An dem Tag, an dem ich den Dok­tor traf, ging die Son­ne nicht auf. Irgend­wann, wür­de sie kreis­rund über dem See ste­hen, ja; wie am Wen­de­kreis des Stein­bock, um dann mit dem See zu ver­schmel­zen. Ein­fach so. Oder so, als habe jemand eine Lam­pe ange­knipst, um das Ende einer undurch­dring­li­chen Nacht her­bei­zu­füh­ren. Jetzt rie­sel­ten die letz­ten Trop­fen von den Ästen und Blät­tern der Tro­pen­bäu­me. Regen­zeit. Sil­ber­graue Wol­ken­dü­nen. Der See indes, lag ruhig dar.

Ich hat­te die Bei­ne um das Laken geschla­gen, sah von mei­nem rie­si­gen Holz­bett aus auf die Kulis­se – seit Tagen nun schon –, muss­te mich nicht ein­mal auf­rich­ten dafür, weil ich von mei­ner Hüt­te auf den See hin­ab bli­cken konn­te, ganz bis zum ande­ren Ufer, das schon Mosam­bik war. Ich erwach­te an die­sem Mor­gen frü­her als in den vor­an­ge­gan­ge­nen Tagen und – traum­los, wie gewöhn­lich. Nur das Tem­po war ver­än­dert, gedros­selt irgend­wie. Von der übli­chen Tages­scha­blo­ne abge­löst, wie die Gum­mi­pols­te­rung in einem Cola­fla­schen-Kron­kor­ken. Mor­gen­däm­me­rung und Mond waren die Mar­kie­rungs­stei­ne. Sonst nichts.

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Die Rufe und der Betrieb zwei­er Fischer waren es, sie ris­sen mich aus mei­nem Schlaf oder Dös­zu­stand. Die Män­ner gin­gen auf dem See der Jagd nach. Der eine, düm­pelnd in einem Boot, das aus­sah wie ein aus­ge­höhl­ter Baum­stumpf, archa­isch. Der ande­re, mit einer höl­zer­nen Har­pu­ne im Was­ser han­tie­rend. Die Fischer die immer nachts raus­fuh­ren, hat­ten eine Lam­pe auf dem Boot. Der war­me Licht­schein der Glüh­bir­ne, ein Gefähr­te, der das Was­ser erhell­te, das Boot oval umrank­te und so die unmit­tel­ba­ren Ziel­ob­jek­te schutz­los bloß­leg­te. Die Tages­fi­scher wand­ten eine ande­re Tech­nik an: Der Mann im Boot erzwang mit sei­nen schwin­gen­den Bewe­gun­gen Wel­len­schü­be, die Fisch­gut anlock­ten. Der ande­re, der mit der Har­pu­ne, stieß so ent­fes­selt wie gezielt zu – immer, sobald der Augen­blick güns­tig stand.

Was ich sah, wirk­te auf mich zau­be­risch, aus einer ande­ren Welt. Ich fühl­te eine wuch­ti­ge Unge­duld in mir auf­stei­gen. Ich woll­te, ich wäre einer der Män­ner. Ich bewun­der­te, wie sie sich mow­gli­ar­tig in die­sem frem­den Ele­ment beweg­ten. Dann dös­te ich noch ein­mal weg.

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Das ers­te Mal sprach David in der Bar vom Dok­tor. David war der bes­te Gefähr­te in die­sen Tagen am See. Er besaß die­ses Talent, das bewirk­te, dass Leu­te auf­ga­ben, was sie plan­ten, damit er bekam, was er brauch­te. Und, er kann­te jeden in der Gegend. Mir war gleich klar, dass ich den Dok­tor sehen woll­te. Heu­te schien mir ein guter Tag dafür zu sein, der Auf­stieg wür­de in dem sil­ber­grau­en Dunst nicht all­zu­viel Kraft kos­ten.

