Argen­ti­nien, Dezem­ber 2005.
Lang­sam rat­tern die Räder des Zuges, der gerade den Haupt­bahn­hof im Zen­trum der Groß­stadt ver­lässt, um die Men­schen, die sich in ihm drän­gen, in die Vor­orte zu brin­gen. Wenn das schwere Gefährt die dicht bebau­ten Sied­lun­gen hin­ter sich lässt, wird es an Geschwin­dig­keit zule­gen. Doch noch bewegt es sich lang­sam, wie eine dicke Raupe, die den Weg aus dem Laub in die Frei­heit sucht.

Die Fens­ter geben den Blick auf die Villa 31 frei. Diese Villa Mise­ria, das größte Elends­vier­tel der Stadt, brei­tet sich direkt neben der Zug­aus­fahrt des Bahn­hofs auf unge­nutz­ten Glei­sen immer wei­ter aus. Nach der ver­hee­ren­den Wirt­schafts­krise im Jahr 2001 diente es vor allem ver­arm­ten Eisen­bahn­ar­bei­tern als neues Zuhause. Seit­dem ist es ste­tig gewachsen.

Mit den Kilo­me­tern, die der Zug zurück­legt, ver­än­dert sich das Bild vor sei­nen Fens­tern. Es wird nicht mehr von her­un­ter­ge­kom­me­nen Bar­racken, son­dern von strah­len­den Ein­fa­mi­li­en­häu­sern geprägt sein. Und dann dre­hen sich auch die Räder schnel­ler, um uns bald an unser Ziel zu brin­gen. Der Wagon ist voll, es ist die Zeit der Rush Hour, Väter und Müt­ter, die im Zen­trum der Stadt arbei­ten, befin­den sich am Weg zu ihren Fami­lien, fah­ren in die noblen Vor­orte im Süden der Stadt. Im gan­zen Zug habe ich kei­nen freien Sitz­platz gefun­den, darum stehe ich jetzt neben einer der Türen und schaue aus dem Fens­ter. Die Fahrt wird eine Weile dau­ern. Wäh­rend der Zug an Geschwin­dig­keit zulegt, wende ich die Augen vom Fens­ter ab und setze mich auf den Boden.

Mein Blick wan­dert über die Gesich­ter der Men­schen im Wagon. Stumm ste­hen sie neben­ein­an­der, in sich gekehrt, in Gedan­ken viel­leicht schon daheim oder immer noch in der Arbeit, ihre Umge­bung neh­men sie schein­bar nicht wahr. Bei einem jun­gen Mann, der gegen­über von mir am Boden sitzt, bleibt mein Blick hän­gen. Er lächelt in sich hin­ein, als denke er an ein schö­nes Erleb­nis. Neben ihm steht ein gro­ßer Ruck­sack. Im Gegen­satz zu den ande­ren Men­schen im Zug wirkt er ent­spannt. Viel­leicht ist er auch nicht von hier, denke ich. Ihn anzu­se­hen macht mich irgend­wie glück­lich, als wäre sein Lächeln ansteckend.

Wäh­rend ich über ihn nach­denke, tref­fen sich unsere Bli­cke. Wie­der huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Irgend­wie will ich die­sen Moment fest­hal­ten. Ich hole meine kleine Kamera aus der Tasche, schalte sie ein, drü­cke ab. Er ist erstaunt, unsi­cher, was er machen soll. Und dann holt er aus zum Gegen­schlag, kramt eben­falls nach sei­nem Foto­ap­pa­rat. Es liegt ein stil­les Über­ein­kom­men in der Luft, von dem nie­mand sonst weiß.

Nach eini­ger Zeit packt er die Kamera wie­der ein, nimmt sei­nen Ruck­sack und kommt auf meine Seite. Er setzt sich neben mich und fragt: „Woher kommst du?“ Ich sage es ihm und deute auf sein Gepäck. Ob er auf Rei­sen wäre, frage ich. Er erklärt mir, dass er aus Uru­guay käme, aber Fami­lie in Argen­ti­nien hätte und diese nach lan­ger Zeit wie­der besu­che. Wir unter­hal­ten uns noch eine Weile und ich erfahre, dass der Mann Maler und Rei­sen­der ist, er in unzäh­li­gen Län­dern gelebt hat, das Leben in sich auf­saugt, frei ist. Viel zu schnell ver­geht die Zeit, ich muss aus­stei­gen. Ich hätte gerne mehr über die­sen Men­schen erfah­ren. Spä­ter sollte ich in mein Tage­buch schrei­ben, dass diese Begeg­nung eine wahre Inspi­ra­tion war.

Cate­go­riesArgen­ti­nien
Hanna Silbermayr

Oft sind es die kleinen Dinge, die uns zum Staunen bringen. Begegnungen und Gespräche, die zum Nachdenken anregen, uns einen Moment innehalten lassen in einer Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint, uns ein Lächeln entlocken.

Solche Momente möchte ich nicht für mich behalten, sondern mit Euch teilen. Ich, das ist eine ausgebildete Grafikdesignerin, studierte Romanistin und Politikwissenschaftlerin, die im Namen des Journalismus immer wieder in Lateinamerika unterwegs ist. Demnächst wohnungslos und in stetiger Bewegung.

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