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Mit­be­woh­ner über Umwege

Mexiko, Okto­ber 2009.
Als ich das erste Mal nach Mexiko reise und mei­nen Rück­flug erst vier Monate spä­ter habe, weiß ich nicht, wo ich woh­nen soll. Der Plan: hin­fah­ren, vier Wochen in der Haupt­stadt ver­brin­gen, dann in die nord­me­xi­ka­ni­sche Grenz­stadt und dort vor Ort nach einer Bleibe für die rest­li­chen drei Monate suchen. Eigent­lich gar kein wirk­li­cher Plan.Die ers­ten Tage ver­bringe ich bei einem älte­ren Ehe­paar, das ich einen Monat zuvor wäh­rend sei­ner Euro­pa­reise für zwei Nächte in mei­ner Hei­mat­stadt beher­bergt habe. Diese woh­nen aber weit außer­halb vom Zen­trum, wes­halb ich einen Couch­sur­fer kon­tak­tiere, den ich über das Inter­net schon län­ger kenne und der mir ange­bo­ten hat, ich könnte gerne in sei­ner Woh­nung blei­ben. Mir steht also mein ers­ter klei­ner Umzug bevor. Mit mei­nem Kof­fer und dem Ruck­sack stehe ich am ver­ein­bar­ten Tag vor sei­ner Tür.

Das Pro­blem: aus­ge­rech­net an die­sem Tag stand auch seine Ex-Freun­din bei ihm auf der Matte und er kann mich unmög­lich in sei­ner Ein-Zim­mer-Woh­nung schla­fen las­sen, wo jetzt auch sie über­nach­ten will. Er sucht nach einer Lösung, tele­fo­niert kurz und fin­det einen Freund, bei dem ich gerne einige Nächte blei­ben kann. Aber: die­ser wird in ein paar Tagen für drei Wochen nach Europa auf­bre­chen. Kein Pro­blem, sage ich dem Couch­sur­fer. Ich bin zuver­sicht­lich, dass ich danach irgendwo Unter­schlupf fin­den werde, irgend­wie hat das bis jetzt immer funk­tio­niert. Und wenn alle Stri­cke rei­ßen, beziehe ich auch gerne ein Bett in einem Hos­tel oder schlafe am Bahn­hof. Egal. Also niste ich mich bei dem Freund des Couch­sur­fers ein.

Wir ver­ste­hen uns gut, haben viel Spass. Ich erzähle ihm von Europa, er mir von der nord­me­xi­ka­ni­schen Stadt, aus der er ursprüng­lich kommt. Zwei Tage vor sei­ner Abreise macht er mir ein Ange­bot: ich könne gerne in sei­ner Woh­nung blei­ben, auch wäh­rend sei­ner Abwe­sen­heit. Ich müsste nur die Strom­rech­nung bezah­len und solle den Schlüs­sel dann sei­ner Ex-Freun­din in der nord­me­xi­ka­ni­schen Stadt geben, sie würde in die Haupt­stadt auf ein Kon­zert gehen und in sei­ner Woh­nung über­nach­ten. Ich bin erstaunt über das große Ver­trauen, das er mir ent­ge­gen­bringt, ohne mich wirk­lich zu ken­nen, nehme das Ange­bot aber an, dank­bar, mir keine neue Bleibe suchen zu müssen.

Die Zeit in der Haupt­stadt ver­geht wie im Flug. Und dann ist er plötz­lich da, der Tag, an dem ich wie­der mei­nen Kof­fer packe und mich nach Nord­me­xiko auf­ma­che. Den Schlüs­sel ver­staue ich sicher in mei­nem Ruck­sack. Im Nor­den ver­bringe ich die ers­ten zwei Nächte wie­der bei einem Couch­sur­fer. Ich ver­su­che eine Woh­nung zu fin­den – kein ein­fa­ches Unter­fan­gen, will ich doch nur drei Monate in der Stadt blei­ben. Ich rufe die Ex-Freun­din mei­nes Haupt­stadt-Gast­ge­bers an, um ihr den Schlüs­sel zu brin­gen. Sie arbei­tet im Museum und sagt mir, ich solle ein­fach dort hinkommen.

Sogleich mache ich mich auf den Weg, ich will den Schlüs­sel nicht län­ger bei mir ver­wah­ren, will ihn auf kei­nen Fall irgendwo ver­lie­ren. Im Museum plau­dere ich kurz mit der jun­gen Frau, gebe ihr den Schlüs­sel und erwähne in einem Zwi­schen­satz, dass ich eine Woh­nung in der Stadt suche. Da meint sie: „Ein Freund von mir sucht gerade eine Mit­be­woh­ne­rin, wenn du willst, gebe ich dir seine Num­mer.“ Sie krit­zelt ein paar Zah­len auf einen Zet­tel, dann ver­ab­schie­den wir uns.

Der Freund wohnt ganz in der Nähe des Muse­ums, also beschließe ich, sogleich anzu­ru­fen, um nach dem Zim­mer zu fra­gen. Am Tele­fon wirkt er freund­lich, sagt mir, er wäre sowieso gerade daheim, ich solle doch ein­fach vor­bei­schaun. Zwan­zig Minu­ten spä­ter klopfe ich – es gibt keine Klin­gel – dort an die Tür. Mir öff­net ein lachen­der jun­ger Mann, auf der Nasen­spitze eine Brille, in der Hand einen Pin­sel. Spä­ter erfahre ich, dass er ein tol­ler Künst­ler ist und die gesamte Woh­nung in ein Ate­lier ver­wan­delt hat – Krea­ti­vi­tät liegt förm­lich in der Luft. „Komm rein“, sagt er mir. Ich erzähle ihm kurz, wer ich bin, woher ich komme, was ich in der Stadt mache. Dass ich nur drei Monate blei­ben will, treffe sich gut, sagt er, zu Jah­res­ende würde jemand ande­res ein­zie­hen. Der junge Mann meint, er würde sich bald bei mir mel­den und mir Bescheid geben, ob und wann ich ein­zie­hen kann. Wir ver­ab­schie­den uns, ich fahre zurück zum Haus des Couchsurfers.

Kaum dort ange­kom­men, klin­gelt mein Tele­fon. „Du kannst sofort bei uns ein­zie­hen, wenn du willst“, sagt mir mein neuer Mit­be­woh­ner. Am sel­ben Tag noch ver­lasse ich meine Unter­kunft beim Couch­sur­fer und ziehe ins Zen­trum der Stadt in mein neues Zim­mer. Über Umwege habe ich einen wun­der­ba­ren Mit­be­woh­ner gefunden.

Cate­go­riesMexiko
Hanna Silbermayr

Oft sind es die kleinen Dinge, die uns zum Staunen bringen. Begegnungen und Gespräche, die zum Nachdenken anregen, uns einen Moment innehalten lassen in einer Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint, uns ein Lächeln entlocken.

Solche Momente möchte ich nicht für mich behalten, sondern mit Euch teilen. Ich, das ist eine ausgebildete Grafikdesignerin, studierte Romanistin und Politikwissenschaftlerin, die im Namen des Journalismus immer wieder in Lateinamerika unterwegs ist. Demnächst wohnungslos und in stetiger Bewegung.

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