Von Mühen, Maschinen und Menschlichkeit – unterwegs an alten Industriestandorten (2)

Teil 2: Vor der Dampfmaschine

Von Feu­er­stein und Gold­rausch, Kup­fer­käl­te und Sei­den­bro­kat – Orte, an denen Euro­pas Indus­trie­kul­tur ihren Anfang nahm.

Noch bevor das ers­te Zahn­rad sich dreh­te, schlu­gen Häm­mer auf Stein, und Was­ser bahn­te sich sei­nen Weg durch dunk­le Stol­len. Die­se Rei­se führt zurück – in Minen und Manu­fak­tu­ren, die lan­ge vor der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on von Arbeit, Erfin­dungs­geist und Orga­ni­sa­ti­on erzäh­len.

Krzemionki – Feuerstein für die frühe Welt

Am See von Tar­no­brzeg begann der Tag mit Son­ne und Kaf­fee­be­cher – und ende­te unter Tage: in den stil­len Schäch­ten von Krze­mi­on­ki, wo vor über 5.000 Jah­ren Feu­er­stein abge­baut wur­de. Schon die Aus­stel­lung im Welt­erbe­zen­trum mach­te den All­tag der Stein­zeit greif­bar – mit Werk­zeu­gen, Schäch­ten und Model­len. Dann ging es in den Wald, durch ein Gelän­de vol­ler Pin­gen und über­dach­ter Gru­ben, bis wir 55 Stu­fen in die Tie­fe stie­gen. Unten: ein laby­rin­thi­sches Gang­sys­tem, kühl und dun­kel, mit glän­zen­de Feu­er­stein­knol­len in schloh­wei­ßen Wän­den.

Oben erwar­te­te uns ein nach­ge­bau­tes Dorf mit Hüt­ten, Fel­dern und Werk­plät­zen. Es war leicht, sich das Leben vor­zu­stel­len: das Häm­mern, Schlei­fen, Kochen, Tau­schen. Krze­mi­on­ki ist kein Ort für gro­ße Ges­ten – aber einer, der unter die Haut geht. Ein stil­les Welt­wun­der unter unse­ren Füßen.

Las Médulas – Goldrausch der Antike

Früh­mor­gens hing noch Nebel über dem Tal, als ich ins klei­ne Infor­ma­ti­ons­zen­trum kam. Schon bei der Anfahrt leuch­te­ten die rot­gol­de­nen Berg­spit­zen im Dunst – und es ließ sich ahnen: Das hier ist kein gewöhn­li­cher Ort. Was heu­te aus­sieht wie eine sur­rea­le Natur­land­schaft, ist das Ergeb­nis einer gigan­ti­schen Tech­nik: Die Römer nutz­ten Was­ser, um die Ber­ge zu spren­gen – mit Druck, Kanä­len, Stau­seen und frei­ge­setz­ten Lawi­nen, die das Gestein auf­ris­sen. Dar­aus wuschen sie Gold.

Ich wan­der­te durch den Zau­ber­wald, allein, beglei­tet vom Licht­spiel zwi­schen Fel­sen und Bäu­men. Am Aus­sichts­punkt Orel­lán hob sich die Sze­ne­rie ins Monu­men­ta­le: oran­ge­far­be­ne Zacken über grü­nem Tep­pich, der Atem der Geschich­te in jeder Wind­böe. Wer hier steht, erkennt, wie sehr der Mensch schon vor 2.000 Jah­ren in die Natur ein­griff – und wie atem­be­rau­bend das Ergeb­nis bis heu­te wirkt.

Las Médu­las

Wieliczka – Wo Glaube im Salz glänzt

Von Kra­kau kom­mend, noch vol­ler Ein­drü­cke aus der Stadt, begrü­ßen mich graue Salz­qua­der – und schon beginnt die Rei­se in eine ande­re Welt. Seit dem 13. Jahr­hun­dert wur­de hier Salz abge­baut – in einem ver­zweig­ten Stol­len­sys­tem, das tie­fer reicht, als man glau­ben mag.

Die Tour beginnt mit zahl­lo­sen Stu­fen hin­ab in die Tie­fe. Unter Tage ist es kühl, tro­cken – und stau­nens­wert. Zwi­schen geschnitz­ten Figu­ren und alten Gerät­schaf­ten, zwi­schen Holz­ver­stre­bun­gen und sagen­haf­ten Skulp­tu­ren führt der Weg durch eine Welt aus Salz. Beson­ders ein­drucks­voll ist die Kapel­le der Hei­li­gen Kuni­gun­de mit ihren Salz­kris­tall-Kron­leuch­tern – 110 Meter tief, fest­lich und vol­ler Atmo­sphä­re. Und dann, wie aus dem Nichts: ein Kon­zert­saal am Salz­see, mit Echo, Tie­fe und einer selt­sa­men Andacht.

Kapel­le der Hei­li­gen Kuni­gun­de

Wie­licz­ka ist mehr als ein Berg­werk – es ist eine unter­ir­di­sche Welt, die Arbeit, Kunst und Glau­be mit­ein­an­der ver­schmel­zen lässt.

