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Ein Land aus Feuer, Eis und Wasser

Ankunft in Reykja­vík. Orts­zeit halb ein Uhr nachts. Am Hori­zont ist es noch hell, die Sonne ist nur ganz knapp hin­ter dem Ozean ver­schwun­den, wie ein Kind, das die Bett­de­cke noch ein wenig anhebt, um jeder­zeit wie­der her­aus­se­hen zu kön­nen. Das Zweite, das mir auf­fällt: Der Erd­bo­den neben der Lan­de­piste, auf die wir nun nach einem wind­ge­peitsch­ten Anflug über dem Atlan­tik auf­set­zen, ist kein Erd­bo­den, wie wir ihn in Europa ken­nen. Nur schwar­zes Gestein, schwarz mar­mo­rierte Plat­ten aus Vul­kan­ge­stein sind es – so bilde ich mir ein, ich bin kein Geo­loge – aber die­ser erste Anblick der Insel im hohen Nor­den brennt sich mir sofort ins Gedächt­nis ein.

Auf­ge­wacht in einem mit Holz umklei­de­ten Gast­haus unweit des Stadt­zen­trums. Die nörd­lichste Haupt­stadt der Welt ist uns durch Kunst und Medien viel bekann­ter, wie wir mei­nen, als andere abge­le­gene Städte. Doch als ich mor­gens mei­nen ers­ten Spa­zier­gang durch die Alt­stadt mache und sich die Stra­ßen­na­men um mich legen, spüre ich, dass ich über­haupt nichts von der alten, nicht als Musik oder Kunst expor­tier­ten islän­di­schen Kul­tur weiß. Diese Spra­che wird mich in den kom­men­den Tagen an das Land erin­nern, es ist, als ob diese Insel, wo das Land stän­dig lebt und sich anpasst und bro­delt, sprüht und zer­fließt, als ob die­ses Land die Spra­che und den Klang der Worte erst aus den mensch­li­chen Köp­fen her­aus­ge­spült habe. Lau­ga­ve­gur. Gret­tis­gata. Hall­gríms­kirkja. Skóla­vör­dus­tí­gur. Zun­gen­bre­cher mit dem Klang nach Weite, Wind und Vul­kan­ge­stein. Aber viel­leicht bilde ich es mir auch ein.

Was sonst noch auf­fällt: Wie klein die Innen­stadt ist. Island hat 300.000 Ein­woh­ner. Das allein macht schon deut­lich, wie leer es hier eigent­lich zuge­hen sollte. Nun aber ist August, und die Stadt ist vol­ler Besu­cher, Besu­cher wie mir. Wäre ich ein Bür­ger Reykja­víks, würde mich das stö­ren. Das die eigene Stadt mehr als zur Hälfte Tou­ris­ten gehört. Das die Eigen­schaf­ten, die man den Islän­dern all­ge­mein zuschreibt, nun Gel­tung erlan­gen sol­len. Ein wenig kommt es mir vor, als ob diese Men­schen dau­ernd eine Prü­fung bestehen müs­sen. Ver­hal­tet euch nun wie im Bild, das sich die Welt von euch gemacht hat! Seid freund­lich! Seid offen! Sprecht eng­lisch! Seid cool. Seid jung. Seid hilfs­be­reit! Ganz so schlimm ist es dann aber doch nicht. Ein Land wie Island zieht keine Pau­schal­tou­ris­ten an, denn es gibt keine Palme (ja, es gibt über­haupt keine hohen Bäume auf der gesam­ten Insel), kei­nen Strand, keine Folk­lore. Die Men­schen, die sich auf den wei­ten Weg in den Nord­at­lan­tik auf­ma­chen, sind eher nor­di­sche Rei­sende. Men­schen, die Natur erle­ben wol­len. Das macht es nicht weni­ger tou­ris­tisch? Abso­lut richtig.

Und doch fühlt es sich weni­ger über­lau­fen an, als ich am kom­men­den Tag mit dem Miet­auto in Rich­tung Nor­den auf­bre­che. Sobald man die Haupt­stadt ver­lässt, wird einem bewusst, wie leer und weit die­ses Land beherr­schend um all die klei­nen Fle­cken auf der Land­karte liegt, in denen sich Men­schen ange­sie­delt haben. Das Land beherrscht hier alles, über­mäch­tig und dau­ernd in Bewe­gung. Was mir an mei­nem ers­ten Tag auf­fällt: Wie grün es ist. In mei­ner Erwar­tung sah ich grau und schwarz, ähn­lich wie am Rande des Flug­ha­fens neu­lich in der hel­len Nacht. Nun aber Wie­sen, Wei­den, viel Moos. Die ers­ten Wild­pferde an einem schma­len Fluss. Wie alle Flüsse und Bäche Islands hat auch die­ser sei­nen Ursprung in einem der Glet­scher. Aus der Ferne zer­lau­fen die wei­ßen Fle­cken auf den Berg­spit­zen wie zer­schmol­ze­nes Wachs an einer Kerze, die Farb­töne ändern sich von weiß zu grau zu braun zu beige und wer­den grün. Bau­ern­höfe am Stra­ßen­rand. Die Straße zwar durch­aus benutzt, und doch, selbst zur Hoch­sai­son im August, ver­ge­hen oft fünf Minu­ten, bis mir und mei­nem Toyota Corola ein ande­res Fahr­zeug ent­ge­gen­kommt. Häu­fig sind es Last­wa­gen, die Waren über die gro­ßen Ent­fer­nun­gen von Nord nach Süd transportieren.

