Sehr viele Sterne

Bolivien, August 2011.

Wir müssen früh aufstehen. Sehr früh: Es ist drei, als ich von der alten Frau geweckt werde. Im Halbschlaf putze ich mir provisorisch die Zähne, suche dann meine Sachen zusammen und stopfe alles in den Rucksack. Mit dem Handy leuchte ich nochmals jede Ecke ab, um sicherzugehen, dass ich nichts vergessen habe. Dann verlasse ich das kleine Haus, trete in die kühle Nacht hinaus. Das afrobolivianische Ehepaar, bei dem ich ein paar Tage verbracht habe, wartet schon auf mich. Im Schein der Taschenlampe machen wir uns auf den Weg. Es ist nicht weit bis zur Straße, der Hund begleitet uns. Die alte Frau packt mich am Arm, sagt mir, ich solle aufpassen, dass ich nicht hinfalle. Langsam tasten wir uns den Schotterweg hinab, bis wir an eine kleine Kreuzung kommen. Dort setzen wir uns an den Straßenrand und beginnen zu warten.

Um von dem Dorf in die 30 Kilometer entfernten Nachbarstadt zu gelangen, muss man mit dem Taxi fahren – Autos verirren sich aber nur selten in diese versteckte Ecke der bolivianischen Anden. Jeden Samstag machen sich die Bewohner des Dorfes dennoch auf den Weg in die Stadt, um auf dem kleinen Markt einkaufen zu gehen. Um früh genug dort zu sein, müssen sie zeitig aufstehen, auf ein vorbeikommendes Auto warten und hoffen, dass darin noch Plätze frei sind.

Wir warten lange. Sicher eine Stunde. Zwei oder drei Minibusse kommen vorbei, die Meisten sind bis auf den letzten Platz besetzt. Ich sitze neben dem afrobolivianischen Ehepaar am Straßenrand. Die Nacht ist schön, der Himmel voller Sterne. Nie zuvor habe ich so viele Sterne auf einmal gesehen und sie wirken größer als in meiner Heimat. Der Vollmond beleuchtet unsere kleine Straßenkreuzung. An diesem Samstag hat mein Bruder Geburtstag und ich schicke ihm eine SMS ins entfernte Europa, um zu gratulieren. Dann endlich kommt ein Auto, das noch Plätze frei hat. Schnell packen wir unsere Sachen, laufen hin, quetschen uns zu den Leuten, die früher eingestiegen sind. Eine halbe Stunde später verabschiede ich mich vom alten Ehepaar. Ich fahre zurück in die Hauptstadt des Landes, am nächsten Tag geht mein Flug nach Mexiko.

Wochen später bin ich wieder in Europa. Oft sitze ich am Fluss, der meine Heimatstadt durchquert, denke nach. Die Zeit in dem kleinen bolivianischen Dorf hat mich beeindruckt. Ich schaue in den nächtlichen Himmel. Fünf Sterne zähle ich, der Rest ist vom Lichtsmog verdeckt. Das afrobolivianische Ehepaar besitzt nicht viel, denke ich. Zumindest aber haben sie dort sehr viele Sterne und die Menschen scheinen glücklicher zu sein, als hier in meiner europäischen Stadt.

100 Sterne und der Mond.

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