Am Dorf­aus­gang stan­den die Häft­lin­ge mit ihren Mache­ten und wei­ßen Hem­den im grü­nen Feld. An einem ande­ren Tag hat­te ich King­fi­sher getrof­fen. Er habe – zum Zeit­punkt des Zugriffs – ein bischen viel von „der Medi­zin“, wie er es nann­te, in der Tasche gehabt. Das mag ehr­lich und auch der Fall gewe­sen sein. Tat­säch­lich aber, saß King­fi­sher wegen einer Ver­ge­wal­ti­gung. Nun schwang er die Mache­te auf dem Feld. Acht Jah­re lang, tag­ein, tag­aus. Das Mariuan­ha. Die Sache lief so: Die Dorf-She­riffs nah­men alle paar Wochen ein paar von ihnen hops, dann steck­ten sie das Kraut aus­ge­wähl­ten Dea­lern zu, die es in der Umge­bung für die Dorf-Cops ver­trie­ben; das Geld war artig abzu­lie­fern.

*

Wir stie­gen dem Dorf in den Ber­gen ent­ge­gen, manns­ho­hes Gras und Schilf rings­um, eine Stra­pa­ze. Nicht tief ging es in die Ber­ge hin­ein, aber doch steil hin­auf und der Weg war schwer aus­zu­ma­chen. Alles stand in üppig grü­ner Regen­zeit­blü­te. Unten konn­te man den See erken­nen, wenn man es wag­te, sich umzu­dre­hen. Als wir höher stie­gen, wur­de es stei­ler. Wir stie­gen über Sturz­bä­che und lose Stei­ne, die rut­schig waren, denn seit drei Tagen hieb immer wie­der der Regen auf die rote Erde.

David ging vor­an, er kann­te den Pfad zum Haus des Dok­tors. Hier oben war es still, unten – im Dorf – erfass­te einen immer gleich der Lärm. Der Lärm war Aus­druck eines Gewäh­ren­las­sens. Dort konn­te in jedem Moment, an jedem Ort, jedem Raum, etwas ent­ste­hen, bis es wie­der zer­fiel. Bei uns ist alles mit einer bestimm­ten und dau­er­haf­ten Funk­ti­on mar­kiert. Vie­les davon, nur noch Deko­ra­ti­on. Hier oben war man fern jeder Ver­schwen­dung, Ver­ach­tung oder dem Ver­such, sich über die Natur hin­weg­zu­set­zen. Hier oben war man frei, von jeder eit­len Betrieb­sam­keit abge­schirmt.

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Dok­tor Chi­wam­ba kam, als wir schon auf die Baum­stümp­fe her­über rück­ten, die im Schat­ten vor dem roten Back­stein­haus lagen, weil die Son­ne all­zu groß­zü­gig sich über uns aus­goß. Chi­wam­ba stell­te sei­nen Ruck­sack ab. Er trug eine graue Tre­cking­ho­se und ein blau­es Karo­hemd, hat­te kur­zes krau­ses Haar. So, dach­te ich, hat­te ich mir einen Hei­ler, einen, der auch etwas vom Vodoo ver­steht, nicht vor­ge­stellt. Ich hat­te mir aus­ge­malt, er wür­de tan­zen, sin­gen, heu­len. Doch Chi­wam­ba lach­te nur. Und was das Aus­se­hen betraf, nun, sah er mehr aus wie die Trek­king-Gui­des in Kath­man­dus Tha­mel.

„Was hast Du letz­te Nacht geträumt?“, frag­te Chi­wam­ba ohne Umschwei­fe. Es war ein hei­ßer Tag gewe­sen, ich hat­te am Abend ein paar Bier in der Bar gekippt, um die Hit­ze raus­zu­schwem­men, der Frau mit dem Cow­boy­hut dabei zuge­se­hen, wie sie die Män­ner – einen nach dem ande­ren – beim Bil­lard K.O. gehen ließ und dann bald selig geschla­fen. Für Chi­wam­ba waren das schlech­te Vor­zei­chen. „Kei­ne Träu­me – das ist ein Pro­blem“, eröff­ne­te er mir mit sei­nem freund­li­chen Gesicht, um dann gleich aus­ge­spro­chen beschäf­tigt zu tun. Eine gan­ze Wei­le wühl­te er in sei­nem Ruck­sack, als han­del­te es sich dabei um eine mit­tel­gro­ße Damen­hand­ta­sche. Chi­wam­ba woll­te, dass ich nach­frag­te, dass war gleich klar.

