Gründe für extreme Armut in Indien

Indi­en und die Armut. Kas­ten­sys­tem und Fata­lis­mus. Bett­ler in Indi­en: Geld geben, hel­fen oder spen­den? Geld tau­schen auf dem Schwarz­markt in Indi­en.

 

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Früh­stück aus dem Müll­con­tai­ner, Sar­nath

 

Ich wache auf in Var­a­na­si mit nur 23 Rupi­en (0,31€) in der Tasche. Mein letz­tes Geld hat gera­de noch für ein bil­li­ges Hotel am Bahn­hof gereicht.

Ich bin ohne Bar­geld in Indi­en und ein wenig auf­ge­schmis­sen.

Plei­te bin ich nicht, mein Bank­kon­to ist im Plus. Nor­ma­ler­wei­se wür­de ich ganz ein­fach mit der Kre­dit­kar­te 10.000 Rupi­en zie­hen. Wenn das nicht mög­lich ist, kann ich noch mei­ne Not­fall-Euros wech­seln. Aber alle Geld­au­to­ma­ten und Geld­wechs­ler in Indi­en haben seit Tagen kein Bar­geld.

Indi­en schaff­te am 9. Novem­ber 2016 zur Bekämp­fung von Schwarz­geld über­ra­schend sei­ne größ­ten Schei­ne, 500 und 1000 Rupi­en ab. Auch mehr als eine Woche spä­ter kommt nie­mand auf dem nor­ma­len Weg an gül­ti­ge Schei­ne, egal ob Tou­ris­ten oder Ein­hei­mi­sche.

Vor jeder Bank steht seit Tagen eine Schlan­ge von teil­wei­se über hun­dert Men­schen, die nicht wis­sen ob ihr Geld noch etwas wert ist.

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Schlan­ge vor einer Bank nach der Wäh­rungs­re­form, Sar­nath

Indien geht furchtbar mit seinen Armen um

In wel­chem Land ist es am schlimms­ten kein Geld zu haben? Arm oder gar obdach­los sein ist nir­gend­wo schön, aber wenn es ein Land gibt, das grau­en­voll mit sei­nen Armen umgeht, ist das Indi­en und die Stadt Var­a­na­si scheint nach Kolk­a­ta ein beson­ders schlim­mer Fall zu sein.

Ein schwa­cher Trost ist, dass du ohne Geld in Indi­en nie allei­ne bist. An jeder Stra­ßen­ecke sit­zen ver­lump­te Bett­ler. Vor jedem grö­ße­ren Bahn­hof siehst Du Fami­li­en mit von Flie­gen über­sä­ten Kin­dern. Durch jedes Bahn­ab­teil schiebt sich ein Krüp­pel. Bet­teln scheint in Indi­en fast ein nor­ma­ler und extrem mie­ser Beruf zu sein…

Vie­le Rei­sen­de die zum ers­ten Mal nach Indi­en kom­men ertra­gen das Elend kaum. Aber je län­ger Du bleibst, des­to weni­ger siehst Du davon. Die vie­len indi­schen Mil­lio­nä­re haben wahr­schein­lich seit Jah­ren kei­ne Armen mehr gese­hen und wenn dann nicht bewusst.

Der indi­sche Pre­mier hat bei die­ser Wäh­rungs­re­form wahr­schein­lich kei­ne Rück­sicht auf die Unter­schicht genom­men, sonst wäre das anders abge­lau­fen. Die Armen trifft der Bar­geld-Man­gel man­gels Alter­na­ti­ven am här­tes­ten und es sind schon meh­re­re Todes­fäl­le bekannt, weil kei­ne 500er und 1000er im Kran­ken­haus akzep­tiert wur­den.

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Alter Mann auf der Stras­se, Sar­nath

Wenig Geld hilft viel in Indien

Ganz mit­tel­los bin ich noch nicht. Umge­rech­net 31 Cent sind zwar selbst in Indi­en nicht viel Geld, aber ich könn­te mit mei­nen 23 Rupi­en eine Klei­nig­keit früh­stü­cken und dazu einen Chai trin­ken oder eine rich­ti­ge Mahl­zeit essen ohne Chai.

