Fünf Sterne für die Weltgemeinschaft

Türkei fine dining

Mit inter­na­tio­na­len Gour­mets unter­wegs in der Tür­kei

„Wie kannst du die Tür­kei lie­ben – als Femi­nis­tin?“ Ja, es gibt sie tat­säch­lich, die­se Fra­gen. Ich habe das Gefühl, sie kom­men in Zei­ten, in denen tür­ki­sche Fuß­bal­ler wie Merih Demi­ral in der deut­schen Öffent­lich­keit den Wolfs­gruß zei­gen und es dar­auf­hin diplo­ma­ti­sche Ver­wick­lun­gen gibt, häu­fi­ger vor als vor drei­ßig Jah­ren, als ich zu rei­sen begann. Ich spü­re, dass unse­re schö­ne Welt klei­ner wird. Sie brennt an vie­len Orten, die ich sehr mag. Schon seit einer Wei­le schrei­be ich gegen das beklem­men­de Gefühl in mir an, dass es zu weni­ge Feu­er­wehr­män­ner gibt. Statt­des­sen sehe ich über­all mehr Brand­stif­ter. Radi­ka­le, die mit ihrem Schwarz-Weiß-Den­ken Öl in die Feu­er gie­ßen. Soll ich wegen sol­cher Poli­ti­ker nun auf­hö­ren, frem­de Län­der zu ent­de­cken? Bestimm­te Städ­te aus Pro­test von mei­ner Welt­kar­te strei­chen? Mei­nen Ruck­sack ein­mot­ten? Ich weh­re mich gegen eine der­art destruk­ti­ve Ver­wei­ge­rungs­hal­tung. „Rei­sen ist fatal für Vor­ur­tei­le, Bigot­te­rie und Eng­stir­nig­keit“, schrieb der ame­ri­ka­ni­sche Autor Mark Twa­in am Über­gang vom 19. ins 20. Jahr­hun­dert. Das stimmt noch heu­te. Da jeder Mensch Ste­reo­ty­pe kennt und ich nichts schlim­mer fin­de als mei­ne eige­nen, habe ich mich nach lan­ger Zeit wie­der ein­mal auf den Weg nach Klein­asi­en gemacht. Ohne Scha­blo­nen im Kopf. Neu­gie­rig, demü­tig, offen fra­gend. 

Byzanz. Kon­stan­ti­no­pel. Istan­bul. Noch immer fin­de ich es sagen­haft, die­se Stadt, die in der Ver­gan­gen­heit so vie­le Namen hat­te, aus der Luft zu betrach­ten. Die Kup­peln der Hagia Sophia glän­zen in der Abend­son­ne. Die Ang­ler auf der Galat­a­b­rü­cke kom­men mir ver­traut vor, ich erin­ne­re mich gut an sie. Nach einer kur­zen Pau­se im Hotel fin­de ich in der Lob­by mei­ne Gefähr­ten für die kom­men­den Tage: Dan, Nel­le­ke, Corin­na, Tamsin, Sofia, Mal­gos­ia, Saúl, Bar­ba­ra, Tomo­mi, Sung. In der Däm­me­rung, nach einem Glas Wein auf der Dach­ter­ras­se, zie­hen wir los und betre­ten zuerst einen unschein­ba­ren Fein­kost­la­den.

Auf einer durch­sich­ti­gen Fri­sche­the­ke ste­hen rie­si­ge Glä­ser mit ein­ge­leg­ten Oli­ven. Vor uns lie­gen Käse­sor­ten auf dün­nen Holz­brett­chen: Creme­far­be­ne aus Schafs­milch, gel­be aus Kuh­milch und wei­ße aus Zie­gen­milch. Man­che sind mit Rot­schim­mel durch­zo­gen, ande­re mit Trüf­feln. Ihr Alter ist so unter­schied­lich wie ihr Aus­se­hen. Gemein­sam ist allen, dass sie aus klei­nen ana­to­li­schen Käse­rei­en stam­men und nach tra­di­tio­nel­len Fami­li­en­re­zep­ten her­ge­stellt wer­den. Der Käse­lieb­ha­ber Artun Ünsal hat über sol­che Sor­ten ein Buch geschrie­ben – und Ant­re Gour­met, ein fei­ner Laden im Stadt­teil Cihan­gir, hat sich vor 24 Jah­ren nach Artun Ünsals Vor­bild im Lan­des­in­ne­ren auf die Suche nach sel­te­nen Spe­zia­li­tä­ten gemacht und ver­kauft seit­dem alte Käse­sor­ten am Bos­po­rus.

