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Dalhousie lag hinter uns. Die Eisenbahn fuhr in atemberaubend langsamer Geschwindigkeit weiter nach Osten, auf der Fahrt durch die Zentralprovinz von Hatton nach Badulla unterhielten wir uns mehrere Stunden mit einem sehr aufgeweckten Singhalesen über Literatur, Erich Honecker und die tendenziell »mafiös« agierende Regierungsfamilie Sri Lankas, den dubiosen Rajapaksa-Clan.
Unser eigentliches Ziel: die Ostküste, das Meer, aber das würde heute auf keinen Fall mehr funktionieren.
Hinter der Scheibe des Zugfensters zog ein feuchter, dunkler Abend herauf, je stärker die Nacht den Tag verdrängte, umso greller blendete das Licht im Abteil, umso ungesunder sah unsere Gesichtsfarbe aus, und passend zu dieser gewissen artifiziellen Beklemmung war das Hotel in Badulla dann auch ein anonym moderner und trotzdem abgeranzter Zweckbau, also die denkbar schlechteste Kombination, die man bekommen konnte. Whatever, dachten wir uns, das mit viel Knoblauch angemachte Hähnchen entschädigte für vieles.
Immer nach Osten fuhren wir am nächsten Tag und wussten: Irgendwann ist da das Meer, Grenze, Ende.
Kurz vor Arugambay, der nicht mehr ganz so geheimen Surferenklave an der Ostküste, kam es zu dem letztlich alles entscheidenden Moment, der das Reisen als sinnvolle Handlung überhaupt erst möglich macht: Das absolute Entferntsein von den Dingen, quasi die totale örtliche Isolation des Individuums in der Ferne wird nicht mehr als Einsamkeit empfunden, sondern als ein wohliges Gefühl des Aufgehoben-Seins in allem, was ist und noch kommen wird. Man ist ganz bei sich, schaut zurück und dann nach vorne, und man muss lächeln: Das hatte ich an anderen Orten der Welt auf anderen Kontinenten schon so erlebt, und hier kam es plötzlich zurück.
Die Sprachlosigkeit war überwunden.
Ich wurde auf einmal richtig reizoffen, ich war gespannt, was da jetzt kam, was nun alles eintreten müsste oder eben nicht, das wäre dann auch in Ordnung gewesen. Ich war wieder in einem Zustand des produktiven Vortastens, der mich mit großer Freude erfüllte; man muss etwas schaffen aus den Erlebnissen, als das wieder möglich schien, erhielt die Reise einen Auftrieb. Ich machte Notizen.
Man muss für jede Reise die richtige Sprache finden, aber auch das richtige Maß an Distanz und Zoom: Wie nah geht man ran auf welches Detail und für was? Was schwingt eher Grundsätzliches mit, das gesagt werden müsste? Man kann das nicht im Voraus planen, man findet einen Ton.
Es ging in diesem Fall nicht darum, die Beschaffenheit der Umwelt mit messerscharfer Genauigkeit auszumessen, es ging darum, Worte zu finden für den Zustand in einem und das zu verknüpfen mit dem, was draußen ablief.
Natürlich geht es bei dieser Art des Schreibens, im Gegensatz zu journalistischen Texten im engeren Sinne, nur um einen selbst, aber das macht auch völlig Sinn, am Ende bringt man ja auch nur einen Bruchteil aller Wahrnehmungen wirklich als Text zum Ausdruck, denn es gibt noch vieles andere, über das man bei dieser Herangehensweise nur am Rande schreibt: Essen und Trinken, Gespräche mit anderen Menschen, Szenen und Orte, zufällige Begebenheiten, Genuss und dumpfe Genügsamkeit.
Was lässt sich sagen über einen Ort wie Arugambay, ohne die ewig gleichen Abziehbilder zu zeichnen von Weißen-Enklaven in Entwicklungsländern, in denen die junge, entgrenzte, postmoderne Generation des Westens Antworten sucht auf die drängende Frage nach dem Sinn all ihrer Beschäftigungen, denen sie zu Hause nachgehen?
Unheimlich schwierig, wieder hat man so Wertungen im Kopf, die ja im Prinzip erst einmal ungeprüft bestehen und hinterfragt werden müssen.
Man ist leider auch schnell in diesem unangenehmen Kosmos des Backpackens, das als Distinktionsritus wirklich sowas von ausdient hat. »Ich war vier Wochen mit dem Rucksack in xy unterwegs«, das ist ein Satz, der höchstens noch den kleingeistigen Provinzbekanntenkreis beeindrucken soll und von Menschen aufgesagt wird, die sich gerne als besonders individuell und weltgewandt darstellen.
Backpacking is over – sofern es je zu einem ästhetisch-moralischen Prinzip getaugt hat, denn es heißt erst einmal überhaupt nichts. Es kommt wie bei den meisten Dingen im Leben auf den genauen Blick an.