Obwohl Du in Indi­en mit weni­gen Euro am Tag über die Run­den kommst, gibt es hier sehr viel extre­me Armut. Das im Moment uner­reich­ba­re Geld auf mei­nem Bank­kon­to wäre wahr­schein­lich genug um eine indi­sche Groß­fa­mi­lie über Mona­te oder Jah­re zu ernäh­ren.

Ich trin­ke kei­nen Hen­kers-Chai mit mei­nen letz­ten Rupi­en, son­dern mache das, was man als Tou­rist eigent­lich las­sen soll­te: Ich bege­be mich in die Fän­ge eines Tuk Tuk Fah­rers, der gut eng­lisch spricht. Dies­mal ist das eine gute Idee. Kurz dar­auf hat er mir ein Früh­stück vor­ge­schos­sen und erklärt mir sei­ne Idee, wie ich an Bar­geld kom­me.

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Früh­stück: Puri für 20 Rupi­en, Var­a­na­si

Der Mythos vom authentischen Reisen

Du könn­test jetzt sagen, dass mei­ne Indi­en-Rei­se rui­niert ist, weil ich mei­ne Rou­te ändern muss­te. Eigent­lich woll­te ich nicht noch ein drit­tes Mal nach Var­a­na­si. Aber in den klei­nen Orten auf dem Bud­dha Trail, die ich eigent­lich besu­chen woll­te war es unmög­lich Bar­geld zu bekom­men. Nicht ein­mal einen Inter­net­zu­gang konn­te ich fin­den um zu sehen was über­haupt los ist.

Rui­niert ist gar nix. Mit so einer Ein­stel­lung über­lebt man als Indi­vi­du­al­rei­sen­der nicht in Indi­en. Indi­en ist immer im Wan­del und ein Rei­se­plan in Indi­en muss so bieg­sam sein wie ein Yoga-Meis­ter. Wenn Du ver­suchst etwas zu erzwin­gen, dann ver­zwei­felst Du an die­sem Land.

Es wird viel Auf­he­bens um authen­ti­sches Rei­sen gemacht. Oft ist damit tra­di­tio­nel­le Klei­dung gemeint und selbst Armut wird im Namen der Authen­ti­zi­tät ver­herr­licht, zum Bei­spiel ein Reis­bau­er auf dem Feld. »Oh, wie authen­tisch« sagen wir und machen ein Foto. Ich will mich da selbst gar nicht aus­neh­men, ich ste­he total auf sol­che Kli­schees.

Aber Authen­ti­zi­tät dul­den wir nur dann, wenn sie uns nicht beein­träch­tigt. In Indi­en sind vie­le ande­re Din­ge genau­so authen­tisch: der Ver­kehr, der Lärm, der Dreck, die Strom­aus­fäl­le. Wenn die Inder ihren All­tag unter­bre­chen müs­sen um stun­den­lang vor der Bank zu ste­hen ist auch das authen­tisch. Ich bin nicht glück­lich dar­über es ihnen gleich­zu­tun, aber ich ler­ne Indi­en so bes­ser ken­nen als vor dem Taj Mahal oder auf dem Bud­dha Trail.

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100 Euro in 100 Rupi­en Schei­nen abzüg­lich 22% Tausch­ge­bühr…

Geld tauschen auf dem Schwarzmarkt in Indien

Mein Tuk Tuk Fah­rer bringt mich zu einem der Sei­den­shops, zu denen Tuk Tuk Fah­rer Tou­ris­ten eben brin­gen, weil sie Kom­mis­si­on für jeden Ein­kauf bekom­men. Dies­mal bin ich aber ger­ne dort. Ich will kein Sei­den­tuch, son­dern Geld wech­seln. Der Besit­zer hat heiß begehr­tes gül­ti­ges Bar­geld und ist ger­ne bereit mir zu hel­fen – für sei­nen Preis.

Im Ver­kaufs­raum ste­he ich zwi­schen bun­ten Sei­den­shirts und Sarees. Ganz schön far­ben­froh für einen Schwarz­markt-Han­del. Ich bekom­me für mei­ne 100 Not­fall-Euro 6000 indi­sche Rupi­en als rie­si­gen Sta­pel in den nach wie vor gül­ti­gen Hun­der­ter Schei­nen. Zum offi­zi­el­len Kurs hät­te ich 7300 Rupi­en bekom­men, aber das ist nun auch schon egal.

