„Allahu Akbar, Allahu Akbar…“ Der Muez­zin ruft zum Abend­ge­bet, als wir uns rück­lings ins 27°C warme Was­ser plump­sen las­sen. Eine Plas­tik­fla­sche schau­kelt vor mei­ner Nase in den Wel­len, bevor ich in die Fins­ter­nis abtau­che. Der Licht­strahl mei­ner Unter­was­ser­lampe fällt auf den schlam­mi­gen Boden des sanft abfal­len­den Hangs in etwa 5 m Tiefe. Nichts. Ein paar ver­algte Boots­lei­nen, eine zer­schlis­sene San­dale im Sand – mehr kann ich nicht erken­nen. Keine bun­ten Koral­len, keine Fische. Und das inmit­ten des Koral­len­drei­ecks vor der indo­ne­si­schen Insel Ambon in der Ban­da­see. Na, das wird ja ein span­nen­der Nacht­tauch­gang! Lang­sam las­sen wir uns bis dicht über den Unter­grund sin­ken und suchen den Schlamm ab. Plötz­lich huscht ein box­för­mi­ger, neon­gel­ber Kuh­kof­fer­fisch mit lus­ti­gen Hör­nern an der Stirn und schna­bel­för­mi­ger Schnute durch mein Licht. Wie kleine Pro­pel­ler wir­beln seine Brust­flos­sen im Was­ser. Kurz dar­auf klopft unser Tauch­guide an seine Luft­fla­sche und zeigt auf den Grund. Erst auf den zwei­ten Blick erkenne ich ein brau­nes See­pferd­chen, das sich mit dem Schwanz am Hals einer Fla­sche fest­klam­mert. Nach ein paar Minu­ten löst es sich ab und schwebt wie ein Geist in Zeit­lupe davon. Nur einige Meter wei­ter glotzt uns ein Augen­paar von unten an. Den gesam­ten Kör­per des röt­li­chen Teu­fels­fischs mit gru­se­li­gem Maul bede­cken Schlamm­par­ti­kel, so dass sich das Tier mit sei­nen hoch­gif­ti­gen Rücken­sta­cheln kaum von der Umge­bung abhebt – bei­nahe hätte ich es mit den Knien gestreift.

Panted Frog Fish 11.09.21

Nur wenige Meter wei­ter ent­de­cke ich zwei far­bige Punkte im ein­heit­li­chen Grau-Braun des Sand­bo­dens: ein roter und ein gel­ber Ang­ler­fisch (Pain­ted Frog­fish) in trau­ter Zwei­sam­keit anein­an­der geku­schelt. Die rund­li­chen Fische, die ein biss­chen aus­se­hen wie pos­sier­li­che Quiet­schenten, kle­ben mit ihren fin­ger­ar­ti­gen Brust­flos­sen an einem Stein. Direkt hin­ter dem roten Ang­ler­fisch liegt ein zer­beul­ter Plas­tik­be­cher. Mein Tauch­buddy Simon kickt den läs­ti­gen Müll weg. Die Reak­tion des Ang­ler­fi­sches lässt mich bei­nahe Was­ser schlu­cken, als ich lachend in den Atem­reg­ler pruste. Der sonst völ­lig bewe­gungs­lose Frog­fish dreht sich erschro­cken um: „Wo ist mein Haus?!“. Die ande­ren Tau­cher sind längst wei­ter gepad­delt, als ich noch ein­mal das lus­tige Pär­chen suche. Der gelbe Ang­ler­fisch sitzt immer noch regungs­los an der­sel­ben Stelle – und der Rote drei Meter wei­ter wie­der neben sei­nem Becher. Müll als Bio­top für sel­tene Arten.

