Entschuldigen Sie…

Argen­ti­ni­en, Okto­ber 2005.
Ein son­ni­ger Früh­lings­tag. Ich bin schon den gan­zen Vor­mit­tag unter­wegs, nut­ze mei­nen frei­en Tag, um ein paar Erle­di­gun­gen zu täti­gen, für die ich wegen mei­ner Arbeit viel zu lan­ge kei­ne Zeit gehabt habe. Kurz nach mei­ner Ankunft in Argen­ti­ni­en habe ich fest­ge­stellt, dass man hier mit Kom­pli­men­ten weit­aus frei­zü­gi­ger umgeht, als in mei­nem Hei­mat­land. Schon klei­nen Kin­dern wird stän­dig gesagt, dass sie hübsch sind. Ein ent­spre­chen­des Selbst­be­wusst­sein scheint Argen­ti­ni­ens Bevöl­ke­rung des­halb zu besit­zen.

Die­se klei­nen Kom­pli­men­te strei­cheln auch mei­ne See­le, die einem klei­nen Dorf inmit­ten der Alpen ent­sprun­gen und im dort übli­chen zwi­schen­mensch­li­chen Umgang sozia­li­siert wor­den ist. Am Anfang zumin­dest stär­ken sie mein Auf­tre­ten. Je mehr Zeit ich aber in Argen­ti­ni­en ver­brin­ge, wo all die­se Kom­pli­men­te oft im Vor­über­ge­hen auf der Stra­ße aus­ge­teilt wer­den, umso ober­fläch­li­cher und eher quan­ti­ta­tiv denn qua­li­ta­tiv erschei­nen sie mir.

Den gan­zen Vor­mit­tag bin ich also schon durch die Stra­ßen der Stadt gelau­fen, auf der Suche nach die­sem und jenem. Irgend­wann am spä­ten Nach­mit­tag beschlie­ße ich, die Heim­rei­se anzu­tre­ten und mache mich auf den Weg zur Bus­sta­ti­on. Ich über­que­re einen klei­nen Platz. Dort kommt mir ein alter Mann ent­ge­gen, der schein­bar einen Nach­mit­tags­spa­zier­gang macht. Zit­ternd stützt er sich auf sei­nen Geh­stock, setzt vor­sich­tig einen Fuß vor den ande­ren. Als wir auf glei­cher Höhe sind, bleibt er ste­hen und sieht mich an. »Ent­schul­di­gen Sie…«, sagt er mit rau­her Stim­me. Ich habe es nicht eilig, brem­se mei­nen Schritt, blei­be ste­hen. »Ja?«, fra­ge ich, will wis­sen, was er mir sagen will. Der alte Mann ist klei­ner als ich, sieht zu mir hoch, schaut mir direkt in die Augen. Dann sagt er: »Ent­schul­di­gen Sie, ich muss Ihnen das sagen: Sie sind wun­der­schön.« Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Ich bedan­ke mich fröh­lich und wir set­zen bei­de unse­ren Weg fort, ich im schnel­len Schritt einer jun­gen Frau, er mit wacke­li­gen Bei­nen auf sei­nen Geh­stock gestützt.

Der alte Mann hat mei­nen Tag ver­süßt. Sein Gesicht strahl­te Ehr­lich­keit aus, sei­ne Stim­me hat­te etwas Auf­rich­ti­ges, sei­ne Wor­te schie­nen so unend­lich ernst gemeint, ohne irgend­wel­che Hin­ter­ge­dan­ken. Eines der schöns­ten Kom­pli­men­te, das ich jemals bekom­men habe.

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Antworten

  1. Avatar von Martin

    Es gibt einen gewal­ti­gen Unter­schied zwi­schen Uru­gu­ay und Argen­ti­ni­en. Ein argen­ti­ni­scher Jour­na­list it auf die­sen ein­al genau­er ein­ge­gan­gen„, http://www.lateinamerika-reisemagazin.com/2010/10/27/der-unterschied-zwischen-argentinien-und-uruguay/

  2. […] sei­nes Sab­ba­ti­cals schrei­ben und Han­na Sil­ber­mayr ist mal wie­der mit einem ihrer Arti­kel auf Rei­se­de­pe­schen ver­tre­ten – aber erst die­se Woche bin ich auf ihren eige­nen Blog auf­merk­sam gewor­den, wo sie […]

  3. Avatar von Nina

    … sehr her­zig :-)… uns ist Ähn­li­ches in Uru­gu­ay pas­siert, als eine alte Dame mei­nem Schatz ein »¡Qué gua­po mucha­cho!« hin­ter­her­flüs­ter­te, als ich gera­de weg­schau­te 😉

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