Bewaffnete Schatten

Vie­les hat­te ich über die­se Stadt gehört, alle hat­ten mich gewarnt. Vor allem jene, die hier auf­ge­wach­sen waren, trich­ter­ten mir ein, ich soll­te auf mich auf­pas­sen, die Stadt wäre nicht zu ver­glei­chen mit ande­ren latein­ame­ri­ka­ni­schen Groß­städ­ten. Und hier stand ich nun, am Fens­ter der klei­nen Woh­nung in einem nörd­li­chen Stadt­teil, der eigent­lich als ruhig gilt.

Ich hat­te nicht das Gefühl, in die­ser Stadt son­der­lich gro­ßen Gefah­ren aus­ge­setzt zu sein. Zwar rufen mir die Bra­si­lia­ner auf der Stra­ße immer wie­der “Gringa”, also “Aus­län­de­rin”, nach, doch die Men­schen klam­mern ihre Taschen und Ruck­sä­cke nicht so sehr fest, wie anders­wo. Vor allem im Ver­gleich zu Bue­nos Aires wirkt Rio de Janei­ro irgend­wie weni­ger gefähr­lich auf mich. Viel­leicht, weil die wirk­li­chen Gefah­ren hier plötz­lich auf­tau­chen und oft mit Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen Poli­zei und Dro­gen­ban­den zu tun haben. Doch denen füh­le ich mich hier an mei­nem Fens­ter mit Aus­blick auf einen Wohn­kom­plex rela­tiv fern.

Es ist kurz vor neun Uhr abends, die Fuß­ball-Welt­meis­ter­schaft in vol­lem Gan­ge und Bra­si­li­en noch nicht aus­ge­schie­den. Ich bin erst zwei Wochen im Land, habe mas­si­ve Pro­ble­me mit der por­tu­gie­si­schen Spra­che, die mir irgend­wie unge­heu­er­lich erscheint und der ich mich nur lang­sam annä­he­re. An die­sem Abend habe ich mich mit einem Bekann­ten ver­ab­re­det, der gut Eng­lisch spricht. Ein biss­chen Erho­lung für mei­nen Kopf, der stän­dig ver­sucht, all die neu­en Ein­drü­cke zu ver­ste­hen und in irgend­wel­che Schub­la­den ein­zu­ord­nen.

Wäh­rend ich war­te, ste­he ich am Fens­ter und rau­che eine Ziga­ret­te. Mein Bekann­ter wird mich gemein­sam mit einem Freund mit dem Auto abho­len. Sie wol­len ver­mei­den, dass ich mich um die­se Uhr­zeit im Bus­dschun­gel ver­ir­re. Ich bin allei­ne zu Hau­se, mein Mit­be­woh­ner ist für meh­re­re Tage wegen sei­ner Arbeit unter­wegs. Die Minu­ten ver­strei­chen und ich beob­ach­te die Sze­nen vor mei­nem Fens­ter. Gegen­über star­ren mich unzäh­li­ge Fens­ter an, man­che mit Licht, ande­re ohne. Hin­ter den hohen Gebäu­den zei­gen sich die Umris­se eines klei­nen Hügels. Wenn ich nach rechts schaue, erha­sche ich einen Blick auf die Stra­ße, auf der mei­ne Freun­de auf­tau­chen soll­ten. Abends spielt sich dort das gan­ze Leben ab. Klei­ne Imbiss­stän­de öff­nen ihre Läden und ver­kau­fen den Bewoh­nern der Stra­ße Ham­bur­ger und Chur­ras­co. Direkt vor mei­nem Haus ist auch so ein Stand.

Doch der Blick auf die Stra­ße lässt mich plötz­lich stut­zig wer­den. Irgend­et­was ist heu­te anders. Die Frau, die nor­ma­ler­wei­se im grel­len Lichr der Lam­pe Fleisch grillt, ist nicht zu sehen. Auch ihre Kun­den, die den Imbiss nor­ma­ler­wei­se bela­gern, sind ver­schwun­den. Ein son­der­ba­rer Schat­ten zieht mei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich: Es ist der Umriss eines Man­nes, der sich etwas aus der Kühl­tru­he neben dem Stand nimmt. Ich wun­de­re mich, als mir plötz­lich bewusst wird, dass die­ser Schat­ten einen läng­li­chen Gegen­stand in der Hand hält. Mein Kopf braucht eine Zeit, um zu ver­ste­hen: das ist ein Gewehr!

