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Auf der Suche nach Maradona

Maradona

Die­go ließ Träu­me wahr wer­den. Er war Mes­si­as und Trick­ser, ein Revo­lu­tio­när. Ein gefal­le­ner Engel. Ich hat­te ihn spie­len sehen. Wie er im Bre­mer Weser­sta­di­on über den Rasen schweb­te und jon­glier­te, kei­ne hun­dert Meter von der Steh­tri­bü­ne, wur­de Zeu­ge, wie sei­ne blaue Napo­li eins zu fünf unter­ging. Und wie er trotz­dem tri­um­phier­te: in sei­ner Eigen­schaft als ball­be­zau­bern­de Epi­pha­nie. Wir wür­den gehen müs­sen, Die­go blei­ben. Dann hat­ten sie ihm Doping ange­hängt. Brauch­te Gott denn Dro­gen? Bei Durch­sicht sei­ner Akte auch Ver­mer­ke unter Camor­ra, Finanz­amt und Koks. Egal, einen Mata­dor woll­ten die Leu­te. In Nea­pel lie­ben sie ihn. Am blau­en Tor zum »Sta­dio Cen­tro Paradi­so« hän­gen die Pan­ni­ni-Bil­der, Pos­ter und Schals wie an einem japa­ni­schen Schrein. Nie machen, was die ande­ren erwar­ten. Das war Die­go. Es hieß, Mara­dona wür­de in jenem Som­mer in Nea­pel sein. Heim­keh­ren. Also fuhr ich los.

Bre­men, Som­mer 1999. Ich woll­te sehen, ob ich es nach Nea­pel schaff­te. Der Zug nach Ams­ter­dam stand schon am Bahn­steig. Über die ISDN-Lei­tung war ich ins Inter­net gegan­gen, hat­te im Net­scape-Navi­ga­tor das Amt­li­che Kurs­buch der Deut­schen Bahn auf­ge­ru­fen, Zug­num­mer und Abfahrts­zeit schrieb ich auf einen gel­ben Haft­no­tiz­zet­tel der auf mei­nem Rei­se­pass kleb­te. Vor dem Haupt­bahn­hof nahm ich eine Abschieds-Thü­rin­ger vom Rost. »Nach Nea­pel, ja?«, frag­te der Beam­te. Um mir dann am Fahr­kar­ten­schal­ter mei­nen Inter­rail-Pass samt Kauf­be­leg aus­zu­dru­cken und aus­zu­hän­di­gen, hier bit­te noch den Namen ein­tra­gen, gute Fahrt. In das kol­lek­ti­ve Gedächt­nis der Repu­blik hat­te sich ein fau­len­des Deutsch­land ein­ge­brannt: 16 Jah­re Kohl, Schrö­der woll­te jetzt »da rein«, Ehren­wort. Es gab Reform­stau und Bil­dungs­mi­se­re, Human­ka­pi­tal und Wohl­stands­müll. Ein Ruck müs­se durch Deutsch­land gehen. Die Nuller­jah­re schwel­ten schon am Hori­zont. Am Arbeits­platz galt erst­mals Rauch­ver­bot. Plötz­lich gab es Volks­ak­ti­en und Dot­com, Busi­ness-Angel und Tech­no­lo­gie-Evan­ge­lis­ten. Es wur­de pro­fit­ma­xi­miert, Con­tent gene­riert und die Cash-Burn-Rate opti­miert. Fle­xi­bi­li­tät, Mobi­li­tät – bloß kein Poten­zi­al ver­schen­ken. Die Spar­kas­se hat­te jetzt Bro­ker, die einem EM.TV ins Depot leg­ten. Man­fred Krug riet T‑Online zu zeich­nen. Und Gün­ther Jauch? Der frag­te fort­an bei RTL: Wer wird Mil­lio­när?

Vor Kur­zem hat­te ich mein ers­tes Bukow­ski-Buch gele­sen und eine aller­ers­te E‑Mail ver­sen­det. Nun schrieb ich mich an der Uni ein. Ob dies die Bil­dungs­mi­se­re been­den oder ver­schär­fen wür­de war unge­wiss. Gewiss war, ich wür­de nicht wochen­täg­lich in einem nüch­ter­nen Groß­raum-Büro »am Platz sein« müs­sen. So blie­ben aus­gie­bi­ge Semes­ter­fe­ri­en: Raus, die Welt bestau­nen.

