Die mit den Händen sehen

Der indi­sche Vater der Thai-Mas­sa­ge, Jiv­a­kar Kumar Bhac­cha, ist ein alter Spe­zi vom Bud­dha. Vor Beginn jeder Thai-Mas­sa­ge wird er mit einem Gebet ver­ehrt. »Heil­sa­me Berüh­rung« bedeu­tet das ursprüng­li­che Wort für Thai-Mas­sa­ge in unse­re Spra­che über­setzt. Man­che Bang­kok Urlaubs­bio­gra­phie legt ande­re Über­set­zungs­va­ri­an­ten nahe. Dum­me Kli­schees, mehr nicht.

Heil­sa­me Berüh­rung. Ich über­le­ge, wie es wäre, wenn jemand tat­säch­lich mit den Hän­den sehen könn­te. Allein durch das Berüh­ren eines Kör­pers mit den Hän­den fühl­te, was für einem Men­schen er hier begeg­ne. Und was für eine Geschich­te die­ser den Hän­den zu erzäh­len hät­te. Da sehe ich auf dem Weg zu mei­nem Hotel in der Thal­ang Road ein Schild: Mas­sa­ge by the Blinds.

Kön­nen blin­de Men­schen mit den Hän­den sehen? Kön­nen sie mei­nen momen­ta­nen oder gar ver­gan­ge­nen Zustand wahr­neh­men? Mei­ne Gedan­ken und Träu­me durch ertas­ten erken­nen?

»Nachts träu­me ich«, erzählt mir Som­chai, der blin­de Mann, auf des­sen Arbeits­flä­che ich nun hung­rig auf dem Rücken lie­ge. »Wenn ich träu­me, kann ich weder Bil­der noch Far­ben sehen. Doch ich neh­me Geräu­sche und Berüh­run­gen wahr, Wor­te und Stim­mun­gen. Und genau so träu­me ich auch.«

»Wuss­test Du«, fragt er, »dass Blin­de nicht bes­ser hören kön­nen als Sehen­de? Bei­de Gehö­re sind iden­tisch aus­ge­bil­det. Blin­de sind nur bes­ser auf das Hören trai­niert. Und es gibt kei­ne Ablen­kung durch visu­el­le Rei­ze.« Acht­bar, dass ein Blin­der die man­geln­de Funk­ti­on eines Sinns, als einen Vor­teil und nicht als einen Ver­lust begreift.

Som­chai gibt mir ein Bei­spiel: »Auch Sehen­de kön­nen den Wert unter­schied­li­cher Geld­schei­ne ertas­ten.« Nur ach­ten sie nicht dar­auf, weil sie es nicht müs­sen. Was für eine enor­me Leis­tung, als Som­chai mir einen Geld­schein wech­selt, ohne lan­ge nach den rich­ti­gen Wech­sel­schei­nen tas­ten zu müs­sen: Alle Baht Bank­no­ten sind von den Abmes­sun­gen her fast iden­tisch. Ich wüß­te nicht ein­mal, ob es thai­län­di­sche Baht oder pol­ni­sche Zlo­ti sind, die mir da unter­ge­ju­belt wer­den!

Blin­de haben einen schwie­ri­gen Start in Thai­land. Sie gehen nicht zur Schu­le und erhal­ten kei­ne Aus­bil­dung. Spä­ter fin­den sie gewöhn­lich kei­ne Jobs und sind auf Almo­sen ange­wie­sen. Daher zäh­len sie zu den Ärms­ten der Gesell­schaft. Kei­ne Chan­ce auf Auf­stieg – eigent­lich: »Ich habe frü­her ein­mal Lose für die Lot­te­rie ver­kauft«, erzählt mir Som­chai. »Aller­dings haben die Leu­te immer mehr Lose aus der Kis­te genom­men, als sie bezahlt haben. Das ist dem Chef irgend­wann auf­ge­fal­len.«

Auf der Mas­sa­ge­bank neben­an trägt die blin­de Frau, die ihrem Kun­den gera­de ver­gnügt ihr Knie in den Unter­schen­kel rammt, eine schwar­ze Stevie Won­der Son­nen­bril­le und lacht. Noch so ein Kli­schee also. Dass es eines ist, zeigt, dass ihre blin­den Kol­le­gen alle­samt kei­ne Bril­le tra­gen. Auch bei Som­chai sind die Augen sicht­bar. Sein rech­ter Aug­ap­fel scheint manch­mal rechts aus den Augen­höh­len zu fal­len, bevor er zur Mit­te zurück­schnellt, dann wie­der fla­ckert er auf und ab.

