Im Colectivo-Dschungel

Argen­ti­ni­en, Febru­ar 2014.
Bus-Fah­ren ist in die­ser Stadt eine Sache für sich. Um die 450 ver­schie­de­ne Bus­li­ni­en bah­nen sich jeden Tag den Weg durch den Stra­ßen­dschun­gel. Und man­che haben nicht nur eine Rou­te, die sie ent­lang fah­ren, son­dern gleich zwei oder drei. So wirk­lich ver­stan­den habe ich das Sys­tem der Colec­tivos – wie die öffent­li­chen Bus­se in Argen­ti­ni­en genannt wer­den – glau­be ich, noch nie.

Die Ver­wir­rung beginnt an dem Punkt, an dem man her­aus­fin­den muss, wel­cher oder wel­che Bus­se einen zum gewünsch­ten Ziel brin­gen. Zwar fah­ren die Colec­tivos fixe Rou­ten, der Fahr­plan – ein klei­nes Heft, das man “Guia T” nennt und unent­behr­lich zum Fort­be­we­gen in der Stadt ist – wirkt aber auf den ers­ten Blick äußerst kom­pli­ziert. Dar­in sind ledig­lich die Stra­ßen ver­merkt, die der Bus ent­lang fährt. Will ich von Punkt A zu Punkt B muss ich auf einer Stra­ßen­kar­te, die in Qua­dra­te unter­teilt ist, den Ort suchen, an dem ich mich gera­de befin­de. Dazu muss man wis­sen: In die­ser Stadt denkt man grund­sätz­lich in Qua­dra­ten, das hat mit dem Schach­brett­mus­ter zu tun, in dem die Stra­ßen ver­lau­fen. Aber dazu ein ande­res Mal. Habe ich mein Käst­chen gefun­den, muss ich nun im ent­spre­chen­den Qua­drat auf der gegen­über­lie­gen­den Sei­te in der Guia T nach­se­hen, wel­che Bus­se in der nähe­ren Umge­bung vor­bei­kom­men. Das­sel­be mache ich mit mei­nem Ziel­punkt B.  Ste­hen in den bei­den Käst­chen die­sel­ben Zah­len, kommt mein Bus bei A und bei B vor­bei – opti­mal, dann brau­che ich nur noch die Hal­te­stel­le suchen. Das ist aber äußerst sel­ten der Fall, meis­tens muss man zwei oder drei Bus­se neh­men, um von A nach B zu gelan­gen. Und dann ist das alles irgend­wie wirk­lich kom­pli­ziert.

Vie­le Stun­den habe ich in mei­nem Leben ver­mut­lich damit zuge­bracht, die Rou­ten der Bus­se in der Guia T zu stu­die­ren. Doch das ist nicht die ein­zi­ge Her­aus­for­de­rung, mit der man beim Bus-Fah­ren kon­fron­tiert wird. Die Colec­tivos hal­ten nicht frei­wil­lig an jeder Hal­te­stel­le. Will ich ein­stei­gen, muss ich die Hand heben und dem Bus­fah­rer so zei­gen, dass ich mit­fah­ren will. Ein­stei­gen, ihm sagen, wie viel ich für mei­ne Fahrt zah­le (oder das Fahrt­ziel nen­nen und der Bus­fah­rer tippt den ent­spre­chen­den Betrag ins Sys­tem), Sitz- oder Steh­platz suchen. Letz­te­res ist häu­fi­ger der Fall, außer man steigt ziem­lich zu Beginn der Rou­te zu. Und dann soll­te man sich sei­nen Steh­platz mög­lichst weit hin­ten im Bus suchen, denn bestimmt stei­gen noch mehr Leu­te ein, so dass der Bus wie eine Sar­di­nen­do­se erscheint.