Da klopf­te schon die nächs­te Hiobs­bot­schaft an: Er sehe einen Fluch. Böse Geis­ter also, die ihr Teu­fels­werk taten. Chi­wam­ba woll­te mir sei­ne Erklä­rung dann nicht mehr vor­ent­hal­ten. „Wenn du von einer Schlan­ge träumst, die dich beißt“, platz­te es aus ihm her­aus – und er brach­te es fer­tig, gleich­zei­tig immer noch zu lachen –, „und wenn du dich am nächs­ten Mor­gen an die­sen Traum erin­nerst, dann weißt du, was zu tun ist, damit du nicht ster­ben musst. Träu­me beschüt­zen dein Leben.“ Ich blick­te zu David her­über. Der nick­te unver­wand. Chi­wam­ba war ein aus­ge­buff­ter Pro­fi. Es klang nicht unplau­si­bel, wenn man so vor ihm saß. Das Pro­blem war: Ich glaub­te nicht an sol­chen Zin­no­ber. Und über­haupt: wer sag­te, dass er nur die Dämo­nen ver­trei­ben wür­de. Und nicht mehr. Etwas ver­trieb, das mei­ner See­le ganz gut stand.

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Wir wech­sel­ten auf die Veran­da. Chi­wam­ba woll­te mir nun etwas zei­gen. Er brei­te­te eine blaue Pla­ne auf dem Stein­bo­den aus. Dann ging er wie­der ins Haus und kehr­te mit einem wei­ßen Eimer zurück, einem, wie man ihn in der Metro bekommt, in dem zehn Liter Mayon­nai­se abge­füllt sind oder Kar­tof­fel­sa­lat. Der gemah­le­ne, getrock­ne­te Inhalt roch nach alten Kar­tof­fel­scha­len. Chi­wam­ba erei­fer­te sich jetzt, als er sich dar­an mach­te, die Din­ge, die er aus­ge­brei­tet hat­te, zu benen­nen. Kräu­ter, Wur­zel­res­te, Baum­rin­den­fet­zen.

Ich hat­te von Scha­ma­nen im Hima­la­ja gehört, die mit Elfen­bein­wür­fel, Ora­kel­buch, mit Pfeil und Bam­bus­bo­gen Dämo­nen aus­trei­ben. Sie wür­den ein Schaf in 50 Fuß Ent­fer­nung als Ziel­schei­be auf­stel­len und dann ihre Pfei­le in das Herz des Dämo­nen feu­ern. Ich blick­te mich nach einem Schaf um. Und ich erin­ner­te mich dar­an, dass ich von einer afri­ka­ni­schen Scha­ma­nin las, die Geis­ter­ab­wehr über ihren Twit­ter-Account betrieb. Kräu­ter ver­trieb sie in ihrem Online-Shop. Nur beim Ster­ben, da bestand die Scha­ma­nin noch auf Anwe­sen­heit. Wer weiß, viel­leicht müss­ten wir noch eine Kuh schlach­ten, hier an Ort und Stel­le, um end­lich mei­nen Traum­fluch zu been­den – wo ich ein­mal da war.

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Chi­wam­ba hob ein Stück rote Rin­de an. Die Rin­de des Niem­baums trei­be die Mala­ria aus, erklär­te Chi­wam­ba. Er warf das Stück aus­ge­frans­te Rin­de in einen Plas­tik­be­cher. Dann füll­te er es mit hei­ßem Was­ser auf, rühr­te aus­gie­big um und trank davon, wie zum Beweis. Drei Tage und die Dämo­nen der Mala­ria sei­en ver­trie­ben. David nick­te wie­der. Vor ein paar Wochen hat­te ihn das letz­te Mal eine Mala­ria erwischt. Er trank das rote Zeug, drei Tage lang. David saß sehr mun­ter und leben­dig vor mir.

