Brighton sehen und träumen

Auf dem Platz vor der Biblio­thek steht ein manns­ho­her Qua­der. „Befo­re I die …“ prangt in gro­ßen Let­tern weiß auf schwarz an allen vier Wän­den. Dar­un­ter haben Pas­san­ten mit Krei­de ihre Träu­me fest­ge­hal­ten. Lang geheg­te, immer wie­der ver­scho­be­ne, abs­trak­te und kon­kre­te – die Din­ge, die sie unbe­dingt erle­ben wol­len, bevor sie ster­ben. „Befo­re I die I want to …“, fängt jede Zei­le an, „tra­vel to Chi­na“, steht dahin­ter zum Bei­spiel oder „apo­lo­gi­se to my sis­ter“. „Embrace every hap­py moment“ hat jemand zwi­schen zwei Bei­trä­ge gequetscht, jemand ande­res ein­fach nur „live“. Es rührt mich, die Her­zens­wün­sche frem­der Men­schen zu lesen.

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Ich bin mit einem Freund in Brigh­ton und der Qua­der am Jubi­lee Squa­re ist Kunst. Die Instal­la­ti­on von Can­dy Chang, die wir bei unse­rem ers­ten Stadt­bum­mel ent­de­cken, ist ein Über­bleib­sel des SICK-Fes­ti­vals, das wir knapp ver­passt haben. Fes­ti­vals gibt es in Brigh­ton vie­le, die Küs­ten­stadt im Süden Eng­lands ist berühmt für ihre ste­tig wach­sen­de krea­ti­ve Sze­ne. Kunst wird uns in ihren Stra­ßen noch öfter begeg­nen. Doch erst ein­mal zieht es uns ans Meer.

Der West Pier in Brighton: (k)ein Kunstwerk

Das ist im Son­nen­licht erstaun­lich tür­kis und der Strand­sand von Wei­tem erstaun­lich hell. Moment, Strand­sand? Nein. Hier lie­gen Stei­ne, teils faust­gro­ße graue und blass­gel­be Stei­ne. Am Ufer schiebt das Was­ser sie mit viel Getö­se vor und zurück, bei jedem Schritt knir­schen sie unter unse­ren Schu­hen.

Im Meer, viel­leicht 200 Meter von hier, steht noch ein Kunst­werk. Nur dass es kei­nes ist. Wir bli­cken auf den West Pier, viel­mehr auf das, was von ihm übrig­blieb.

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1866 erbaut, war die See­brü­cke in ihren ers­ten Jahr­zehn­ten ein Magnet für betuch­te Tou­ris­ten. Einen Pavil­lon gab es hier und einen pom­pö­sen Kon­zert­saal. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg ver­lor der West Pier an Popu­la­ri­tät, sein Erhalt wur­de zu teu­er, er ver­fiel nach und nach.

Schon längst hät­te er restau­riert wer­den sol­len. Bis zuletzt gab es Plä­ne, ihn eines Tages wie­der in Betrieb zu neh­men. Eigent­lich.

Jahr­zehn­te­lang pas­sier­te nichts, bis die Brü­cke nach einer Sturm­flut 2002 zusam­men­brach und zwei Brän­de sie im Jahr dar­auf voll­stän­dig zer­stör­ten. Seit­dem steht nur noch ein ros­ti­ges Metall­ge­rip­pe im Meer. Wel­len umspü­len die zer­bro­che­nen Stre­ben.

Der Brighton Pier: ein Vergnügungspark

Zer­streu­ung gibt es neben­an, auf dem Brigh­ton Pier – der erhal­te­nen See­brü­cke, die zu unse­rer Lin­ken in den Atlan­tik ragt. Wir nähern uns ihr über die Strand­pro­me­na­de, lau­fen an schnie­ken Sea­food-Restau­rants, Eis-Stän­den und „Fish and Chips“-Buden vor­bei. Jetzt, Ende März, hat die Son­ne schon Kraft, aber wär­mer als 15 Grad wird es nicht. Das ist vie­len hier Som­mer genug: Ver­käu­fer ste­hen in T‑Shirts vor ihren Läden, Pär­chen kom­men uns in dün­nen Klei­dern, kur­zen Hosen und Flip-Flops ent­ge­gen.

Der Brigh­ton Pier ist ein Ver­gnü­gungs­park mit einer Spiel­hal­le, Zucker­wat­te­bu­den und Fahr­ge­schäf­ten. „Par­ty-Alarm!“, ruft eine Stim­me vom Band, wann immer sich eines der Karus­sells auf der Platt­form am Ende des Stegs in Bewe­gung setzt. Danach wehen Fet­zen von Tina Tur­ners „Sim­ply the best“ zu uns her­über.