Von Ams­ter­dam wei­ter nach Paris. Im Abteil war mein Blick auf die Fran­zö­sin am Fens­ter gefal­len, auf den cin­dy­craw­ford­ar­ti­gen Leber­fleck über ihrer Lip­pe und das Köf­fer­chen unter ihrem Sitz. Die gesam­te Zeit woll­te ich sie anspre­chen. Wer sich so beweg­te, so duf­te­te, wor­auf sprach man so jeman­den an. Ich gaff­te blöd, so muss es aus­ge­se­hen haben. Mein Herz klopf­te. Und dann waren wir schon am Gare du Nord. Beim Aus­stei­gen lach­te sie, um mich dann gleich um ein paar Franc anzu­pum­pen. Sie erin­ner­te mich dar­an, dass wir in der Fer­ne frei­gie­bi­ger sind, nobler als wir es sonst jemals ver­moch­ten. Wenn mir unter­wegs das Geld aus­ging, dach­te ich, konn­te ich immer noch mei­ne Bücher ver­kau­fen. Das wür­de mir eini­gen Auf­schub brin­gen. Gol­dings »Herr der Flie­gen« zum Bei­spiel, den hat­te ich schon ein paar Mal gele­sen, den Band konn­te ich reue­los abtre­ten. Wenn ich es recht bedach­te, muss­te ich nur etwas zum Essen auf­trei­ben. Mein Inter­rail-Pass wür­de mich bis nach Nea­pel brin­gen. Und zurück. Schla­fen konn­te man immer irgend­wo. Der Rest war leben.

Kannst mit mir kom­men, sag­te sie. Und ich hielt dem Blick ihrer end­los gro­ßen Augen stand. Sie war Tän­ze­rin in Ams­ter­dam, tanz­te in den Grach­ten von De Wal­len, nun pro­bier­te sie ihr Glück in einer der Bars rund um Pigal­le. Willst mich mal sehen, frag­te sie, und sie frag­te im sel­ben bei­läu­fi­gen Ton­fall wie die Kell­ner im Café. Sie war das Auf­re­gends­te, was ich jemals sehen wür­de, dach­te ich damals. Was war bloß in ihrem Köf­fer­chen? Alles was sie tat, wirk­te mühe­los, wür­de­voll, ver­dor­ben. Aus mei­nem Bauch­na­bel kann man Sekt trin­ken, sag­te sie noch. Und der Satz und sie und ich hin­gen zusam­men in der Luft her­um, denn ich ver­stand nicht recht, was war jetzt zu tun? Viel­leicht war nichts zu tun. Sie ver­ab­schie­de­te sich mit einem flie­gen­den Kuss. Und ich erin­ne­re noch, dass sie ihre Gau­loi­ses paff­te wie eine Gei­sha.

Der Cam­ping­platz lag auf einem Hügel. Ich schlief auf dem stau­bi­gen Boden vor mei­nem Zelt. Lag auf dem Rücken und konn­te den Him­mel sehen und einen Pini­en­baum. Ich las in Heming­ways »Paris, ein Fest fürs Leben« und ärger­te mich, dass ich nicht einen wei­te­ren Band Heming­way in den Ruck­sack gesteckt hat­te. Mor­gens klopf­te ich den Staub von der Hose, um anschlie­ßend mit der Metro zu fah­ren. Es waren ver­rück­te Som­mer­ta­ge, die Näch­te tro­pisch. Die Wein­fla­sche lag im Staub. 

Jeden Tag spa­zier­te ich zur Place de Vos­ges, um dort im Gras zu sit­zen, um das Trei­ben der Leu­te zu beob­ach­ten. Unter den Arka­den kauf­te ich mir eine Müt­ze und blick­te nach Osten, auf die son­nen­un­ter­gangs­ge­tränk­ten Fas­sa­den. Bei den ame­ri­ka­ni­schen Schrift­stel­lern war Paris immer grau. »Es gibt kei­ne Tätig­keit, die einen mehr in Anspruch nimmt, als das Nichts­tun in einer neu­en, unbe­kann­ten Welt«, schrieb Nico­las Bou­vier.