Haupt­sa­che die nächs­ten Tage sind geret­tet. Viel­leicht funk­tio­nie­ren bis nächs­te Woche die Geld­au­to­ma­ten wie­der und wenn nicht gibt es mehr als genug Sei­den­lä­den in Indi­en. Außer­dem: was soll schon Schlim­mes pas­sie­ren? Ich bin weiß und kom­me aus einem der reichs­ten Län­der der Welt. Don’t kill the mes­sen­ger, es ist auch im post­ko­lo­nia­len 21. Jahr­hun­det noch sehr kolo­ni­al.….

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Obdach­lo­ser in Down­town Los Ange­les

Der amerikanische Traum verdirbt die Moral

Nicht alle West­ler haben es auto­ma­tisch gut. Auch die USA geht sehr schlecht mit ihren Armen um und lässt sie auf der Stras­se vege­tie­ren statt ein ver­läss­li­ches Sozi­al­pro­gramm auf die Bei­ne zu stel­len wie bei uns in Euro­pa. Das liegt nicht zuletzt am ame­ri­ka­ni­schen Traum: »Wer wirk­lich will, schafft es vom Tel­ler­wä­scher zum Mil­lio­när.«

Wenn ein gan­zes Volk das glaubt, dann blei­ben alle die auf der Stre­cke, die es noch nicht ein­mal zum Tel­ler­wä­scher schaf­fen. Und die Mil­lio­nä­re füh­len sich berech­tigt die Obdach­lo­sen mit Füs­sen zu tre­ten, weil sie nach die­ser Logik ihre Armut selbst ver­schul­det und nicht anders ver­dient haben.

Der Witz ist, dass die sozia­le Mobi­li­tät in den USA sehr nied­rig ist, noch nied­ri­ger als bei uns. Wenn Du heu­te in den USA einen Mil­lio­när siehst, war der frü­her wahr­schein­lich kein Tel­ler­wä­scher, son­dern sei­ne Eltern waren auch schon Mil­lio­nä­re. Die Meri­to­kra­tie funk­tio­niert nicht und die Ungleich­heit wird immer grö­ßer.

Auch wenn der ame­ri­ka­ni­sche Traum längst geplatzt ist, gilt er wei­ter als mora­li­sche Recht­fer­ti­gung um alle unter sich mit Füs­sen zu tre­ten und sei es nur indem man liber­tä­re Poli­tik unter­stützt. So wird der ame­ri­ka­ni­sche Traum zum sozia­len Alp­traum…

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Krüp­pel auf der Stras­se, Var­a­na­si

Gründe für indische Armut und Teufelskreis Wiedergeburt

Der indi­sche Alp­traum ist noch schlim­mer als der ame­ri­ka­ni­sche. Nicht nur in die­sem Leben bist Du an dem was Dir pas­siert selbst Schuld, son­dern auch im nächs­ten. Schon Dei­ne Geburt ist direk­te Fol­ge von der Men­ge an Kar­ma, die Du im letz­ten Leben gesam­melt hast.

Wer in der Gos­se liegt war im letz­ten Leben ein böser Mensch und hat es so ver­dient. Wer in der Gos­se liegt und sich gut damit abfin­det kann so fürs nächs­te Leben Kar­ma sam­meln. Bei so einem gna­den­lo­sen Fata­lis­mus bleibt natür­lich nicht viel Raum für Mit­leid.

Das immer noch sehr star­ke Kas­ten­sys­tem schafft außer­dem sozia­le Mobi­li­tät bei­na­he ab. Am Nach­na­men kannst Du in Indi­en die Kas­ten­zu­ge­hö­rig­keit erken­nen. Als Unbe­rühr­ba­rer hast Du wenig bis kei­ne Aus­bil­dungs- und Job­chan­cen. Du bleibst da wo Dei­ne Eltern, Groß­el­tern und Urgroß­el­tern waren. Als Frau hast Du es noch schwe­rer und wehe Du wirst Wit­we oder alt ohne genug Kin­der.

Kri­tik am Kas­ten­sys­tem war in der Ver­gan­gen­heit ein Grund für das Ent­ste­hen von Sik­his­mus und meh­re­ren Hin­du Reform­ver­su­chen. Viel gehol­fen hat das lei­der nicht. Auf dem Land ist in Indi­en alles noch wie im Mit­tel­al­ter. Zumin­dest In Groß­städ­ten spielt die Kas­ten­zu­ge­hö­rig­keit lang­sam eine gerin­ge­re Rol­le.