Ornate Ghost Pipe Fish 2

All­mäh­lich beginne ich zu ver­ste­hen, worum es beim soge­nann­ten „Muck Diving“ geht: nicht um kun­ter­bunte Koral­len und rie­sige Fisch­schwärme im tür­kis­blauen Ozean, wie man es von so vie­len Tauch­si­tes in Indo­ne­sien kennt. Beim Tau­chen in Ambon geht es um die Ent­de­ckung skur­ri­ler Krea­tu­ren – soge­nann­ter „Crit­ters“ – im Schlamm und Müll. Hier heißt es genau hin­se­hen und den Grund Zen­ti­me­ter für Zen­ti­me­ter absu­chen. Als Beloh­nung fin­den wir teil­weise win­zige Wesen, die einer ande­ren Welt zu ent­sprin­gen schei­nen. Wir tau­chen bewusst direkt vor der Fischer­sied­lung Laha in der Ambon Bay, an deren gesam­ter Küs­ten­li­nie sich der Plas­tik­müll sam­melt. Die meis­ten Koral­len in der Bucht sind längst zer­stört – an ein­zel­nen, übrig geblie­be­nen Stö­cken und an ver­senk­ten Beton­pfei­lern tum­meln sich dafür umso mehr Lebewesen.

Rhinopias Eschmeri

Neben zahl­lo­sen Ein­sied­ler­kreb­sen, die über den Sand huschen und ihr Gehäuse mit lus­ti­gen Acces­soires wie Blät­tern und Muschel­tei­len deko­rie­ren, finde ich ein paar löch­rige Schuhe, eine Spiel­zeug­pis­tole und aus­ran­gierte Fahr­rad­rei­fen. Die Roten Dia­dem­see­igel mit ihren neon­pink fluo­res­zie­ren­den Strei­fen und leuch­tend blauen Punk­ten wir­ken wie gestran­dete Ufos. An einem ein­zel­nen Koral­len­block zeigt unser Tauch­guide auf ein brau­nes See­gras­blatt. Bei genaue­rer Betrach­tung erken­nen wir einen Geis­ter­pfei­fen­fisch mit bizar­ren, fet­zen­för­mi­gen Haut­aus­wüch­sen. Regungs­los schwebt er kopf­über im Was­ser – mit unse­ren unge­üb­ten Augen hät­ten wir ihn unmög­lich ent­tarnt. Etwas spä­ter hebe ich eine ein­zelne Kon­ser­ven­dose vom Sand­bo­den auf. Aus dem Inne­ren blin­zelt mir ein Coco­nut Octo­pus ent­ge­gen, die Kra­ken­arme fest um den Kör­per geschlun­gen, die Saug­näpfe an der Innen­seite der Dose festgeklebt.

Coconut Octopus

Inzwi­schen sind wir über eine Stunde im Was­ser und keine Minute war lang­wei­lig. Direkt über uns schau­keln große Fisch­kut­ter, auf dem Grund lie­gen gräss­li­che Fisch­köpfe und ‑kada­ver. Jetzt packt mich doch ein biss­chen der Ekel. Als wir an der Ober­flä­che auf­tau­chen beu­gen sich ein paar Fischer über­rascht nach unten und win­ken uns lachend zu: „Sel­a­mat Malam!“. Über unse­ren Köp­fen spannt sich eine Kup­pel aus Myria­den Ster­nen, als der Muez­zin erneut zum Gebet ruft.

Wonderpus Photogenicus

Zurück im Maluku Divers Resort dreht sich beim Tisch­ge­spräch alles um die Must Sees der Tauch­szene. An mehr als 60 Tauch­si­tes in und um die Ambon Bay lässt sich so ziem­lich alles ent­de­cken, was das Tau­cher­herz begehrt. Im direk­ten Umkreis des Resorts lie­gen rund 20 Sites wie Middle Point, Rhino City, Twi­light Zone und Bubble Point. Dort ent­de­cke ich inner­halb von weni­gen Tauch­gän­gen einige der begehr­tes­ten Ali­ens der Unter­welt: einen win­zi­gen Flam­boy­ant Cuttle­fish (Prachtsepia), den vio­let­ten Paddle Flap Rhi­no­pias (Fran­sen-Dra­chen­kopf) und meh­rere der zier­li­chen, gestreif­ten und extrem gif­ti­gen Kra­ken Wun­der­pus pho­to­ge­ni­cus. Tau­cher aus aller Welt kom­men hier­her, nur um eines die­ser selt­sa­men Wesen zu foto­gra­fie­ren. Die Krö­nung für jeden ambi­tio­nier­ten Tau­cher wäre ein Psy­che­de­lic Frog­fish. Er wurde erst 2009 in Ambon ent­deckt und macht mit sei­nem bizar­ren Strei­fen­mus­ter sei­nem Namen alle Ehre. Die Beob­ach­tung die­ses bizar­ren Ang­ler­fi­sches scheint das erklärte Lebens­ziel einer älte­ren Japa­ne­rin zu sein, die sämt­li­chen Mit­ar­bei­tern im Maluku Divers Resort ein­bläut, sie umge­hend zu infor­mie­ren, wenn er irgendwo gesich­tet wird: „Dann springe ich sofort ins nächste Flug­zeug und bin hier!“.