Die Schön­heit von Paris war schwer zu ertra­gen. Die­se unver­schämt ver­schwen­de­ri­sche Ein­heit, die aus­schwei­fen­de Har­mo­nie. In Paris hat­te man immer­zu das Gefühl, die Stadt mit den alten Meis­tern zu tei­len, den Künst­lern, den Malern, den Schrift­stel­lern, als sei­en sie noch zuge­gen, als wür­de man ihnen an der nächs­ten Ecke begeg­nen, wenn sie gera­de unver­se­hens aus einer der Türen tra­ten. Und doch frag­te ich mich, ob hin­ter den Fas­sa­den etwas war, ob es dort noch etwas gab, das nicht eta­bliert war.

Den Rest mei­ner Zeit ver­schleu­der­te ich mit dem Gehen. Ziel­los durch die Stadt. Durch die uner­schöpf­li­chen, mir namen­lo­sen Stra­ßen. Wie­der eine unbe­kann­te Sei­ten­gas­se zuta­ge för­dern. Zuerst war es eine her­vor­ra­gen­de Art das Metro­ti­cket zu spa­ren. So blick­te ich heim­lich in frem­de Innen­hö­fe, über­quer­te Bou­le­vards und durch­streif­te das Quar­tier der Schwar­zen und Ara­ber in Bar­bés, wo es fri­sches ara­bi­sches Brot gab. Jeden Tag aß ich eines.

In der Nacht streun­te ich in Mont­mart­re zwi­schen Place Clichy, Moulin Rouge und Pigal­le. Die Hüt­chen­spie­ler und lau­ern­den Hals­ab­schnei­der, die Tän­ze­rin­nen und par­fü­mier­ten Pro­sti­tu­ier­ten, die Neu­ro­ti­ker der Stadt taten ihre Schicht. Immer ent­wi­ckel­te die Nacht ihr eige­nes Pro­gramm. Was zu Hau­se absto­ßend, unwür­dig war – beim Rei­sen war es reiz­voll, auf­re­gend und poe­tisch.

Vor mei­nem Zelt gab es Ravio­li aus der Dose und einen Liter Roten für ein paar Franc. Anschlie­ßend steck­te ich die Ker­ze in die lee­re Fla­sche. Ich wusch mei­ne Wäsche mit Rei-in-der-Tube und nahm jede ande­re Unan­nehm­lich­keit jubelnd in Kauf, weil ich unter­wegs war und drei­und­zwan­zig. Nichts von dem, was geschah, hat­te ich zuvor erfah­ren, nichts davon war mir ver­traut. Es war um das Rau­fen, Ran­geln und Wett­ei­fern gegan­gen. Man muss­te etwas machen aus sei­nem Leben. Doch jetzt trug ich die­se eigen­ar­ti­ge Eupho­rie in mir rum, die­sen Tau­mel, der einem Lust ein­flößt, weil alles ein­fach war, man durch die Tage wan­del­te, leb­te, mit die­sen ein­ma­li­gen Emp­fin­dun­gen. Ob man ein Dach über dem Kopf hat­te oder nicht oder Hun­ger, das war egal. Ich lag mit­ten in Paris, hat­te mei­nen Schlaf­sack, die Bücher und den himm­li­schen Him­mel.

Zum ers­ten Mal reis­te ich allein. Wenn ich in den Cafés saß und las, fiel das nicht wei­ter auf. Und den Fran­zo­sen war ich gleich­gül­tig. Man durf­te nur nicht in die Fal­le tap­pen und ihre Indif­fe­renz mit Tole­ranz ver­wech­seln. Gleich­zei­tig lehn­ten sich die Fran­zo­sen ja immer gegen alles auf. Dar­aus soll­te einer schlau wer­den. An der The­ke beim Bäcker wur­de ich ange­fah­ren, ob ich mich nicht schnel­ler ent­schei­den könn­te. Une baguette s’il vous plait, war alles, was ich raus brach­te. So kam es, dass ich nie eines der köst­li­chen Crois­sants kos­te­te. An den Gren­zen brau­te sich auch schon wie­der was zusam­men. Die Fern­fah­rer, eine Blo­cka­de. Es ging um Fahr­ver­bo­te und mehr Koh­le. Der café au lait kos­te­te in Paris 4 Mark 50. Das konn­te man schon ver­ste­hen. Ich hat­te auch nur noch ein paar Franc in der Tasche.

Das Allein­rei­sen hat­te ich nie gelernt. Jetzt dach­te ich nicht wei­ter drü­ber nach, es kam mir wie ein natür­li­cher Zustand vor. Nie­mand trieb mich, nie­mand zog an mir. Irgend­wie war es sogar ein fabel­haf­ter Schutz­raum, von dem aus es sich wun­der­bar beob­ach­ten ließ. Voll­kom­me­ne Inti­mi­tät. Ein Samen mei­nes Rei­se­glücks.

