame­rika stei­gen wir in den frühs­ten Mor­gen­stun­den nach einer (dies­mal unge­müt­li­chen) Nacht­fahrt etwas bedröp­pelt aus dem Nacht­bus. Aylins Sitz ist immer wie­der hoch­ge­klappt, das war eine Freude im Schlaf.

Fast andert­halb Jahre sind wir nun unun­ter­bro­chen gereist. Wir sind inzwi­schen rou­ti­niert, ja, fast schon sorg­los gewor­den. „Wer­den wir schon fin­den“, dach­ten wir noch am Vor­abend, als wir uns ent­schlos­sen, nicht genau zu recher­chie­ren, wie man zum Hos­tel im Stadt­teil San Telmo kommt. Eine gedul­dige ältere Dame zeigt uns, in wel­chen Bus wir stei­gen müs­sen und fügt hinzu, dass man ca. 24 Stü­cke einer gewis­sen Münze bräuchte, weil kein ande­res Zah­lungs­mit­tel akzep­tiert würde. Sol­che Eigen­hei­ten hin­ter­fra­gen wir meist nicht mehr, die Locals wis­sen schon Bescheid. Wir bege­ben uns also noch vor 6 Uhr mor­gens auf dem Bahn­hofs­ge­lände auf die Jagd nach die­sen Mün­zen. Ich pro­biere der Toi­let­ten­dame ihre paar Taler von ihrem wei­ßen Por­zel­lan­tel­ler abzu­schwat­zen. Diverse Kioske frage ich nach Wech­sel­geld und es dau­ert sagen­hafte zwan­zig Minu­ten, bis ich die pas­sende Anzahl an Münz­geld bei­sam­men­habe. Rein in den Bus und dann: der Bus­fah­rer winkt uns ein­fach durch, als ich gerade stolz meine Tasche vol­ler Mün­zen prä­sen­tie­ren möchte. Wie­der eine die­ser Kurio­si­tä­ten auf Rei­sen: in den Bus ein­stei­gen und kein Ticket kau­fen zu müs­sen. Ohne Begrün­dung oder Not, ein­fach, weil der Bus­fah­rer gerade gut drauf ist (oder kein Bock auf unsere Mün­zen hat, aber wer weiß das schon).

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Den Argen­ti­ni­ern, und im Spe­zi­el­len den Por­te­ños, wie die Ein­woh­ner von Bue­nos Aires genannt wer­den, eilt der Ruf vor­aus, arro­gant zu sein. So berich­ten uns das zumin­dest auf­fäl­lig viele Men­schen quer durch Ame­rika. Als ich ein­mal nach­frage, warum das so sei, meint ein Taxi­fah­rer in Mexiko: „Se creen Ita­lia­nos.“ (Die hal­ten sich für Ita­lie­ner). Ob das aus­reicht, um für arro­gant gehal­ten zu wer­den, sei dahin­ge­stellt. Fakt ist jedoch- das fällt bei einem Spa­zier­gang durch Bue­nos Aires sofort auf- viele Por­te­ños könn­ten optisch als Ita­lie­ner durch­ge­hen. Zufall ist das kei­ner: 90% der Bevöl­ke­rung Argen­ti­ni­ens stammt von Euro­pä­ern ab- davon die Mehr­heit von Ita­lie­nern. Aus Peru und Boli­vien kom­mend, wo die indi­gene Bevöl­ke­rung fast die Hälfte der Ein­woh­ner stellt, fällt das erst­mal auf.

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Aber was ist denn nun hän­gen­ge­blie­ben von unse­rem Auf­ent­halt in Bue­nos Aires? Ich könnte jetzt von Archi­tek­tur, Tango oder ganz all­ge­mein von „den Men­schen“ schwär­men, aber das wäre ziem­lich lang­wei­lig und kann auch im Rei­se­füh­rer nach­ge­le­sen wer­den. Daher nun ein paar eher zusam­men­hang­lose Beson­der­hei­ten, die mir in Bue­nos Aires auf­ge­fal­len sind.

Maradona oder Messi? Maradona!