Plötz­lich wir­beln mei­ne Gedan­ken wie wild her­um. Im Hin­ter­grund sehe ich noch mehr sol­cher Schat­ten, alle mit schwe­ren Waf­fen in den Hän­den, die sie Rich­tung Stra­ßen­ein­fahrt hal­ten. Dann ver­irrt sich mein Blick auf die klei­ne Wohn­sied­lung, die auf der ande­ren Sei­te der Stra­ße einen Hügel hin­auf­klet­tert. Im fah­len der Licht der Later­nen bewe­gen sich drei Per­so­nen auf die Stra­ße zu, die in der Mit­te hum­pelt, wird von den ande­ren bei­den gestützt.

Mir ist nicht wirk­lich klar, was hier vor mei­nem Haus vor sich geht. Wie ein klei­ner Robo­ter grei­fe ich zu mei­nem Han­dy und set­ze eine SMS an mei­nen Bekann­ten ab: “Hier sind bewaff­ne­te Män­ner vor dem Haus, kommt nicht, ich weiß nicht, was da los ist.” Ich habe Angst, dass mei­ne Freun­de genau dann mit dem Auto in die Wohn­stra­ße ein­bie­gen, wenn eine Schie­ße­rei vom Zaun bricht. Ich mer­ke, dass die­se Sze­ne auch in man­chen der Woh­nun­gen gegen­über nicht unent­deckt geblie­ben ist. Lich­ter gehen an und aus, immer mehr Men­schen drän­gen ihre dunk­len Köp­fe an die Fens­ter, reden auf­ge­regt mit­ein­an­der. Ich habe nie­man­den, mit dem ich reden kann. Ein­zig die Ant­wort, die ich auf mei­ne SMS bekom­me, lenkt mich kurz ab: “Mach dir kei­ne Sor­gen, wir che­cken das mal ab.” Die bei­den müs­sen wis­sen, was sie tun, immer­hin sind sie hier auf­ge­wach­sen.

Nach weni­gen Minu­ten ist die Sze­ne so schnell, wie sie gekom­men war, auch wie­der vor­bei. Zwei Autos fah­ren vor, die bewaff­ne­ten Män­ner stei­gen ein und rau­schen davon, fort aus mei­nem Blick­feld. Nach einer Wei­le füllt sich die Stra­ße wie­der mit dem übli­chen Nacht­le­ben. Nur der Imbiss­stand vor mei­nem Haus macht zu. Eilig packt die Ver­käu­fe­rin ihre Waren ein und schließt den klei­nen Wagen. Sie hat für heu­te wohl genug. Als ich bei mei­nen Freun­den im Auto sit­ze, sagen sie mir, sie hät­ten nichts unge­wöhn­li­ches gese­hen. Es wäre aber auch nicht das ers­te Mal, dass sie so etwas erleb­ten, schließ­lich wären sie am Rand einer der berüch­tigs­ten Fave­las in ganz Rio de Janei­ro groß gewor­den.

Nach die­sem Abend habe ich nie wie­der bewaff­ne­te Schat­ten in mei­ner Stra­ße gese­hen. Spä­ter soll­te ich erfah­ren, dass sich hin­ter dem Hügel mit der Wohn­sied­lung eine Fave­la befin­det, die bis­her nicht befrie­det wur­de, das heißt, in der noch immer die Dro­gen­ban­den das Leben kon­trol­lie­ren. Einer der Kri­mi­nel­len wäre wohl bei einer Schie­ße­rei ver­letzt wor­den, sagt man in mei­ner Stra­ße. Und er hät­te es irgend­wie geschafft, über die Sied­lung zu flie­hen und sei­ne Freun­de hät­ten ihn weg­ge­bracht, viel­leicht in ein Kran­ken­haus, wo sie die Ärt­ze mit vor­ge­hal­te­nen Waf­fen zwin­gen, sich um den Ver­letz­ten zu küm­mern.

Trotz die­ses son­der­ba­ren Erleb­nis­ses füh­le ich mich nicht unsi­cher. Vor allem nicht in mei­nem Vier­tel, denn es ist nach wie vor rela­tiv ruhig. Doch eines ist gewiss: Wer hier zur fal­schen Zeit am fal­schen Ort ist, könn­te in Din­ge ver­wi­ckelt wer­den, die ihn in Wahr­heit nicht betref­fen. Das ist die Gefahr, die von die­ser Stadt aus­geht.

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