Mexi­ko, Sep­tem­ber 2011.
An der Stra­ßen­ecke einer nord­me­xi­ka­ni­schen Stadt war­te ich auf einen Freund. Es ist spät, der Tag neigt sich sei­nem Ende zu, die Stra­ßen­la­ter­nen wer­fen ein bläu­li­ches Licht auf die Kreu­zung. Ich rau­che eine Ziga­ret­te und beob­ach­te das nächt­li­che Leben, das an mir vor­bei­zieht. Immer wie­der blei­ben Autos an der Kreu­zung ste­hen, war­ten, bis die Ampel grün wird, fah­ren wei­ter. Die Poli­zei dreht ihre Run­den, beob­ach­tet – so wie ich – die Men­schen, die zu die­ser spä­ten Uhr­zeit noch unter­wegs sind.

Ein jun­ger Mann eilt schnel­len Schrit­tes die Stra­ße ent­lang. Bei mir bleibt er ste­hen, fragt mich, ob ich eine Ziga­ret­te für ihn hät­te. Er erzählt mir, dass er kein Geld mehr hat, ihm gera­de sei­ne letz­ten 300 Pesos abge­nom­men wur­den. Er erklärt, dass er eine zeit­lang in den USA gelebt hat, dann nach Mexi­ko abge­scho­ben wur­de. Er möch­te wie­der zurück auf »die ande­re Sei­te« des Zau­nes, dar­um arbei­te er im Stadt­zen­trum als Stra­ßen­ver­käu­fer, ver­kauft Kar­tof­fel­chips. Heu­te hat er unab­sicht­lich eine Fla­sche Was­ser umge­sto­ßen und sein Chef hat von ihm ver­langt, die­se zu bezah­len, dar­um sind die 300 Pesos jetzt weg. Auch den 1‑Dol­lar-Schein, den ihm sei­ne bes­te Freun­din ein­mal als Glücks­brin­ger geschenkt hat­te, muss­te er her­ge­ben.

Wäh­rend ich mit dem jun­gen Mann rede, bleibt ein luxu­riö­ses Auto an der Kreu­zung ste­hen. Der Len­ker schaut zu uns her, mus­tert uns von oben bis unten. Die Klei­dung des Stra­ßen­ver­käu­fers sieht etwas schmud­de­lig aus, viel­leicht des­halb, den­ke ich. Der Mann im Auto deu­tet mit dem Dau­men in die Höhe, will offen­bar wis­sen, ob alles okay ist. Ich signa­li­sie­re ihm, dass es kei­ne Pro­ble­me gebe. Die Ampel schal­tet auf grün, das Auto fährt los. Der Stra­ßen­ver­käu­fer muss wei­ter. Wegen sei­nes Aus­se­hens und sei­ner Klei­dung – die­se ver­ra­ten, dass er aus den USA abge­scho­ben wor­den war – soll­te er ver­mei­den, der mexi­ka­ni­schen Poli­zei über den Weg zu lau­fen. Ich habe davon gehört, dass abge­scho­be­ne Mexi­ka­ner oft ohne Grund fest­ge­hal­ten wür­den, ver­ste­he sei­ne Angst. Wir ver­ab­schie­den uns mit einem Hän­de­druck, er setzt sei­nen Weg fort.

Der Freund, auf den ich war­te, ver­spä­tet sich. Also blei­be ich an mei­ner Stra­ßen­ecke ste­hen und beob­ach­te wei­ter das Gesche­hen um mich her­um. Es ist wenig los. Die Ampel schal­tet wie­der auf Rot. Ein Auto rollt auf die Kreu­zung zu, bleibt ste­hen. Es ist das­sel­be wie schon zuvor. Wie­der sieht der Len­ker zu mir her, biegt plötz­lich in mei­ne Rich­tung ab, lässt das Bei­fah­rer­fens­ter her­un­ter und fragt, ob ich nicht ein­stei­gen wol­le. Ich erklä­re ihm, dass ich nicht zu frem­den Män­nern ins Auto stei­ge. Er sagt, er wol­le nur kurz reden. Mir ist etwas mul­mig zumu­te, ich weiß nicht, was die­ser Mann von mir will. Wenn er reden wol­le, sol­le er aus­stei­gen, sage ich. Er bleibt sit­zen, fragt mich, wie ich hei­ße, woher ich käme. Ich nen­ne ihm einen fal­schen Namen, ein ande­res Land, sage, ich wür­de schon lan­ge in der nord­me­xi­ka­ni­schen Stadt leben. Da gibt er Gas, rast weg. Ich atme auf und beschlie­ße, in eine Bar zu gehen und bes­ser dort auf mei­nen Freund zu war­ten.

Die Begeg­nun­gen mit den zwei Män­nern brin­gen mich zum Nach­den­ken. Vor­ur­tei­le. Der Stra­ßen­ver­käu­fer wird auf­grund sei­ner sozia­len Her­kunft wie eine kri­mi­nel­le Per­son behan­delt, dem Len­ker des luxu­riö­sen Wagens ver­traut man viel­leicht eher – dabei sieht die Rea­li­tät womög­lich kom­plett anders aus.

Am nächs­ten Tag gehe ich in die Stadt. Im Zen­trum kom­me ich an einem Ver­kaufs­stand für Kar­tof­fel­chips vor­bei. Da steht er, der Ver­käu­fer von ges­tern. Ich läch­le ihn an, fra­ge ihn, wie es ihm geht. Ich kau­fe eine Packung Chips, er gibt mir extra viel Ket­chup dazu. Ich muss wei­ter, ver­ab­schie­de mich, drü­cke ihm noch einen 1‑Dol­lar-Schein in die Hand – als Glücks­brin­ger.

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Antworten

  1. Avatar von Caroline

    Ach…Mexiko. Ich glau­be, in kei­nem ande­ren Land sind mir so vie­le lie­bens­wer­te und so vie­le furcht­ba­re Men­schen gleich­zei­tig begeg­net. Schön geschrie­ben!

    1. Avatar von Cornelia Lohs

      Stimmt. Como Méxi­co no hay dos!

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