Ant­re Gour­met ist unser Vor­spei­se­zim­mer. Wir dür­fen gleich im Neo­lo­kal zu Abend essen. Das Restau­rant mit den boden­tie­fen Fens­tern hat einen Miche­lin-Stern erhal­ten. Dafür, dass es alte und neue Gerich­te auf raf­fi­nier­te Wei­se kom­bi­niert. Ich erwar­te nichts Umwer­fen­des. Ver­mut­lich gibt es da Groß­mutters Rote Bee­te, fein geras­pelt, an fan­cy Sel­le­rie­schaum, den­ke ich. Dazu viel­leicht akku­rat geschnit­te­ne Fisch­wür­fel auf Kapern­mousse, gar­niert mit drei Blatt Ruco­la und einem Feld­blu­men-Krön­chen. Die ers­te Über­ra­schung für mich auf die­ser Rei­se ist der Chef von Neo­lo­kal, Mak­sut Aşkar. Er ist ein sym­pa­thi­scher, beschei­de­ner Gast­ge­ber und weiht uns gedul­dig in sei­ne Geheim­nis­se ein, wäh­rend wir sei­nem jun­gen Team in der offe­nen Küche bei der Arbeit zuschau­en. So down-to-earth hat­te ich mir einen Ster­ne­koch gar nicht vor­ge­stellt. Mei­ne Kol­le­gen sind von sei­nen Krea­tio­nen begeis­tert. Ich ver­traue ihrem Urteil.

Mei­ne Beglei­ter sind erfah­re­ne Restau­rant­kri­ti­ker aus Süd­ko­rea, Japan, Däne­mark, Spa­ni­en, Grie­chen­land, Polen, Eng­land, Irland, Kana­da, Hol­land, Öster­reich und Deutsch­land. Sie sind zwi­schen 26 und 72 Jah­ren alt. Mit einer so inter­na­tio­nal besetz­ten, hete­ro­ge­nen Grup­pe hat­te ich nicht gerech­net, als ich die Ein­la­dung zur Miche­lin-Ster­ne-Ver­lei­hung in Istan­bul annahm. Mit uns, der Jour­na­lis­ten­grup­pe, sind noch Blog­ger aus wei­te­ren Län­dern wie Ser­bi­en und Ita­li­en vor Ort. Wie immer war ich gespannt dar­auf, was ich erle­ben wür­de, hat­te aber auch etwas Respekt vor die­ser Rei­se, denn ich selbst bin eine wenig talen­tier­te Köchin und mit Fine Dining ken­ne ich mich nicht wirk­lich gut aus. Mein Lieb­lings­es­sen sind ägyp­ti­sche und liba­ne­si­sche Mez­ze. 