Sie lie­ben ihn immer noch- über alles! Auf den Fern­se­hern in den Cafés sieht man ihn Inter­views geben oder sie zei­gen zig­mal die glei­chen, „exklu­si­ven“ ver­wa­ckel­ten Han­dy­vi­deos von Men­schen, die ihn bei irgend­ei­ner unbe­deu­ten­den Ent­glei­sung erwischt haben. Ähn­lich wie das Bild des Königs in Thai­land hän­gen oft gerahmte Bil­der von Mara­dona an den ver­schie­dens­ten Stel­len in der Stadt. In Nea­pel, wo er 7 Jahre gespielt hat, gibt es sogar den berühm­ten Mara­dona-Hei­li­gen­schrein. Wenn Argen­ti­nier nach Nea­pel kom­men, wol­len sie das Haar­bü­schel Mara­donas sehen und knien sich sogar auf den Boden. Keine Dis­kus­sion über Messi kommt ohne Mara­dona aus. Sie lie­ben Messi, aber Mara­dona war eben noch­mal was ande­res. Er hat den WM Pokal nach Argen­ti­nien gebracht, Messi nicht – so wird häu­fig argumentiert.

Für mich steht Mara­dona wie kein Ande­rer für Bue­nos Aires. Immer auf dem Draht­seil­akt zwi­schen Genie und Wahn­sinn. In der Stadt gibt es häu­fig „das beste/größte/älteste der Welt“ von irgend­ei­ner Sache. Bue­nos Aires fei­ert sich gerne selbst als das Maß der Dinge und doch beglei­tet mich stets das vage Gefühl, man habe hier schon bes­sere Tage erlebt. Dann scheint es, als betrach­ten die Por­te­ños ihre Stadt durch die rosa Brille eines Ver­lieb­ten, nicht sehend, dass die Ange­be­tete schon etwas fal­tig gewor­den ist. Diego Mara­dona sieht inzwi­schen aus wie ein auf­ge­bla­se­ner Kugel­fisch, der bald platzt, so straff ist seine Haut gelif­tet. Viel­leicht soll auch für ihn immer 1986 bleiben.

Sie haben ihm viele Eska­pa­den und Fehl­tritte ver­zie­hen, weil sie so unend­lich stolz auf ihn sind. Und irgend­wie passt die Geschichte von der „Hand Got­tes“ wun­der­bar zu die­ser Stadt. Man deu­tet hier und da Tat­sa­chen char­mant um und schon ist so manch halb­sei­de­ne­nes Unter­fan­gen reingewaschen.

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Die teilnahmslosen Tischabwischer

Bue­nos Aires ist das Zen­trum der argen­ti­ni­schen Film­in­dus­trie. Doch man könnte auch das reale Trei­ben in der Stadt auf­zeich­nen, so film­reif wird es bis­wei­len vor­ge­tra­gen: wir beob­ach­ten gestan­dene Män­ner im Anzug, die sich minu­ten­lang laut­hals auf der Straße strei­ten, so affek­tiv und wür­de­voll, wie man das bes­ten­falls aus dem Thea­ter kennt. Tanz­paare, in Make-up und Abend­kleid, fin­den sich zum Tanz auf offe­ner Straße ein. Die adret­ten Kell­ner in den Cafés wir­ken wie Schau­spie­ler, die die glei­chen Ges­ten immerzu wie­der­ho­len, als prob­ten sie für die große Rolle. Vor allem das gelang­weilte, teil­nahms­lose Abwi­schen des Tisches, dabei ohne Blick­kon­takt die Bestel­lung auf­neh­mend, wird immer wie­der neu auf­ge­führt. Man sieht den Por­te­ños ein­fach gerne zu, selbst wenn sie all­täg­li­chen Din­gen nach­ge­hen. Sie ver­sprü­hen Eifer, über­be­to­nen Ges­ten und tan­zen gerne auf dem sei­de­nen Faden zwi­schen selbst­be­wusst und arro­gant. Man könnte sagen, es sind viele Men­schen „mit Pro­fil“ unter den Por­te­ños- was mir durch­aus sym­pa­thisch ist. Auch die argen­ti­ni­sche Vari­ante des Spa­ni­schen, oft als „die Häss­lichste der Welt“ bezeich­net, klingt für mich ein­fach ziem­lich cool.

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Piropos picantes

Schmei­che­leien und Kom­pli­mente. So könnte man die Piro­pos offi­zi­ell über­set­zen. In Wirk­lich­keit han­delt es sich um ziem­lich anzüg­li­che Kom­men­tare, die Män­ner aus­sto­ßen, wenn eine halb­wegs attrak­tive Frau ihr Blick­feld kreuzt. Vom Niveau her ver­gleich­bar mit die­sen unsäg­li­chen Bag­ger­sprü­chen, die in Deutsch­land höchs­tens von denen, die nichts mehr zu ver­lie­ren haben, zu vor­ge­rück­ter Stunde in Groß­raum­dis­kos auf­ge­sagt werden.