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Krüp­pel auf der Stras­se, Var­a­na­si

Bekämpfung von extremer Armut fängt im Kopf an

So ein­fach wie ich haben es die Inder auf der Stras­se nicht. Der Armut zu ent­kom­men scheint nicht nur schwer, son­dern unmög­lich. Wenn Du von der Hand in den Mund lebst, geht Dein Pla­nungs­ho­ri­zont nicht über die nächs­te Mahl­zeit hin­aus. Wenn Du gar kein ande­res Leben kennst, was willst du dann ändern?

Das Leben ist unge­recht und die­se Men­schen haben nie eine halb­wegs fai­re Chan­ce bekom­men. Wenn Du an ihrer Stel­le in Indi­en gebo­ren wor­den wärst, wür­dest Du auch heu­te an ihrer Stel­le in der Gos­se lie­gen.

Wir alle, die die­sen Text lesen kön­nen, haben die Geburts­lot­te­rie gewon­nen zusam­men mit etwa 1 Mil­li­ar­de ande­rer Men­schen. Das heißt wir müs­sen Zeit unse­res Lebens nicht mit Hun­den um Essens­res­te kämp­fen. Je mehr wir uns von der Vor­stel­lung ver­ab­schie­den, dass wir unse­ren Sta­tus selbst ver­dient haben, des­to eher kön­nen wir Mit­leid zei­gen mit den rest­li­chen 6 Mil­li­ar­den, die weni­ger Glück hat­ten.

Natür­lich gibt es im Durch­schnitt einen Zusam­men­hang zwi­schen Leis­tung und Ver­dienst. Aber es geht um ganz ande­re Grö­ßen­ord­nun­gen. Der viel beschwör­te fau­le Hartz-IV-Emp­fän­ger ist auf einer Wohl­stands-Ska­la bei 9 und der Mil­lio­när bei 10. Der obdach­lo­se Inder ist bei 1, ohne sau­be­res Trink­was­ser. Und er bleibt dort, egal was er tut.

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Die­se spie­len­den Jungs bekom­men kei­ne fai­re Chan­ce, Kus­hi­na­gar

Moralisches Handeln und der Denkfehler Nahmoral

Wir alle haben eine »Nah­mo­ral« und eine »Fern­mo­ral«. Wenn die Armut vor uns auf der Stras­se liegt und uns anbet­telt fin­den wir das schlimm und scho­ckie­rend. Wenn die Armut irgend­wo in Indi­en bleibt, fin­den wir das zum Gäh­nen. Um die­sen Denk­feh­ler zu behe­ben ist eine Rei­se nach Indi­en sehr emp­feh­lens­wert und kann Dei­ne Welt­sicht ver­än­dern.

Gehe nach Indi­en und reflek­tie­re wie viel Glück Du bei der Geburts­lot­te­rie hat­test. Danach wirst Du es schwer fin­den Dich über irgend­et­was in Dei­nem Leben zu beschwe­ren. Indi­en befreit uns von unse­ren Sor­gen und macht sie zu Erstwelt-„Problemen“, die nicht der Rede wert sind.

Wenn Du mich fragst, gibt es zwei Arten von Men­schen:

  1. Die, die schon in Indi­en waren.
  2. Die, die noch dort­hin gehen soll­ten.

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Ban­ken in Indi­en erkennt man an der Schlan­ge, Gorakh­pur

Bettler in Indien: Geld geben, helfen oder spenden?

Viel­leicht macht Dich Indi­en sogar zum Altru­is­ten, aber das musst Du selbst ent­schei­den. Mit Dei­ner Rei­se hilfst Du auf jeden Fall der indi­schen Wirt­schaft, vor allem als Back­pa­cker. (Grün­de z.B. län­ge­re Ver­weil­dau­er, bes­se­re Geld­ver­tei­lung, loka­ler Kon­sum statt Import, Klein­un­ter­neh­mer statt Ange­stell­te, 30% statt 70% Leck­ver­lust…)

Ob Du vor Ort in Indi­en Bett­lern etwas geben soll­test oder nicht, kommt auf die Situa­ti­on an. In einem tou­ris­ti­schen Umfeld rich­test Du damit eher Scha­den an. Kin­dern soll­test Du nie etwas geben sonst gehen sie womög­lich bet­teln statt in die Schu­le – ein Teu­fels­kreis.