Die Welt ein­mal nicht buch­hal­te­risch betrach­ten, schlug Stuck­rad-Bar­re vor, son­dern: aus­schwei­fen, dekon­stru­ie­ren, mal anders­her­um den­ken. Wie soll­te das gehen? Doch wohl nur unter dem Radar, allein. Ich frag­te mich, ob ein Fran­zo­se, Bay­ern durch­rei­send, den Duft von Kar­tof­fel­knö­del und Dun­kel­bier­so­ße in sein Tage­buch notie­ren wür­de. Paris roch nach muf­fi­ger Metro und Weiß­brot.

Wie­der im Zug. Ich erreich­te die Küs­te am Atlan­tik, wo die Fran­zo­sen, jetzt am letz­ten Tag im Juli, die Cam­ping­plät­ze kolo­ni­sier­ten. Die Sur­fer lau­er­ten wie Haie auf dem Was­ser. Ich stieg auf die Düne. Auf der ande­ren Sei­te fun­kel­te das Meer. Feu­er, Ster­ne, Geläch­ter und Gitar­re. Ich bau­te mein Zelt in den Dünen auf, woll­te aber bald wei­ter. Die ein­fal­len­den Cam­per, sie plün­der­ten mir die­ses Para­dies. An der fran­zö­si­schen Rivie­ra ent­lang, immer auf die ita­lie­ni­schen Alpen zu, woll­te ich bis nach Vene­dig rüber. Ich war­te­te nur noch den längs­ten Tag des Jah­res ab. Bis Nea­pel waren es noch 1.700 Kilo­me­ter. In der Luft lag der Geruch von Ambre-Solai­re-Son­nen­milch.

In Ven­ti­mi­glia, an der Küs­te von Ligu­ri­en, eine Stun­de west­lich von Niz­za, stieg ich am hel­len Mit­tag in den Zug der Ita­lie­ner, der bis nach Vene­dig fuhr. Die Gleis­ar­bei­ter saßen im Schat­ten der Wagen und pack­ten ihre Tra­mez­zini aus. Sie mach­ten Sies­ta.

Bei den Ita­lie­nern war alles anders. Hier bilan­zier­ten sie den Tag dem Genuss nach. Der war Wäh­rung. Sie ver­mie­den so die Müh­le des Irr­sinns, denn für die Ita­lie­ner ergab sich jeder Genuss aus dem Gebrauch des Lebens.

Der Espres­so war plötz­lich ein caf­fé. Und irre bil­lig. Alle rede­ten mit den Hän­den und spra­chen, wie Pava­rot­ti sang. Frau­en stan­den in Kit­teln vor den Häu­sern, klei­nen Häu­sern mit klei­nen Autos davor, oder Ves­pas. Die Frau­en waren Müt­ter und Ehe­frau­en, Schwes­tern und Tan­ten und sie war­te­ten auf die Heim­kehr ihrer Män­ner.

Ob das Land dort am schöns­ten ist, wo die Hor­den Tou­ris­ten ein­fal­len oder eben gera­de hier, wo die Kit­tel-Frau­en war­ten, wo rote Dächer leuch­ten und »Wäsche im Wind weht«, wo die Men­schen vor dem Essen einen Rosen­kranz beten, und wie nah man der­ar­ti­gen Orten wirk­lich kom­men darf – von all dem hat­te ich nur eine dro­hen­de Ahnung.

Schu­le, Stu­di­um, Job – was soll­te noch wer­den. Wenn es so wei­ter­lief, wür­de mein Leben bald schme­cken wie ran­zi­ge But­ter. Was mich beglück­te, war jeder Schlitz, jeder Zwi­schen­raum, jede Bewe­gung. Das Fort­ge­hen ergoss sich wie eine Erleich­te­rung, als Aus­bruch aus der geron­ne­nen Regel­mä­ßig­keit. Viel­leicht auch, weil ich nie ver­wur­zelt war an einem bestimm­ten Ort, fiel mir ein Auf­bruch immer leicht. »In the end, it’s not so much how to suc­ceed in life as it is how to sur­vi­ve the life you have cho­sen«, schrieb Hun­ter S. Thomp­son.