Behut­sam, für­sorg­lich und lang­sam bewe­gen sich die Mas­seu­re auf den Kör­pern ihrer Kun­den, tas­ten, schie­ben, ran­gie­ren, gezielt und sicher. Es sind wie­gen­de Bewe­gun­gen, fein vom Kör­per­ge­wicht fern­ge­steu­ert. Vor und zurück. Dabei spie­gelt sich die Kon­zen­tra­ti­on auf den ande­ren Kör­per in der Mimik. Punkt­ge­nau und wohl­do­siert wird immer wie­der Druck auf die Stras­se mei­ner Ner­ven­au­to­bahn aus­ge­übt, der bewirkt, dass eine inten­si­ve woh­li­ge Wär­me auf­steigt, die bis in den Kopf fließt und einem die­ses schö­ne Gefühl von Gebor­gen­heit gibt.

Ich will wis­sen, was Som­chai fühlt, wenn er mei­ne Mar­ma­punk­te mas­siert und akti­viert. Nun tas­tet er nach mei­nem lin­ken Fuß. Sicher umfasst er ihn gleich beim ers­ten Zupa­cken. Als er bei mei­nem lin­ken Ober­schen­kel ange­kom­men ist, sagt er plötz­lich in mei­ner Spra­che: »Kaputt«. Und es stimmt, ich spü­re Schmer­zen. Som­chai nimmt sich wei­te­res Gelän­de mei­nes Kör­pers vor. Ich sei auf einer lan­gen Rei­se, sagt er. Aha, soso. Es könn­te die Rei­se mei­nes Lebens oder mei­ne Welt­rei­se gemeint sein. Schlau­er Fuchs! Er könn­te auch das Horo­skop in der Gala dekla­mie­ren. Passt auch immer, irgend­wie.

Dann kommt aller­dings ein Satz, der nach­hallt: »Wenn ich hier drü­cke, kann ich sehen, was Du ges­tern gemacht hast«, säu­selt er mys­tisch in mei­ne Rich­tung. Trotz des Nebels bin ich plötz­lich hell­wach und bedeu­te ihm, sofort zu drü­cken, wie eine Teig­wal­ze, die Reis­band­nu­deln für Phat Thai, platt walzt. Er stemmt sei­nen Ellen­bo­gen in mich hin­ein und schliesst die Augen, den Kopf in den Nacken gelegt. Was folgt ist eine Art lamen­tie­ren in einer Spra­che, die ich nicht ver­ste­he. Und plötz­lich: Nichts. Rei­ne Stil­le.

Ich traue mich nicht, ihn anzu­spre­chen, da er wei­ter­hin ruhig in sei­ner Posi­ti­on ver­harrt. Es könn­te jeden Wim­pern­schlag zur Erkennt­nis kom­men. Was mag er da nur sehen? Hek­tisch fahn­de ich bei einer geis­ti­gen Inven­tur des gest­ri­gen Tages nach Ereig­nis­sen, die mir einem blin­den Sehen­den gegen­über unan­ge­nehm aus­ge­legt wer­den könn­ten – zum Bei­spiel zwei Lose neh­men, aber nur eines bezah­len. Aber auch bei mir: Nichts.

Mutig platzt es dann aus mir her­aus und ich ver­hö­re Som­chai, was er denn gese­hen habe. »Stil­le. Dun­kel­heit«, ant­wor­tet nun die­ser. Ich beschlie­ße, nicht wei­ter nach­zu­fra­gen und direkt schluß­zu­fol­gern: Er muss sich bei sei­ner Zeit­rei­se just in dem Moment mit sei­nem Ellen­bo­gen in mein Fleisch ein­ge­gra­ben haben, in dem ich ges­tern Mit­tags­schlaf gehal­ten hat­te, genau­so, wie es die Thais die meis­te Zeit des Tages und in allen Lagen, fried­lich und still, als Kunst beherr­schen. Doch Som­chai hat eine eige­ne Erklä­rung: »Wäre es nicht wun­der­voll, wenn wir ver­ges­sen könn­ten? Dann wür­den wir in jedem Moment neu gebo­ren.«

Ich lege die Hän­de auf mei­ne Augen, schlies­se die­se und bin erleich­tert, dass ich für ein paar Momen­te nicht sehe. Ich ver­su­che zu ver­ges­sen und füh­le mich wie neu gebo­ren.

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