Als wir dann dort waren, im stillen Surferparadies Arugam Bay zur off-season, da war dort dieses Meer, da waren diese Palmen, die Vögel, die Holzhütten, und es war so, wie man sich das vorgestellt hatte, vielleicht nicht ganz so südseemäßig: Das Wasser war trübe, man konnte nicht bis auf den Grund schauen.
Wir gingen in das einzige Resort, das geöffnet hatte, was den Vorteil mit sich brachte, dass man gleich alle Menschen traf, die es in der Stadt zu treffen gab, wir brachten unser Zeug in eine Hütte, dann gingen wir direkt zum Strand.
Da sitzt man dann in der Sonne, und wenn die Welle zurückfließt, trägt sie einen – langsam und Stück für Stück – immer weiter ins Meer, man lässt das einfach passieren, und der nasse Sand wird so schnell wieder hell, als ordneten sich Kristalle neu an.
Wir waren zum ersten Mal irgendwo wirklich angekommen, das konnte man nun sagen.
Ich dachte an August Engelhardt, weil das neue Kracht-Buch ja gerade draußen war über den geflohenen Deutschen in seinem Kokosnusparadies, das vergeht, und man teilt kurz den wirren Gedanken, dass die Sonne und das Meerwasser alles sind, was es braucht zum Leben.
Vier Männer schoben ein buntes Boot in die Wellen, die am Abend nicht mehr so kräftig waren, und fuhren raus zum Fischen, jetzt, wo die Sonne als orangeroter Kreis am Horizont unterging. Der Wind ging ganz leicht und war immer noch ganz warm, ein Hipster-Surfer ließ sich von einem der Strandhunde das Gesicht lecken, anderswo balgten sich zwei Streuner, bis sie wieder schläfrig wurden, über der Brandung sammelten sich Raben: schwarze Vögel vor wolkenlosem Himmel, wie blaues Stracciatella-Eis.
Ich hatte das immer verlacht als naive Utopie, dieses Zusammenkommen an einem Ort irgendwo in der Ferne, im Nirgendwo, mit Stromern und Aussteigern, kruden Leute, die Geschichten erzählen können, alt, jung, mittelalt, einer entzündet abends das Licht auf der hölzernen Veranda, Musik läuft, es wird erzählt, gelacht, getrunken, so weit weg vom nächsten Ort, an dem das so ähnlich stattfinden könnte, und sich da ganz aufgehoben vorkommen für eine kurze Zeitspanne, bis es einen woanders hinzieht.
Der gefühlte Abstand war enorm, so hatte ich das noch nicht wahrgenommen bisher, obwohl ich an Orten gewesen war, die exotischer und fremder sind als Sri Lanka, wo die Eindrücke unerbittlicher, roher und unverwechselbarer auf einen niedergehen, was im Geist dazu führt, dass sich die Gedanken an diese Zeit ausdehnen, dass sich die Zeit selbst ausdehnt und die Erinnerung verdichtet: gestauchte Wahrnehmung.
Da waren die Deutschen, ziemlich viele, natürlich auch die brutalen Ultrahippies, die verträumten Surferdudes, die erst kaum reden und dann ganz viel, die hier schon zwei, drei Monate waren oder an einem anderen Ort irgendwo im Süden oder im Norden der Insel, ganz egal; dann noch ein dauerbreiter Franzose, der mit seiner Freundin hoch nach Nepal wollte zu einem Sherpa, der alle Finger verloren hatte, von dessen Existenz man nur gehört hatte über die Freundin eines Freundes, nein, ein Rückflugticket habe man nicht. Sowas gab es also wirklich, für mich war das neu.
In der Lodge war erst einmal jeder willkommen, die Menschen verband der simple Umstand, dass sie zusammen hier waren.
Der Gedanke: Im Entziehen liegt ein viel vernünftigerer Weg als in dem ewigen Hinterherlaufen, dem Dranbleiben, dem Sich-immer-an-die-Spitze-stellen, das ich aus Berlin so gut kannte; das Gefühl, immer einen Schritt weiter vorne sein zu müssen vor den anderen Leuten, und daraus die Legitimation für die eigene Überhöhung ziehen, dieser falsche, weil kaputt machende Mechanismus, und hier: sich rausnehmen, Zeit vergehen lassen und an einer Stelle verharren, zur Ruhe kommen.
Ich hatte Hoffnung, dass das klappt, man würde sehen, wie das zu Hause wäre.
Die Surfer jedenfalls wussten intuitiv, wie man es anstellt: Auf dem Wasser treiben, die Wellen kommen lassen, und wenn dann eine dabei ist, die passt, mitgehen.