Vene­dig. Ich hat­te gleich genug von den auf­rei­zend auf­ge­führ­ten Kli­schee-Erre­gun­gen (Male­risch! Geheim­nis­voll!), den ein­stu­dier­ten Dis­ney-Dar­stel­lun­gen (Der Kanal! Die Gon­do­lie­ri!). So haben wir alle unse­re Vor­stel­lun­gen – gleich­sam vom Rei­sen und Leben – von dem, was wir jagen woll­ten.

Wei­ter nach Flo­renz. Die tos­ka­ni­sche Son­ne schien in das Abteil wie Whis­key. Durch die sanf­ten, wei­ten Hügel, vor­bei an den her­ben Pini­en, an Zypres­sen, Oli­ven­bäu­men und Wein­re­ben bis zum Arno. Vom Bahn­hof San­ta Maria Novel­la lief ich über die Pon­te Vec­chio auf die ande­re Sei­te des Flus­ses, den Hang hin­auf. Über Kopf­stein­pflas­ter, durch Rund­bö­gen, präch­ti­ge Gär­ten und Gas­sen und viel Renais­sance. Ich bau­te mein Zelt auf, kauf­te eine aus­ge­zeich­ne­te Piz­za und blick­te auf Flo­renz. Schon schön.

Ita­li­en kann­te ich bis­her aus dem deut­schen TV. Gio­van­ni Tra­pat­to­ni hat­te gera­de die »Fla­sche leer«, man fuhr Rein­hard-May-gestimmt und alli­anz­ver­si­chert durch Nea­pel, im Käfer-Cabrio natür­lich, erst kreuz, dann quer, dann mit­ten­rein, ein Toma­ten­sta­pel. Und Herr Ange­lo hat­te kein Auto, aber Geschmack und trank Nes­ca­fé mit der Nach­ba­rin: il gus­to­ni­co.

Jetzt war ich da. Und frag­te in Flo­renz nach dem Weg zum Fuß­ball­sta­di­on. Ich frag­te auch nach Mara­dona und nach Nea­pel. Dort woll­te ich ja hin. Ein Mann mit Müt­ze zeig­te in die Rich­tung, in die ein gan­zer Schwarm Ves­pas roll­te. Ves­pa und Han­dy – bei­des schien im ita­lie­ni­schen Grund­ge­setz ver­an­kert.

Toni, der Mann mit der Müt­ze, war Sizi­lia­ner und Wirt. Nea­pel? Nichts als Ban­di­ten dort unten, sag­te er und der Pater neben ihm nick­te. Zusam­men sahen die bei­den aus wie Taxi­fah­rer und Pries­ter in Jim Jar­muschs Film »Night on Earth«. Kaum aus Paler­mo in Flo­renz ein­ge­trof­fen bau­te Toni einen Ofen in sein Häus­chen. Am nächs­ten Tag ver­kauf­te er sizi­lia­ni­sche Piz­za.

In sei­ner Piz­za-Bude kam ein selt­sa­mer Hau­fen zusam­men: der Pries­ter, beklau­te Tou­ris­ten, ein Patri­arch, ein Tenor und Män­ner in Maß­an­zü­gen, der Schuh­put­zer, Los­ver­käu­fer, Poli­zis­ten und Kran­ken­schwes­tern, Tan­ten und Onkel, ein paar Unru­he­stif­ter und vie­le Hoff­nungs­lo­se und eine Ban­de von Die­ben mit dicken Bäu­chen, die bei ihm anschrei­ben ließ, wie er mür­risch hin­zu­füg­te.

Ich erfuhr von Toni, dass in Nea­pel die Kin­der als Gangs für die Mafia arbei­te­ten, weil sie wuss­ten, dass es kei­ne Arbeit geben wür­de und dass es nor­mal sei, schon als Kind hin­ter Git­tern zu sit­zen. Eine Schan­de sei das. Toni und der Pater wand­ten sich schon wie­der ihrem Mahl zu, als das Gespräch auf Mara­dona kam, und Toni ent­schied, Nea­pel doch noch ein güti­ges Zeug­nis aus­zu­stel­len: Die­go habe sie zu Sie­gern gemacht. Non ci pio­ve - kein Zwei­fel.

Ich ging nicht ins Sta­di­on, ich blieb bei Toni hän­gen. Im Fern­se­her flim­mer­te was. Der Tenor träl­ler­te vor sich hin. Die­se Men­schen waren auch Spie­ler – Spie­ler, wie im Suff, die sich an der Ver­schwen­dung ihrer Wor­te und Ges­ten berausch­ten. Es wir­bel­ten Wor­te, die mir fremd waren. Ich hat­te das Gefühl, hier gehör­te ich hin, obwohl ich nicht dazu­ge­hör­te. Es war selt­sam.