Habe ich das Glück und darf mit­fah­ren: Wie weiß ich nun, wo der Bus, der ja nicht ein­fach an jeder Hal­te­stel­le ste­hen bleibt, hält? Eine Durch­sa­ge oder Anzei­ge der Hal­te­stel­len gibt es nicht. Der Trick: Ich muss wis­sen, wie die Quer­stra­ße heißt, bei der ich unge­fähr aus­stei­gen will (und dazu muss ich – tat­aaa! – die Rou­te des Bus­ses ken­nen). Kurz bevor der Bus hal­ten soll, muss ich den Bit­te-Aus­stei­gen-Las­sen-Knopf drü­cken, um dem Fah­rer wie­der­um zu zei­gen, dass ich nicht län­ger mit­fah­ren will. So hat mich die­se Stadt zur per­ma­nen­ten Bril­len­trä­ge­rin gemacht, denn ohne Bril­le ist es schwie­rig, die Schil­der mit den Stra­ßen­na­men zu ent­zif­fern. Und dann ist es Glücks­sa­che, ob sich in der Nähe eine Hal­te­stel­le befin­det oder nicht. Ich prä­ge mir inzwi­schen bei den meis­ten Fahr­ten (außer ich ken­ne die Stre­cke, weil ich sie schon so oft gefah­ren bin) die zwei oder drei Namen der Quer­stra­ßen vor mei­nem Aus­stiegs­punkt ein, damit ich die­sen Knopf recht­zei­tig drü­cken kann. Und trotz­dem: unzäh­li­ge Kilo­me­ter bin ich schon zu Fuss gelau­fen, weil ich zu früh oder zu spät gedrückt habe oder es an der ent­spre­chen­den Stel­le ein­fach kei­ne Hal­te­stel­le gab.

Es gibt vie­le Din­ge im Colec­tivo-Dschun­gel, die erstau­nen. Oft kann es sein, dass man ewig auf einen Bus war­tet und ein­fach kei­ner daher­kommt. Und dann kann es pas­sie­ren, dass gleich vier oder fünf Bus­se auf ein­mal – wie in einem Kon­voi – vor­fah­ren. Oder dass sie, wenn zum Bei­spiel eine Stra­ße wegen eines Pro­tests gesperrt ist, von ihrer Rou­te abwei­chen und die­sen über Paralell­stra­ßen umfah­ren. Manch­mal steht man an der Hal­te­stel­le, der rich­ti­ge Bus kommt, fährt aber mit einem ent­schul­di­gen­den Schul­ter­zu­cken des Bus­fah­rers wei­ter, weil der Bus bereits gesteckt voll ist. Dann heißt es auf das nächs­te Colec­tivo war­ten. Und dann kann es wie­der sein, dass der Bus­fah­rer ein­fach an einem Kiosk ste­hen bleibt, um sich schnell etwas zu kau­fen. Dass ich mit­ten in der Nacht auch schon irgend­wo im Nada, im Nichts gelan­det bin, ohne zu wis­sen, wie ich von dort aus nach Hau­se kom­me, erwäh­ne ich bes­ser nur am Rand. Das Gute an die­sem geord­ne­ten Cha­os der Colec­tivos: Man muss es nicht so ernst neh­men. Wenn es wirk­lich sein muss, blei­ben Bus­fah­rer auch ger­ne mal dort ste­hen, wo eigent­lich kei­ne Hal­te­stel­le ist.

Und trotz­dem: Inzwi­schen kann ich mich eini­ger­ma­ßen durch die Stadt bewe­gen und lau­fe kei­ne Mara­thon­stre­cken mehr, weil ich mich im Colec­tivo-Dschun­gel ver­irrt habe. Und das – ganz ehr­lich – schrei­be ich jetzt doch mit einem klei­nen biss­chen Stolz in mei­ner Brust.

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Antworten

  1. Avatar von Nina

    Ich kann gut nach­füh­len, was du meinst. Wir waren auch zwei Mona­te in Bue­nos Aires und irgend­wann, irgend­wann hat­ten wir es eini­ger­mas­sen raus, wel­chen Bus wir wohin neh­men müs­sen. Vie­le Bus­se sind trotz unüber­seh­ba­rer Win­ke-Zei­chen an uns vor­bei­ge­rauscht und an den For­mel-1-Fahr­stil haben wir uns auch nur lang­sam gewöhnt ;-)… aber ja, ist man mal im Bus und fin­det die Hal­te­stel­le, wo man raus will, erspart man sich wei­te Lauf­stre­cken. Das ist schon pri­ma.

  2. Avatar von Mah

    Oja. Bus­fah­ren. Ich hab das Gefühl, dass ist über­all eigent­lich das Span­nends­te 😉

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