Vor 17 Jah­ren haben mich zwei älte­re Frau­en in Kabak sehr glück­lich gemacht, in einem Natur­schutz­ge­biet in der Nähe von Fethi­ye, mit Baum­häu­sern und einer Dusche im Frei­en. Ihr ein­fa­ches Früh­stück aus schrum­pe­li­gen schwar­zen Oli­ven, fri­schen Salat­gur­ken­stü­cken, rei­fen Toma­ten und süßen roten Papri­ka schmeck­te himm­lisch. Damals hat­te ich jeden Mor­gen nach dem Auf­ste­hen den Duft von Thy­mi­an und Meer­salz in der Nase, wohn­te mit mei­nem Freund und einem wei­te­ren Paar im Full­moon Camp, mit frei­em Blick auf eine sichel­för­mi­ge blaue Bucht, ein­ge­rahmt von Stein­ei­chen und Pini­en. Das Leben fühl­te sich leicht an und frei, von Over­tou­rism sprach damals noch kei­ner. Statt mit einem Miet­wa­gen fuh­ren wir zusam­men mit vie­len Tür­ken im Lini­en­bus quer durch das Land; statt in schi­cken Woh­nun­gen von AirBnB, die inzwi­schen alle vom sel­ben Desi­gner ein­ge­rich­tet zu sein schei­nen, schlie­fen wir unter knor­ri­gen Oli­ven­bäu­men. Tage­lang kra­xel­ten wir bei 30 Grad über Fel­sen, um zu den schöns­ten Stän­den zu kom­men. Wir tauch­ten mit einem Okto­pus um die Wet­te – und ich durf­te Brot backen mit den bei­den schüch­ter­nen Gast­ge­be­rin­nen. In der Luft dreh­ten sie geschickt dün­ne Teig­fla­den über offe­nem Feu­er hin­ter ihrem Haus, direkt neben einem Zie­gen­stall. Heu­te soll es im Full­moon Camp in Kabak einen Koch geben und viel mehr Kom­fort, aber ich bin sicher, dass es damals roman­ti­scher war. 

Jeden­falls lie­be ich haus­ge­mach­tes tür­ki­sches Essen, bei­spiels­wei­se Göz­le­me. Nur des­halb habe ich bei die­sem Trip zuge­sagt. In Restau­rants namens „Bos­po­rus“ oder „Antep Suf­ra­si“ in Mün­chen bin ich seit Jah­ren Stamm­gast, auch beim Jeme­ni­ten sit­ze ich häu­fig, lese, esse Süß­spei­sen mit Rosen- und Kar­da­mom­ge­schmack und trin­ke schwar­zen Tee, allein unter Mus­li­men. Nun also soll ich die tür­ki­sche Ster­ne­kü­che bewer­ten. Was mir im Flug­zeug auf dem Weg nach Istan­bul zuerst zu dem The­ma ein­fiel, war aus­ge­rech­net eine alber­ne Komö­die aus dem Jahr 1976 mit Lou­is de Funés, der einen gewis­sen Charles Duche­min spielt. Die­ser Restau­rant­kri­ti­ker ist im Film „Brust oder Keu­le“ unter Frank­reichs Küchen­chefs eben­so geach­tet wie gefürch­tet, denn er tes­tet inko­gni­to Spei­sen und ver­gibt Ster­ne. Sein Gegen­spie­ler ist Jac­ques Tri­ca­tel, der Besit­zer einer Ket­te von fie­sen Fast­food-Restau­rants und schmud­de­li­gen Auto­bahn­gast­stät­ten, der Lebens­mit­tel indus­tri­ell pro­du­ziert. So ähn­lich wie Charles Duche­min, ver­snobt und leicht durch­ge­knallt, hat­te ich mir die Foo­dies, die um den Glo­bus jet­ten, immer vor­ge­stellt. 

Schon am ers­ten Abend schä­me ich mich ein biss­chen dafür, denn noch nie war ich mit net­te­ren, unkom­pli­zier­te­ren Kol­le­gen unter­wegs. Wir lachen viel, füh­ren tief­sin­ni­ge Gesprä­che, ach­ten auf­ein­an­der. Vor allem Nel­le­ke aus den Nie­der­lan­den, aber auch unse­re drei tür­ki­schen Beglei­te­rin­nen Basak, Özden und Tür­kan wach­sen mir schnell ans Herz.

Nach einem Flug nach Izmir fah­ren wir wei­ter nach Urla, an einer Wein­stra­ße ent­lang. Die Natur und das gute Wet­ter machen es uns leicht, unse­re gemein­sa­me Zeit zu genie­ßen. Abends, wenn gol­de­ne Son­nen­strah­len über die Wein­ber­ge flie­ßen, begin­nen die Reben zu leuch­ten. In den hell­grü­nen Blät­tern zeich­nen sich die Adern ab. Die Luft riecht nach Sal­bei und wei­ßen Trau­ben: Wür­zig-herb und fruch­tig-süß. Acht Wein­gü­ter lie­gen an der Wein­stra­ße von Urla. Ihre Besit­zer sind Kon­kur­ren­ten, aber sie ken­nen und schät­zen ein­an­der auch.