Trunkene Euphorie in der Nacht: Da war Mike, der Supertyp aus Kalifornien, der in Bangkok als Lehrer arbeitete, da war Max, der grummelige, aber doch nette Berliner Clubbesitzer, gewissermaßen die Projektion des Zuhause in die Ferne und die logische Aufhebung dieses Gegensatzes, da war Kuna, der Tamile, dem die Lodgeanlage gehörte, und da waren mein Bruder und ich, und wir liefen alle zusammen in das unendliche nächtliche Schwarz des Indischen Ozeans, der aussah, als würde er alles verschlucken, über uns hell leuchtende Sterne, die niemand zählen konnte und das krasse Gefühl erzeugten, wirklich auf einer Kugel im Raum zu gravitieren, im Meer fluoreszierte grün schimmerndes Plankton, Glühwürmchen unter Wasser, die Luft war warm, die Wellen warfen uns um, und danach fielen wir in einen tiefen Tropenschlaf. Am Strand schlug die Brandung heftig auf, das konnte man deutlich hören.
Wer wusste schon, wie lange so etwas in Arugam noch möglich war?
Die Ostküste und der Norden waren nach dem Ende des Bürgerkriegs zwischen der singhalesischen Regierung und den tamilischen Separatisten zwar befriedet, doch schon bald, so meinten manche, könnte es wieder losgehen. Einschussnarben waren noch immer auf den Häusern zu sehen, oben in Trincomalee, das jedenfalls berichteten die Surfer.
So sehr das bewusste Ankommen spürbar gewesen war, so deutlich war es nach drei Nächten Zeit für einen Aufbruch.
Mir wurde klar: Das Ziel war möglicherweise, die Gedanken zum Schweigen zu bringen, und das war nach der Fahrt vom Westen in den Osten der Insel soweit gelungen. Das schreiberische Dilemma: Alles noch einmal in einer Geschichte aufkochen? Funktioniert das oder macht es alles wieder kaputt?
Das ließ sich noch nicht sagen.
Arugam wuchs mit der Entfernung, im Kontrast zu dem, was folgte: Pauschaltouristen an den Stränden der Südküste, und in Mirissa, da wurde es ganz klar, warum es nicht ging, warum es aus Sicht des Reisenden, der sich selbst beim Wort nimmt, nicht mehr funktionierte an manchen Orten zu sein: unverhältnismäßig teure Preise, unfreundliche Kellner, die gesettelten aber eben doch noch aktiven Familien, die sich auf den Liegen ausstreckten und, ja im Ernst, einfach sonnten.
In den Büchern, die sie lasen, wenn die Langeweile unerträglich wurde, lag alles Unausgesprochene aus Jahren, das unter der tropischen Sonne nur noch mehr zum Vorschein kam und in der Folge nur noch entschiedener verdrängt werden musste.
Es wurde so überdeutlich an diesem kleinen, abgegrenzten, schrecklich inszenierten Strandabschnitt: Ein Paradies macht nichts perfekt, suggeriert das aber, etwas, das nicht geht. Was war so unerträglich?
Die Menschen hier redeten wenig und lachten noch seltener, das ist immer ein schlechtes Zeichen. In Arugam war jeder auf den anderen zugekommen, man begrüßte sich und erzählte seine Geschichte, diese Handlungsweise hinterfragte keiner, niemand empfand das als aufdringlich, jeder machte da mit, ganz einfach war das.
In Mirissa war es anders, die Menschen waren sozusagen in der Gemeinschaft isoliert. »Es geht hier um Sehen und Gesehen-Werden«, sagte mein Bruder und er hatte natürlich Recht, nur das Sehen und Gesehen-Werden war erst einmal der Gegensatz zum Miteinander-Sprechen.
Es gab hier keine Idee, nicht einmal die Idee von einer Idee von irgendetwas, nur Sonne, Palmen, Meer: yeah. Man erhoffte sich das ganz normale Leben, nur viel besser, so funktionierte das nicht.
Es war im Prinzip nötig gewesen, noch einmal den Beweis zu haben, dass eine bestimmte Art des Reisens nur noch eingeschränkt möglich war, dass ein Ort allein durch seine Entfernung zur Heimat noch überhaupt nichts transportierte, dass bestimmte Teile der Welt einfach verloren waren.
Man ist schnell bei der Frage, wie und aus welchen Motiven man überhaupt noch reisen kann.
Ein abschreckendes Beispiel sind ja immer die Menschen, die nichts verstehen, weil sie nicht hinschauen und auch nicht nachdenken, die quasi einen blinden Fleck der Wahrnehmung haben auf die Welt und auf die Menschen und auf die Frage, wie es vielleicht möglich wäre, damit seinen Frieden zu machen, die dann auch nicht reisen, sondern höchstens nach Ibiza fliegen oder an die türkische Mittelmeerküste oder für einen dieser pseudo-mondänen Kurztrips nach New York, den ja jetzt alle machen: bitte ein schönes Appartement, dumm herumlaufen und Sachen angucken, die im Reiseführer stehen, Hauptsache Shopping, so diese Richtung.