Als ich zum ers­ten Mal nach Indi­en kam, ver­stand ich plötz­lich den Impuls alles daheim auf­zu­ge­ben um hier den Men­schen zu hel­fen. Trotz­dem, Frei­wil­li­gen­ar­beit ist kei­ne gute Idee und die Vor­stel­lung mit den eige­nen Hän­den zu hel­fen nicht mehr als ein Ego-Trip infol­ge eines White Saviour Kom­ple­xes.

Grund­sätz­lich ist es bes­ser an effi­zi­en­te Orga­ni­sa­tio­nen zu spen­den als Bett­lern Geld zu geben oder Volun­tou­ris­mus zu machen, eine gut recher­chier­te Lis­te gibt es bei Give Well. Wenn Du gezielt nach Indi­en spen­den willst, schau Dir Give India an.

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Indi­scher Büro­kra­ten­hu­mor: Kom­men Sie bit­te in 3 Wochen wie­der…

Bil­der aktu­ell von Mit­te Novem­ber 2016. Nix Archiv, alles live…

Was denkst Du zur extre­men Armut in Indi­en und im Rest der Welt?

Mehr Gedan­ken zu Fern­mo­ral und Nah­mo­ral bei Peter Sin­gers TED Talk. Ach­tung: Sin­gers Stand­punkt wirkt beim ers­ten Mal extrem, aber das gibt sich.

Die­ser Text ist ein Bei­trag zur Blog­pa­ra­de Mein nach­denk­lichs­tes Erleb­nis auf Rei­sen

Erschienen am



Antworten

  1. Avatar von Max Mustermann
    Max Mustermann

    Für mich klingt der Arti­kel, als hät­test du dich nicht eine Sekun­de über wirk­lich Essen­zi­el­les mit einem Inder unter­hal­ten. Das alles wirkt so von oben her­ab.

    In einem Satz beschreibst du den Ame­ri­can Dream und wie unfair du ihn fin­dest, da dadurch rei­che Amis das Gefühl krie­gen, sie hät­ten sich ihren Reich­tum ver­dient, wäh­rend arme Men­schen ihre Armut ver­dien­ten. Das sehe ich genau so.

    Aber fast im nächs­ten Satz erhebst du dich auf der mora­li­schen Ebe­ne auf die genau glei­che Wei­se, wie der arro­gan­te Ami, den du kurz vor­her beschreibst: Dein Arti­kel deu­tet an, dass das Kas­ten­sys­tem und das Kar­ma Kon­zept etwas mit der Armut Indi­ens zu tun haben. Du deu­test an, dass wir Deut­schen unse­ren Wohl­stand ver­die­nen, weil wir ein sol­ches Kon­zept nicht ver­fol­gen:

    Ich habe einen indi­schen Freund und ihn genau nach die­sem Kon­zept des Kar­mas gefragt: „Also wenn du arm bist, bedeu­tet das, dass du in dei­nem letz­ten Leben böse warst und es nicht anders ver­dienst?“ – er erklär­te mir, dass das so nicht funk­tio­niert und dass kein Hin­du die­ser Welt Kar­ma so inter­pre­tiert. So kom­me ich also zu mei­nem Schluss, dass du über Kar­ma noch nie mit einem Hin­du gespro­chen hast. Und doch erhebst du dich über die­ses Kon­zept und das Kas­ten­sys­tem. Denn was du über das Kas­ten­sys­tem sagst, stimmt lei­der auch nicht mehr. Wenn du jeman­den wegen sei­ner Kas­te in Indi­en dis­kri­mi­nierst, kannst du dafür ins Gefäng­nis kom­men. Wenn du z.B. jeman­den beschimpfst mit einem bestimm­ten Wort, das ich hier nicht erwäh­nen möch­te. 50 Pro­zent der staat­li­chen Unis und Jobs sind mitt­ler­wei­le für die unte­ren Kas­ten reser­viert und fast kos­ten­los. Das ist nicht die Auf­he­bung des Kas­ten­sys­tems und unter­stützt auch nicht gera­de die armen Men­schen von obe­ren Kas­ten. Aber es ist sicher­lich seit Jah­ren nicht mehr das, was du in dei­nem Arti­kel aus ihm machst.