In der Anti­ke sol­len Win­zer in der Gegend rund um Izmir die bes­ten Wei­ne in ganz Euro­pa pro­du­ziert haben. In Ampho­ren gelang­te der Reben­saft über den Hafen von Kla­zo­me­nai, wie Urla in jener Zeit hieß, bis nach Rom. Nach dem Ers­ten Welt­krieg ging das Wis­sen ver­lo­ren, denn die Win­zer in die­ser Gegend waren alle­samt Grie­chen – und die­se muss­ten im Jahr 1923 die neu gegrün­de­te Repu­blik Tür­kei ver­las­sen. In ihre Häu­ser zogen Tür­ken ein, die ihrer grie­chi­schen Hei­mat den Rücken kehr­ten. Die meis­ten tür­ki­schen Neu­an­kömm­lin­ge waren Tabak­bau­ern. Mit den Reb­stö­cken der grie­chi­schen Win­zer wuss­ten sie nichts anzu­fan­gen. So wur­de der Wein­an­bau auf Eis gelegt – bis Men­schen wie Can Orta­baş, der Besit­zer des Wein­guts Urla Şarap­çi­lik, alte Reb­stö­cke wie­der aus­bud­del­ten. 

Einen Miche­lin-Stern für ihren erle­se­nen Wein­ge­schmack bekam eine Frau. Seray Kum­ba­sar ist eine zar­te Per­son mit lan­gen blon­den Haa­ren und einem gewin­nen­den Lächeln. Mit ihrem Mann Ozan Kum­ba­sar führt sie das Vino Loca­le, ein geho­be­nes Restau­rant in einem hüb­schen Stein­haus, es liegt in der Nähe von Urla, umge­ben von Zypres­sen und Arti­scho­cken­fel­dern. Nach Zie­gen­kä­se mit Past­ra­mi und Honig, Tin­ten­fisch mit Pini­en­ker­nen oder einer Tom Yum Sup­pe mit Okto­pus ste­hen Kalbs­bäck­chen mit Baby­mais und Okra aus der Regi­on oder süße Pas­ta mit Spar­gel auf dem Menü. Das Paar arbei­te­te eini­ge Zeit in Thai­land, bevor es ent­schied, in die Tür­kei zurück­zu­keh­ren. Die asia­ti­schen Ein­flüs­se auf die Koch­küns­te von Ozan Kum­ba­sar spü­ren wir. Beein­dru­cken­der ist die Har­mo­nie zwi­schen den bei­den. Ihre Gäs­te emp­fan­gen sie mit viel Lie­be. Seray Kum­ba­sar hat das Lokal in Natur­far­ben ein­ge­rich­tet und ist seit Ende 2023 offi­zi­ell die bes­te Som­me­liè­re des Lan­des. 

Nach einem Besuch in Ephe­sos endet unse­re Begeg­nung. In Efes, wie der Ort in tür­ki­scher Spra­che heißt, dösen Kat­zen auf den Rui­nen. Mit dem Tem­pel der Arte­mis beher­berg­te die Stadt im Alter­tum eines der Sie­ben Welt­wun­der. Ich stau­ne. Füh­le mich reich beschenkt. Von der Geschich­te die­ser Regi­on an der Ägä­is und von den warm­her­zi­gen Men­schen in der Tür­kei, aber auch von mei­nen lie­bens­wer­ten Mit­rei­sen­den. Die­se lus­ti­ge Trup­pe kuli­na­ri­scher Wel­ten­bumm­ler wird mir sehr feh­len. Sie bekommt von mir die meis­ten Ster­ne.

Die­se Rei­se wur­de von der Tou­ris­mus­zen­tra­le der Tür­kei unter­stützt.

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