Flamboyant Cuttle Fish

Die kom­for­ta­blen Bun­ga­lows des Maluku Divers Resort lie­gen im Schat­ten rie­si­ger Man­go­bäume direkt am Meer. Etwas nach hin­ten ver­setzt gibt es güns­ti­gere Zim­mer am Rande eines Kokos­pal­men­hains. Die bei­den jun­gen Bri­ten Emily und Joe Dani­els füh­ren die Tau­cher­un­ter­kunft in unmit­tel­ba­rer Nähe des klei­nen Flug­ha­fens mit viel Enga­ge­ment. Anfang 2013 zogen sie an die­ses Ende der Welt, nach­dem sie sich vor­her drei Jahre lang für den Koral­len- und Wal­hai­schutz auf den Sey­chel­len engagierten.

Noch ver­ir­ren sich wenige Indi­vi­du­al­tou­ris­ten nach Ambon, das nicht so ganz dem Kli­schee einer para­die­si­schen Insel im Pazi­fik ent­spricht. Den Kies­strand vor dem Hotel begrenzt eine Beton­mauer, nur wenige Meter jen­seits des Resorts sam­meln sich hun­derte Plas­tik­fla­schen am Strand – ange­spült vom Markt in Ambon City, der mit rund 280.000 Ein­woh­nern größ­ten Stadt der Moluk­ken. Müll ist in Indo­ne­sien man­gels einer funk­tio­nie­ren­den Abfall­wirt­schaft all­ge­gen­wär­tig, doch hier scheint das Plas­tik­pro­blem unlös­bar. Im 19. Jahr­hun­dert betrie­ben die hol­län­di­schen Kolo­ni­al­her­ren in Ambon lukra­ti­ven Han­del mit Gewürz­nel­ken. Damals ver­dien­ten die Moluk­ken ihren Ruf als die „Gewürz­in­seln“. Wür­den See­fah­rer heute die Insel Ambon ent­de­cken, wür­den sie sie wahr­schein­lich die „Plas­tik­in­sel“ tau­fen. Zumin­dest die Unter­was­ser­welt scheint nicht dar­un­ter zu lei­den, im Gegen­teil: Aus­ge­rech­net hier fin­det man einige der sel­tens­ten Arten, die im und mit dem Abfall leben.

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Blen­det man das Müll­pro­blem aus, lässt sich auch in Ambon länd­li­che Insel­i­dylle fin­den. Bei einem Spa­zier­gang durch das Fischer­dorf Laha folgt mir eine schrei­ende Horde Kin­der „Hello Mis­ter, how are you?“ Hüh­ner, Zie­gen und Kat­zen strei­fen durch die Gas­sen zwi­schen den aus Well­blech und Span­plat­ten zusam­men gezim­mer­ten und knall­bunt gestri­che­nen Hüt­ten. Ein paar Jungs spie­len Gitarre unter einem Jack­frucht­baum. Im seich­ten Was­ser am Strand pad­delt ein Kind auf einer zum Floss umfunk­tio­nier­ten Sty­ro­por­ver­pa­ckung. Im Schat­ten eines Bam­bus­hains rei­hen sich ver­wil­derte mus­li­mi­sche Grä­ber anein­an­der, nur wenige hun­dert Meter wei­ter beginnt der christ­li­che Orts­teil mit „Happy Christmas“-Bemalung an den Wän­den. Kaum vor­stell­bar, dass es in die­ser fried­li­chen Umge­bung 1999 zu blu­ti­gen Aus­schrei­tun­gen zwi­schen Chris­ten und Mus­li­men kam. In der schwü­len Tro­pen­hitze scheint die Zeit lang­sa­mer zu lau­fen, keine Spur von Hek­tik oder Stress. Die Men­schen begeg­nen mir immer freund­lich und lachen, wenn ich meine weni­gen Sätze Bahasa Indo­ne­sia mit ihnen ausprobiere.