Chi­wam­ba hielt mir den Becher hin. Ich rück­te näher her­an. Dann nahm ich einen Schluck. Das Gebräu schmeck­te nach Morast, nach feuch­tem Herbst­laub. Mei­ne Gri­mas­se muss­te sich irgend­wo zwi­schen Ekel, Stau­nen und Über­ra­schung ein­ge­pen­delt haben. Denn es war nicht ein­mal unge­nieß­bar. Chi­wam­ba leuch­te­te nun. Man muss jeder Art von Aber­glau­ben wohl eine auf­ge­schlos­se­ne Stirn bie­ten. In Afri­ka geht Auf­ge­schlos­sen­heit um. Jeder besitzt einen Scha­ma­nen. Es gibt hier mehr davon als zuge­las­se­ne Ärz­te.

Chi­wam­ba, der ohne­hin unab­läs­sig lach­te, leg­te laut lachend noch eins drauf. Nun, nach­dem ich vor den Dämo­nen der Mala­ria sicher sei, woll­te Chi­wam­ba mein Glück anschie­ben. Da hol­te Chi­wam­ba eine klei­ne Metall­do­se aus der Hosen­ta­sche, die in der Son­ne fun­kel­te. In der Dose schwam­men Mün­zen in einer Art öli­gen Lake. Der Reich­tum käme auto­ma­tisch zu mir, pries Chi­wam­ba, jetzt mit weit auf­ge­ris­se­nen Augen, die eben­so fun­kel­ten, wie zuvor die Metall­do­se selbst. Ich mein­te einen Zug Wahn­sinn dar­in zu erken­nen, plötz­lich ein ande­res Wesen vor mir zu haben. Alles, was zu tun sei, erfor­de­re, sich mit dem Ӧl aus der Dose am gesam­ten Kör­per ein­zu­rei­ben. „Gegen eine klei­ne Geld­op­fer­ga­be…“

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Die Nacht brach früh her­ein. Es war Zeit abzu­stei­gen. Immer wie­der erhell­te der Mond aus dem Nichts ein Haus ent­lang des Pfa­des, auf dem wir berg­ab gegen den See tän­zel­ten. Dann ver­sank ich mit mei­nem rech­ten Schuh in einem Schlamm­loch, denn beim Abstieg war kaum noch etwas zu erken­nen. David besorg­te umge­hend – von woher genau ver­mag ich nicht zu sagen – eine Scha­le mit Was­ser. Er begann mei­nen Schuh vom Schlamm zu säu­bern.

Irgend­wann sah ich die Lich­ter des Dor­fes vor uns auf­tau­chen. Wir lie­ßen das Dorf hin­ter uns und saßen am See. Wir saßen bei But­ter­fi­sh und Bier, als ein paar Nacht­fi­scher gera­de hin­aus­setz­ten. Das war­me Licht nah­men sie mit. Bald sah es aus, wie Later­nen­mas­ten, auf dem Was­ser hin und her gescho­ben.

Am Mor­gen weck­ten mich Stim­men. Ich frag­te mich, ob ich Chi­wam­ba begeg­net war oder nur geträumt hat­te. Aus der Fer­ne sah ich die Fischer­boo­te, wie ein­sa­me Flie­gen lagen sie auf dem See, von dem nicht klar war, wo er ende­te. Ich stieg in das Boot. Eine Har­pu­ne in der Hand. Die Son­ne war schon da. Dann leg­te ich mei­ne Hand auf die Hosen­ta­sche. Ich woll­te nach­füh­len – nur sicher­ge­hen –, dass die klei­ne Metall­do­se noch dar­in steck­te.

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Antworten

  1. Avatar von Kasia Oberdorf

    Jetzt bin ich aber neu­gie­rig: Hast du anschlie­ßend geträumt?

  2. Avatar von Gerhard
    Gerhard

    Soso, du glaubst nicht an so einen Zin­no­ber … aber gehst trotz­dem hin … 🙂 span­nen­de Vor­ge­hens­wei­se. Das schö­ne am Scha­ma­nis­mus ist aber auch, dass man nichts glau­ben muss – man kann alles aus­pro­bie­ren. Und dann funk­tio­niert es ent­we­der, oder halt nicht. Am Ende steht aber immer die Erfah­rung …

    Um träu­men zu kön­nen, braucht es aber sowie­so kei­nen Scha­ma­nen. Da reicht eine Ent­schei­dung … wie bei fast allen ande­ren Din­gen auch.

    Ger­hard

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