Sim­ply the best fin­de ich die blau-weiß-gestreif­ten Lie­ge­stüh­le, die gesta­pelt in der Mit­te der Brü­cke zur kos­ten­frei­en Nut­zung für Besu­cher bereit­ste­hen. In einem von ihnen leh­ne ich mich zurück, schlie­ße die Augen und spü­re die Son­nen­wär­me auf den Lidern. Ich kann die Möwen hören, die von den Later­nen links und rechts von uns her­un­ter­schrei­en. Und die Fra­gen, die in mir immer lau­ter wer­den.

„Was hät­te ich über­haupt an die­sen Qua­der geschrie­ben? Was will ich eigent­lich in die­sem Leben, was muss ich noch sehen, was noch füh­len, was ganz unbe­dingt fer­tig­brin­gen, bevor es zu spät ist?“

North Laine: Hier hat Banksy sich verewigt

Spä­ter schlen­dern wir durch North Lai­ne, Brigh­tons alter­na­ti­ves Vier­tel. So bunt sind sonst nur die Strand­hüt­ten in der ein­ge­mein­de­ten Stadt Hove: In Knall­far­ben ste­hen sie dort in Reih und Glied auf dem Asphalt und heben sich von den mon­dä­nen beige­far­be­nen Haus­fas­sa­den hin­ter ihnen ab.

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In North Lai­ne säu­men klei­ne Shops mit detail­ver­lieb­ter Deko die Stra­ßen: ein Gitar­ren­ge­schäft mit auf­ge­spray­tem Jim­my Hen­drix, ein Fahr­rad­la­den mit Retro-Draht­esel überm Ein­gang, ein Come­dy-Thea­ter, auf des­sen Vor­dach ein Plas­tik-Pin-Up-Girl einen Schuh vom rot-weiß-bestrumpf­ten Bein schleu­dert. Zwi­schen Platten‑, Buch- und Vin­ta­ge-Läden fin­den sich etli­che Pubs und Restau­rants mit inter­na­tio­na­ler Küche, vor­zugs­wei­se vege­ta­risch.

Was es hier außer­dem gibt? Eso­te­rik­ge­schäf­te. „Psy­chic Rea­dings“ wirbt ein Auf­stel­ler vor einem die­ser Läden. Fast gebe ich mei­ner Neu­gier nach, mir von einem Medi­um die Zukunft vor­her­se­hen zu las­sen. Und dann beschlie­ße ich, mei­ne Ant­wor­ten doch lie­ber selbst zu fin­den.

Wir bie­gen ab in die Ken­sing­ton Street, wo Gra­fit­ti die Rück­sei­ten meh­re­rer Wohn­häu­ser schmü­cken. Unweit von hier, in der Nähe des Bahn­hofs, hat auch Bank­sy sich ver­ewigt: 2004 brach­te er sei­ne „Kis­sing Cop­pers“ an die Wand des Prin­ce Albert Pubs. Gespray­te Por­träts bedeut­sa­mer Musi­ker, von Elvis über Bob Mar­ley bis Amy Wine­house, umge­ben die sich küs­sen­den Poli­zis­ten an ihrem unschein­ba­ren Platz ganz unten neben einer Müll­ton­ne. Vor eini­gen Jah­ren wur­de das Kunst­werk durch ein Repli­kat ersetzt und mit einer Ple­xi­glas­schei­be ver­se­hen. Das Ori­gi­nal hat jemand bei einer Akti­on in Miami erstei­gert – für 575.000 Dol­lar. Und mit ein paar Aus­bes­se­run­gen des Pub-Per­so­nals, wie ich spä­ter lese: Das leg­te beherzt Hand an, nach­dem das Graf­fi­to beschä­digt wor­den war.

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An unse­rem letz­ten Tag lau­fen wir durch die Lanes – klei­ne Gas­sen im Zen­trum, in denen sich Schmuck­lä­den, Tee­stu­ben und Pubs anein­an­der­rei­hen. In einem der Geschäf­te gibt es nichts als Fudge, die typisch eng­li­sche Kara­mell­spe­zia­li­tät. Wir neh­men ein paar Rie­gel in den Sor­ten Wei­ße Scho­ko­la­de, Erd­nuss­but­ter und Nou­gat mit.

Am Jubi­lee Squa­re wird der Qua­der mit den Her­zens­wün­schen gera­de abge­baut, als wir vor­über­ge­hen. Zu spät, den­ke ich.

In der Ferne steht der West Pier wie ein Mahnmal

Noch ein­mal sit­zen wir in Lie­ge­stüh­len auf dem Brigh­ton Pier und schau­en aufs Meer. Quietsch­süß sind die Fudge-Rie­gel, wir haben schon nach jeweils einem Bis­sen genug. In der Fer­ne steht das Metall­ske­lett des West Piers wie ein Mahn­mal für einen nicht erfüll­ten Traum.

Bevor ich ster­be, möch­te ich ech­te Lie­be fin­den. Mehr rei­sen, mehr schrei­ben, viel­leicht ein Buch irgend­wann. Und noch viel, viel öfter ans Meer fah­ren.

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Vie­len Dank an Visit Brigh­ton und easy Jet für die Ein­la­dung nach Brigh­ton.

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