    Wenn das Kas­ten­sys­tem das größ­te Pro­blem wäre, gäbe es in Indi­en gar kei­ne armen Men­schen der OBEREN Kas­ten.

    Genau wie du den Rei­chen vor­wirfst, sich mit dem Ame­ri­can Dream her­aus­zu­re­den, redest du dich mit einem ver­meint­lich mora­li­sche­ren Bewusst­sein her­aus, dei­nen Wohl­stand zu ver­die­nen.

    Der Arti­kel klingt für mich, als wäre das Kar­ma und Kas­ten­kon­zept mora­lisch ver­werf­li­cher als dein eige­nes Moral­kon­strukt. Und das ist für mich nicht min­der arro­gant wie die Vor­stel­lung des Ame­ri­can Dream.

    PS: Ein paar Hun­dert Jah­re zurück hat­te Indi­en bereits das Kas­ten­sys­tem und das Kar­ma­kon­zept und gehör­te den­noch zu den reichs­ten Län­dern der Welt. Das war bevor unse­re euro­päi­schen Vor­fah­ren in das Land ein­dring­ten und ihm alles nah­men, was es hat­te.

  2. Avatar von Jonas
    Jonas

    Ich habe sehr lan­ge gesucht war­um es so eine Armut in Indi­en gibt. In die­sem Bei­trag wur­de es her­aus­ra­gend und sehr inter­es­sant beschrie­ben.

  3. Avatar von Marianne Frank-Mast

    Der Kom­men­tar von Kin­suk inspi­riert mich, mich doch mei­ner­seits zu äußern. Sind dies doch zu oft geäu­ßer­te Ansich­ten.
    Seit 50 Jah­ren rei­se ich in Indi­en und seit mehr als 20 Jah­ren arbei­te ich inten­siv im Sek­tor medi­zi­ni­sche Hil­fe und vor allem im Bil­dungs­be­reich. Ich habe in die­sen Jah­ren 6 Schu­len und eine Aus­bil­dungs­stät­te für Pfle­ge­kräf­te gegrün­det und finan­ziert.
    Seit 50 Jah­ren ver­än­dert sich die Armuts­si­tua­ti­on nicht wirk­lich. Immer­hin gel­ten lt. UN 80% der Inder als arm. Die Situa­ti­on von Frau­en und Mäd­chen ändert sich gering­fü­gig, auch nicht bei den »Upper Cast/​Class Peo­p­le«. Wenn Frau­en inzwi­schen häu­fi­ger als in den 1970iger Jah­ren die Schu­le besu­chen dür­fen ist das kein Indiz dafür, dass sie respek­tiert und als eigen­stän­di­ge, juris­ti­sche Per­son aner­kannt sind. (Ent­spre­chen­de, per­sön­li­che Erleb­nis­se las­sen dies­be­züg­lich tief bli­cken). Man sieht sie, gemes­sen an ihrer Zahl, kaum im öffent­li­chen Raum. Die Armut und der damit ver­bun­de­ne Dreck und die damit ver­bun­de­nen wei­te­ren Pro­ble­me (Hygie­ne­man­gel, Nah­rungs­man­gel, Bil­dungs­man­gel, Kin­der­ar­beit, Aus­beu­tung, sogar Skla­ve­rei) sind unüber­seh­bar auf dem ‑gesam­ten- Sub­kon­ti­nent. Zuge­ge­ben, in den Zen­tren der Mega Cities, auch in man­chen südl. Bun­des­län­dern, ist dies etwas mil­der. Den­noch, dies zu sehen und zu ver­ba­li­sie­ren hat rein gar nichts mit »low opi­ni­on of India and Indi­ans« zu tun. Kri­tik ist in Indi­en lei­der ein No Go und von daher ein weit­rei­chen­des Pro­blem. Die Igno­ranz von Indern (die­se steht in engem Bezug zu Kas­ten­we­sen, Kar­m­a­den­ken, Reli­gi­on, ist eine bil­li­ge Aus­re­de sich sozi­al nicht zu enga­gie­ren und die Recht­fer­ti­gung über drän­gen­de Pro­blem hin­weg­zu­se­hen) in Bezug auf ihre Mit­men­schen, die zu 30% unter­halb der Arm­tus­gren­ze leben, bringt mich seit 50 Jah­ren auf! Kin­der­ar­beit ist nach wie vor ein rie­sen Pro­blem. Lt UNICEF müs­sen ca. 14 MIO Kin­der unter 14 Jah­ren schwe­re, für ihre phy­si­sche und psy­chi­sche Ent­wick­lung schä­di­gen­de Arbeit ver­rich­ten. TÄGLICH! Mit­gift­ehe, gesetz­lich ver­bo­ten, fin­det nach wie vor statt. Mit­gift­mor­de eben­so. Lt. UNICEF allein in Delhi p.Tag ca. 12 bis 15. Die Dun­kel­zif­fer liegt lt. NGO›s in astro­no­mi­scher Höhe. Das sind lei­der Tat­sa­chen, die nicht von einer Ein­zel­per­son wie mir erfun­den wur­den. Indi­en ist ein wun­der­schö­nes, span­nen­des, viel­fäl­ti­ges und bun­tes Land. Aber die Kehr­sei­te darf man nicht unter den Tep­pich keh­ren. Seit 50 Jah­ren berei­se ich Indi­en in jeden Win­kel. Vor man­chen Indern, die sich für ihr Land und ihre Leu­te enga­gie­ren, das gibt es auch (!) habe ich gro­ßen Respekt. Jene, denen nichts ande­res ein­fällt die­je­ni­gen als »Post­ko­lo­nia­lis­ten«, ein­sei­tig etc. zu bezeich­nen und sich nicht den Pro­ble­men stel­len, sie anpa­cken, sei gesagt, dass sie nicht nur auf einem Auge blind zu sein schei­nen.