In Argen­ti­nien gel­ten umge­kehrte Vor­zei­chen: Piro­pos sind gesell­schaft­li­che Kon­ven­tion. Ein Mann, der einer Frau einen zwei­deu­ti­gen Kom­men­tar zuruft, gilt also als gut erzo­gen. Es ist für beide Sei­ten wie­derum beschä­mend, wenn eine Begeg­nung zwi­schen den Geschlech­tern unkom­men­tiert bleibt: einer Frau würde die Attrak­ti­vi­tät abge­spro­chen und von einem ech­ten Mann wird erwar­tet, dass er sei­ner Lei­den­schaft Aus­druck zu ver­lei­hen weiß. Es soll schon vor­ge­kom­men sein, dass argen­ti­ni­sche Aus­wan­de­rin­nen in ihr Hei­mat­land zurück­kehr­ten, weil sie auf­grund der aus­blei­ben­den Piro­pos ernst­haft ihre Attrak­ti­vi­tät in Frage stell­ten- so erzählt man sich das zumin­dest auf den Stra­ßen von Bue­nos Aires.

Bue­nos Aires ist schwer greif­bar. Man wird als Besu­cher das Gefühl nicht los, es exis­tie­ren viele schwer zugäng­li­che Sub­kul­tu­ren und Par­al­lel­wel­ten. Die alternde Diva hat eben viele Gesich­ter und genau das macht sie so anzie­hend. Sie ver­sinkt manch­mal in Selbst­mit­leid, schlägt gele­gent­lich über die Stränge, aber eins muss man ihr las­sen – sie per­formt immer noch oscar­reif. Ich bin ein treuer Fan.

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Cate­go­riesArgen­ti­nien
Aylin & Stefan Krieger

Aylin & Stefan waren mal 1,5 Jahre auf Weltreise. Das reicht ihnen aber nicht. Stefan sucht Abenteuer. Aylin liebt die Freiheit unterwegs. Darum zieht es sie immer wieder raus in die weite und nahe Welt. Ihre Sicht der Dinge gibt es dann auf Today We Travel. In Wort & Bild. Subjektiv. Ehrlich.

  1. trine says:

    abso­lut groß­ar­tig geschrie­ben. hab da flair rich­tig gespürt und herz­lich über die münz­ak­tion gelacht.
    Wir sind im märz da. ich bin rat­los in wel­chem viertel/hostel wir woh­nen sollen.
    hast du einen tipp?
    lg

    1. Stefan says:

      Hey Trine,

      vie­len Dank, ich musste gerade auch noch­mal schmun­zeln, als ich an diese Münz­ak­tion gedacht habe :)

      Wir haben ja in San Telmo gewohnt – kann ich auch echt emp­feh­len. Da ist rich­tig was los, es gibt sehr viele Cafés, Restau­rants und auch die güns­tigs­ten Unter­künfte. Wir hat­ten uns im „Hotel Carly“ ein­quar­tiert, was wirk­lich das güns­tigste in ganz BA war. Es war recht laut, man musste einen lan­gen Gang ent­lang lau­fen um ins Bade­zim­mer zu kom­men und einige Lang­zeit­be­woh­ner waren etwas skurril…Gefallen hat es uns trotz­dem, die Mit­ar­bei­ter sind sehr nett. Kann ich es emp­feh­len? Jooo­aaaaii­innn. Ist halt Geschmacksache ;)

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  4. RISA says:

    Ein sehr schö­ner Blog über die Beson­der­hei­ten von Bue­nos Aires! Was mir auch häu­fig auf­fällt ist, dass viele Ein­woh­ner auf offe­ner Strasse mit ihrem Mate Tee her­um­spa­zie­ren. Ob in der U‑Bahn, beim War­ten auf den Bus oder auch nur vor der eige­nen Haus­tür am Boden sit­zend – Das Natio­nal­ge­tränk Argen­ti­ni­ens trefft ihr überall. 

    Oft sagt man übri­gens, Argen­ti­nier seien Ita­lie­ner, die Spa­nisch spre­chen, sich wie Fran­zo­sen klei­den und gerne Eng­län­der wären. ;-)

    1. Stefan says:

      Man könnte diese Liste der Beson­der­hei­ten in Argen­ti­nien wohl ewig fortführen!

      Die Zere­mo­nie des gemein­sa­men Mate-Trin­kens folgt ja auch ganz bestimm­ten Regeln. Eins habe ich gelernt: solange man sei­nen lee­ren Mate immer wie­der an den Zere­mo­nien­meis­ter zurück­gibt, wird er immer wie­der aufgefüllt :)

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