Røros – Kupfer in der Kälte

Die Stra­ße von Trond­heim führt durch Wei­den und Win­ter­or­te, vor­bei an gras­ge­deck­ten Dächern und einem Fluss, der sich durch die Wei­te schlän­gelt. Als ich das Berg­bau­mu­se­um bei der Olavs­gru­be errei­che, ste­he ich plötz­lich in einer bizar­ren Farb­welt aus gel­bem und rotem Schlamm. Wind und Käl­te trei­ben mich bald zurück ins Auto – Røros eine der käl­tes­ten Gegen­den der Welt. Und es fühlt sich auch so an.

Olavs Gru­be

Spä­ter spa­zie­re ich durch den Ort, der wirkt wie ein offe­nes Geschichts­buch. Alte Hüt­ten, bunt gestri­che­ne Häu­ser, klei­ne Gas­sen – mit­ten­drin die gro­ße schwar­ze Hal­de, ein schwar­zes Mahn­mal aus Schla­cke und Schweiß. Ich besich­ti­ge die Kir­che, strei­fe durchs Muse­um, gehe auf die Hal­de, so lan­ge es das Licht erlaubt. In Røros wird Geschich­te nicht insze­niert, son­dern gelebt. Man spürt sie in der Stil­le, in der Käl­te, im knir­schen­den Schritt über das alte Pflas­ter.

Røros

Kinderdijk – Im Bann des Wassers

Etwa ein Vier­tel der Nie­der­lan­de liegt unter dem Mee­res­spie­gel – und seit dem Mit­tel­al­ter rin­gen die Men­schen hier dem Was­ser ihr Land ab, mit Dei­chen, Schleu­sen und Wind­pum­pen. Kin­der­di­jk ist das wohl anschau­lichs­te und schöns­te Bei­spiel die­ser uralten Inge­nieurs­kunst. Ich par­ke auf dem Deich und sehe die Rei­he der 19 Wind­müh­len in der Nach­mit­tags­son­ne.

Sie ste­hen hier zwi­schen Kanä­len, Schleu­sen und Däm­men – ein Meis­ter­stück nie­der­län­di­scher Was­ser­bau­kunst. Je wei­ter ich gehe, des­to ruhi­ger wird es. Die Müh­len dre­hen sich lang­sam im Wind, spie­geln sich im Was­ser, wäh­rend über mir der Him­mel ver­blasst. Ich blei­be, bis die Son­ne hin­ter den Müh­len unter­geht und der Sichel­mond über den Deich steigt.

Kin­der­di­jk

San Leucio – Brokat für den König

Hoch über Nea­pel liegt San Leu­cio – eine Sei­den­ma­nu­fak­tur, gebo­ren aus den Idea­len der Auf­klä­rung. König Fer­di­nan­do IV. ließ sein Jagd­schloss zum Mit­tel­punkt eines Expe­ri­ments umbau­en: mit Spin­ne­rei und Webe­rei, mit Woh­nun­gen, Schu­le und medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung.

Ich park­te unter Apfel­si­nen­bäu­men, der Ort leicht ver­wit­tert, char­mant. An der Haus­ecke plät­scher­te ein Trink­was­ser­brun­nen, wie immer für alle. Im Schloss: his­to­ri­sche Web­stüh­le mit Loch­kar­ten für die Mus­ter, Natur­far­ben, Stof­fe, könig­li­che Gemä­cher – jede Hal­le voll Geschich­te. Kein Prunk­pa­last, son­dern ein Ort geleb­ter Uto­pie – spür­bar in jedem Bro­kat­fal­ten­wurf, zwi­schen den Mau­ern und in den Gedan­ken. Und unten im Ort: die Arbei­ter­häu­ser – ein­fa­che Bau­ten mit gro­ßen Ideen. Gleich­heit, Bil­dung, Gesund­heit. Eine Kom­mu­ne im Geist des 18. Jahr­hun­derts.

Hier in San Leu­cio, zwi­schen Bro­kat und Back­stein, Sei­de und Sozi­al­idee spie­gelt sich das wider, was auch die Orte des ers­ten Teils beweg­te: der Ver­such, Leben und Arbeit neu zu den­ken.

Und die Geschich­te lie­ße sich noch wei­ter fort­set­zen: Zu Klös­tern, wo die Mön­che Fort­schritt erfan­den. Zu Berg­bau­re­gio­nen wie Falun oder Nord-Pas-de-Calais, wo gan­ze Land­schaf­ten umge­gra­ben wur­den. Zu Schiffs­he­be­wer­ken am Canal du Midi, zu den König­li­chen Sali­nen in Frank­reich, die Arbeit in geo­me­tri­sche Schön­heit klei­de­ten. Und zu Ram­mels­berg und Wal­ken­ried, wo Was­ser­wirt­schaft und Tech­nik eine lan­ge Sym­bio­se ein­gin­gen.

Euro­pa bewahrt vie­le die­ser Orte wie stil­le Archi­ve des Fort­schritts. Wer ihnen zuhört, hört mehr als nur Ver­gan­gen­heit.


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