  4. […] Du Dich manch­mal, war­um gera­de in Indi­en so eine extre­me Armut herrscht? Dann fin­dest Du die­sen Arti­kel von Rei­se­de­pe­schen sicher­lich […]

  5. Avatar von kingsuk paul
    kingsuk paul

    I am from india and i have to say this artic­le is very one sided!!! The way you descri­bed var­a­na­si is true to a lar­ge ext­ent but you should also take some time and vist places like gurugram,bangalore,kerala,noida etc whe­re indi­ans are working and com­pe­ting with best of the world,you should not just spend time just in the nor­t­hern sta­tes like UP,Bihar which are defi­ni­te­ly poor but also in sou­thern states.India is a very diver­se place almost like euro­pe as a coun­try so you can­not generalize.You seem to have a very low opi­ni­on of india and indi­ans but remem­ber that this coun­try which »lives most­ly in the midd­le ages« accor­ding to you will over­ta­ke your country’s eco­mo­my in few years time.You patro­ni­zing tone does not reflect the rea­li­ty that now even indi­an com­pa­nis like tata are now purcha­sing sta­kes in krupp steel of ger­ma­ny. Thank you.

    1. Avatar von Florian Blümm

      Hi King­s­uk,

      first I admi­re India and even more so Indi­ans. Also I know how diver­se India is, sin­ce I’ve been all over the »coun­try« and come back every year for more. Fur­ther­mo­re, this text is cer­tain­ly not meant to be patro­ni­zing – at all!

      But what you are say­ing about the »2 Indi­as« is sim­ply not true. It’s not a north/​south divi­de or rural/​city divi­de. When it comes to pover­ty, the who­le place is a mess with tiny blips of sani­ty thrown inbet­ween like rai­sins in rai­sin bread.

      I’ve been to Banga­lo­re, »Cybe­ra­bad« and spent seve­ral weeks in Mum­bai. I’ve been to many places in Sou­thern India. The­re are some rays of suns­hi­ne, but it sim­ply does­n’t mat­ter at a grand sca­le. To be honest, it makes the situa­ti­on seem even more fucked up.

      Che­ers,
      Flo­ri­an

  6. Avatar von Mike
    Mike

    Sehr inter­es­san­ter Arti­kel der zum Nach­den­ken anregt.

  7. […] Du Dich manch­mal, war­um gera­de in Indi­en so eine extre­me Armut herrscht? Dann fin­dest Du die­sen Arti­kel von Rei­se­de­pe­schen sicher­lich […]

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