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In etwa einer Stunde kur­vi­ger Bus­fahrt durch Cha­os­ver­kehr errei­che ich den wei­ßen Sand­strand von Nat­sepa am nörd­li­chen Ende der Ambon Bay. An der Straße rei­hen sich Stände mit fri­schen Frucht­säf­ten und der loka­len Spe­zia­li­tät „Rujak Nat­sepa“ anein­an­der. Diese Mischung aus hand­ge­mah­le­nen Erd­nüs­sen, brau­nem Zucker, der Tama­rind­paste Asam Jawa sowie Gurken‑, Mango‑, Papaya- und Ana­nas­stü­cken schmeckt über­ra­schend lecker. Im nahe gele­ge­nen Dorf Waai tum­meln sich dicke Aale in einem glas­kla­ren Natur­be­cken – die als hei­lig ver­ehr­ten Tiere sind zahm wie Haus­tiere und las­sen sich mit einem rohen Ei anlo­cken, das sie mit einem Knall kna­cken. Auch hier hei­ßen mich die Dorf­be­woh­ner will­kom­men, wir trin­ken aus einer geköpf­ten Kokos­nuss und ich übe Eng­lisch mit den Kin­dern. Ambon – kein Para­dies, aber defi­ni­tiv eine Reise wert!

Unter­was­ser-Bil­der: Joe Daniels

Danke für die Unter­stüt­zung: Maluku Divers Resort!

Cate­go­riesIndo­ne­sien
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Astrid Därr

Astrid Därr (35, Dipl.-Geografin) wuchs in einer Globetrotter-Familie auf, die sie schon als Kleinkind auf Afrika-Expeditionen mitnahm. Als Abenteurerin, Reisejournalistin und Reiseleiterin für einen Trekkingreiseveranstalter ist Astrid mehr als 7 Monate des Jahres in der Welt unterwegs – am liebsten draußen in der Natur. Astrid veröffentlichte mehr als zehn Reisebücher in verschiedenen Verlagen.

  1. Maik says:

    Hi,

    wow, wow wow, tolle Bil­der, tolle Geschichte, hab wie­der rich­tig Lust bekom­men loszutauchen!!
    Ich hoffe selbst bald all dies mit eige­nen Augen sehen zu können..

    LG, Maik

  2. Hi,
    tolle Tauch­bil­der, ich war selbst letzte Jahr in Sula­wesi und das wäre ja nur ein kur­zer Flug zu den Moluk­ken gewe­sen, ver­dammt schade das ver­passt zu haben, aber was nicht ist kann ja noch werden. 

    Weißt du den was Joe für eine Kamera benutzt ? Die Bil­der vor allem für Nacht­tauch­gänge sind extrem gut, ich hab meis­tens Pro­bleme mit dem Fokus bei zuviel Dunkelheit. 

    Viele Grüße

    Mat­thias

    1. Astrid Därr says:

      Hallo Mat­thias,
      Sorry, ich habe Dei­nen Kom­men­tar jetzt erst gese­hen! Ich war die letz­ten Monate im süd­li­chen Afrika unter­wegs. Joe ver­wen­det eine Canon EOS 7D. Unter­was­ser-Bil­der sind ziem­lich kom­pli­ziert, daher habe ich bis­her die Fin­ger davon gelassen…
      Viele Grüße,
      Astrid

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