Das Rei­sen hat­te die­sen hüb­schen Gewinn des Frem­den. An der Gar­de­ro­be war Kon­trol­le abzu­ge­ben. Denn sel­ten lief es ja wie ange­nom­men. Alles war doch nur ein Ent­wurf. Eine herr­li­che Sub­stanz, ein vor­züg­li­ches Rausch­mit­tel. Die Gleis­ar­bei­ter hock­ten auf den Schie­nen und mach­ten Sies­ta. Wann es denn wei­ter­ge­he?, frag­te ich ner­vös und genervt. Sie lach­ten nur.

In Ita­li­en hat­te ich das Gefühl mit klei­nem Ruck­sack aber ganz gro­ßen Mög­lich­kei­ten durch die Gegend zu trei­ben. Die Melo­die des Som­mer­hits »Hijo de la Luna« sum­mend war mir, als gäbe es kein: »Das soll­ten Sie mal so machen«, oder: »Da kön­nen wir lei­der nichts für Sie tun«. Hier poch­te eine frem­de Leich­tig­keit durchs Blut und den Toma­ten­su­go. 

Bei uns zuhau­se galt: Geiz-ist-Geil. Der Geiz bezog sich auf den Geschmack, den Genuss, den Geist, die Sinn­lich­keit. Es gab Pend­ler­pau­scha­le und Bahn­wit­ze, Mag­gi, Erfri­schungs­stäb­chen, Cop­pen­rath & Wie­se und Schmacht nach extra schlan­ken Bock­würs­ten. In Ita­li­en war das Rezept zum Schö­nen sim­pel: Mehl, Hefe, Salz, Toma­ten, Moz­za­rel­la, alles ab in den Stein­ofen, dazu ein Wein. Ich saß vor mei­ner Piz­za und blick­te auf Flo­renz.

Der letz­te Mor­gen in der Stadt. Am Tre­sen, der caf­fé, die rosa Gazet­te. Kei­ne Spur, kei­ne Zei­le bezüg­lich Mara­dona. Toni wuss­te auch nichts. Ein rei­se­bi­lanze­r­en­der Gedan­ke setz­te sich fest. Die Sehens­wür­dig­kei­ten die im Bae­de­ker ste­hen – das war es ja wohl nicht. Ich war auf­ge­bro­chen und hat­te etwas auf­ge­ge­ben. Die Gewohn­hei­ten, hin­ter denen wir uns ver­schan­zen, sie waren durch­lö­chert, wenn ich in den Stra­ßen von Paris ver­lo­ren ging oder am Ufer der Sei­ne saß, in der Nacht über den men­schen­lee­ren Mar­kus-Platz streif­te, auf der Mau­er saß und auf Flo­renz blick­te, ich ein­ge­la­den wur­de, zu blei­ben, aber los­woll­te oder auf den Zug war­ten muss­te. Dar­in bestand das Wun­der der Rei­se. 

Ent­lang des Weges ver­lor ich das Inter­es­se an jenem Ter­ri­to­ri­um des Bekann­ten, des Ertrag­ba­ren, der Spiel­re­geln, von Klein­mut, Ver­traut­heit und Bequem­lich­keit. Dass es anders wur­de, dahin­ge­hend ent­wi­ckel­te sich mei­ne Neu­gier und Selig­keit.

Unge­stüm durch die Welt rol­len fühl­te sich gut und rich­tig und natür­lich an. Das war doch ein ver­dammt fei­ner Weg, abso­lut frei, dach­te ich.

Mei­ne Suche nach Mara­dona war annul­liert wor­den. Bis Rom kam ich, dann hat­te ich kei­ne Lire mehr. Die Bücher waren auch ver­kauft. Nea­pel sah ich nie.

Die paar tro­cke­nen Tra­mez­zini in der Hand, nahm ich den nächs­ten Nacht­zug von Roma Ter­mi­ni nach Oberst­dorf. Allein unter­wegs, nur ein­mal noch durch die Welt, nach­se­hen, sich satt­schau­en, gleich­sam Schön­heit und Leben kos­ten, das soll­te fort­an mei­ne Frei­heit blei­ben.

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