Häufiger, aber schwerer Irrtum über solche Menschen: Sie sind glücklich, weil sie nicht reflektieren. Stimmt nicht, meistens nicht, das Gegenteil zu oft gesehen.
Dann gibt es die Leute, die genau hinschauen und Ansichten, Meinungen und vor allem die ästhetischen Positionen, aus denen man alles und jeden beurteilen kann, genau unterscheiden können, aber sie finden am Ende fünf Gründe für und gegen jede Perspektive, was dazu führt, dass eine bestimmte Art, die Dinge zu tun, nur vorübergehend als Geste funktioniert und sozusagen nicht immanent im Handeln ist, weil man sich eben nicht vernünftig Gedanken gemacht hat, sondern weil es einfach en vogue ist, das so zu tun oder so zu sehen.
Der Backpacker in Thailand, der Saufurlauber auf Mallorca, der sophisticated traveller in Stockholm: alles durchschaubar, alles unmöglich, höchstens als Adaption. Das Reisen gelingt aber erst dann, wenn der Wert der Erfahrung den Wert der Pose überwiegt.
Uns blieb nach zwei Nächten in Mirissa nichts anderes übrig, als uns von der Küste abzuwenden und mit einem Bus über schmale Straßen nach Norden zurück in die Berge zu fahren, zum ultimativen Gegenpart jener Kulisse, die einzig für die Touristen aufrecht erhalten wurde, folgerichtig also dorthin, wo die Umgebung maximal menschenfeindlich war: in den Regenwald.
In Deniyaya sahen die Häuser durch den fortwährenden Regen so schimmelgrün aus, als würden sie noch vor dem nächsten Monsun zerfallen. Hier oben war die Luft wieder kühler, feuchter, der Platzregen weichte den Boden auf, als wir auf der überdachten Terrasse unserer Herberge hinaus in den trüben Nachmittag blickten.
Unser Gastgeber, Bandula Rathnayaka, war gleichzeitig der Mann, der uns am kommenden Tag in den Sinhajara Rain Forest mitnehmen sollte: ein ausgesprochen kundiger und sympathischer Mann.
Im Nationalpark probierten wir die sonderbarsten Früchte und Sträucher, Bandula konnte das medizinische Potenzial nahezu jeder Pflanze mühelos benennen, wir sahen Eidechsen und Schlangen und entfernten regelmäßig alle Blutegel, die sich – einmal auf dem Schuh festgeklebt – beständig ihren Weg zur nächsten freien Hautstelle suchten. Sirren und Piepen durchzog den wilden, mehr als tausend Jahre alten Wald, es wurde schnell klar, dass man dieser Natur als im anthropologischen Sinne kultivierter Mensch heillos unterlegen war.
Wir badeten im natürlichen Bassin eines Gin-Ganga-Zulaufs, man konnte vor einem Felssturz unter einem brausenden Wasserfall schwimmen, während mannigfaltig gezeichnete Falter durch das Sonnenlicht flogen. Am Nachmittag kam das Gewitter.
Wir saßen bei einem Freund von Bandula auf Plastikstühlen vor dem Haus und kauten Areca-Nüsse und Betelblätter, bis unsere Spucke ganz rot war, die Tropfen rissen den trockenen Boden auf wie Maschinengewehrsalven, und der Regenschleier zog über die fünf Vegetationsstufen des immergrünen Waldes hinweg, bis irgendwann die Wolken aufrissen und das Sonnenlicht sich in den Wassertröpfchen des aufsteigenden Dampfes brach.
Man will gern diesen Abschluss einer kohärenten Erzählung haben, aber nach dem Regenwald schrieb ich nichts mehr auf; was man aus dieser Reise ziehen konnte, alles Essenzielle, war passiert, die Geschichte zu ihrem Ende gekommen. Ich schlug, wenn man man so will, das Buch zu.
Wir fuhren dann noch runter nach Galle und wieder die Küste hinauf, hingen noch zwei Tage in Hikkaduwa ab, da hatte es mir nach Mirissa eigentlich vor gegraut, aber es war dann irgendwie alles total angenehm. Wir erfreuten uns am frisch gefangenen Fisch auf dem Teller, an dem Sand unter den Füßen, am Salzwasser in den Haaren, an der Sonne auf der Haut, an solchen Dingen eben.
Manche Reisen macht man, um zu genießen, und andere macht man, um wieder genießen zu können, und manchmal fällt beides zusammen.
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was fuer ein wohliges geschenk, dort vor Arugambay zu sein. und auch: der text. bitte mehr weniger kohaerenz.
Sehr gut.
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