Und dann der Wind. Ein klir­ren­der, mäch­ti­ger, schnei­den­der Wind. Seit Jahr­tau­sen­den fegt er über die Flä­chen, die Berge und die Vul­kane der Insel hin­weg und gestal­tet die Ober­flä­che immer wie­der neu. Peit­schende Böen schleu­dern mein Auto abrupt nach links oder rechts, Gegen­len­ken ist ange­sagt. Die Höchst­ge­schwin­dig­keit auf Islands Fern­stra­ßen liegt bei 90 km/h, die Islän­der selbst rasen gern ent­nervt an mir vor­bei, da ich mich daran halte. Sol­len sie. Ich habe Mühe genug, die Weite, die Frei­heit um mich herum, vor mir, hin­ter mir, auf­zu­sau­gen und zu erfassen.

Erneut Ankunft. Ich über­nachte im Auto am Rande einer Farm. Ein klei­nes Haus zu mei­ner Rech­ten, das Dach bedeckt mit Gras. Als ob die Weide über die Behau­sun­gen wei­ter­zieht. Es wird klir­rend kalt, aber ich habe mir vor­ge­nom­men, ein oder zwei Nächte im Auto durch­zu­hal­ten. Island ist weit ent­fernt, Island ist dünn besie­delt. Und Island ist ver­dammt teuer. Weil es so weit ent­fernt ist. Bis auf Fisch und Ener­gie muss das Meiste von weit her impor­tiert wer­den. Und das spürt man. Der kom­mende Mor­gen, mein ers­ter Was­ser­fall. Das Don­nern der Ele­mente. Der Wind dröhnt in den Ohren. Das Was­ser don­nert syn­chron. Die Gischt weht mir ins Gesicht und erleich­tert mir so die War­te­zeit auf mei­nen ers­ten Kaf­fee an die­sem Tag. In einer Bäcke­rei in Húsa­vík warme Bröt­chen und schwar­zen Kaf­fee. Die bei­den jun­gen Frauen hin­ter der Laden­theke plau­dern. Da sind sie wie­der, diese Klänge einer Spra­che, die in mei­nen Ohren zuerst ein­mal ver­rückt anmu­tet. Die Umlaute, die vie­len Ös und Üs und Is geben den Wor­ten einen Sing­sang, eine natur­ge­ge­bene Melo­die, die sich ange­nehm von den har­ten Sil­ben mei­ner Mut­ter­spra­che abhebt.

Die Wet­ter­ru­brik in der Zei­tung, die ich nicht lesen kann, zeigt Aqua­relle von Wol­ken und eine Sonne, die dahin­ter her­vor­lugt. Ich habe extre­mes Glück, es wird ein strah­len­der Tag. In Reykja­vík hat es in die­sen Tagen um die 10 Grad, das passt hier zum Hoch­som­mer. Hier oben an der Nord­küste, mit Grön­land irgendwo hin­ter dem Hori­zont, müs­sen wir uns mit 7 Grad begnü­gen, mor­gens lie­gen die Tem­pe­ra­tu­ren knapp über dem Gefrier­punkt. Ich bre­che auf und ein kur­zer Regen­schauer, kom­bi­niert mit dem grel­len Son­nen­licht des nor­di­schen Spät­som­mers, zau­bert einen per­fek­ten Regen­bo­gen über den gesam­ten Hori­zont. Fest­hal­ten diese Momente. Festhalten.

Ein Tag vol­ler Ereig­nisse, ich sehe den größ­ten Was­ser­fall der Insel, ich sehe Vul­kan­ge­stein, ich sehe hun­derte Schafe am Rande der Ring­straße, der Route 1. Noch vor weni­gen Jah­ren war diese Straße nicht fer­tig gestellt, das Innere der Insel ist wei­ter­hin nur über Schot­ter­pis­ten oder platt­ge­walz­ten Boden erreich­bar. Die Route 1 aber umfasst das gesamte Land inzwi­schen nahezu pau­sen­los asphal­tiert. Mich führt meine Route bis in den ent­le­ge­nen Osten der Insel, in den Sey­dis­fjör­dour. Im Fjord ein Fischer­dorf. Die bunt bemal­ten Häu­ser am Ufer, die bunt bemal­ten Fisch­kut­ter im Was­ser. Idylle und wahr­ge­wor­dene Erwar­tun­gen. Ich ver­su­che, diese Erwar­tung abzu­schüt­teln, ich möchte sehen, was hier wirk­lich pas­siert. Und stelle mir vor, hier, in die­sem Ort zu leben.

Wie­viel Idylle bliebe übrig, wenn ich nicht zu Besuch wäre? Wenn ich sechs Monate in nahezu kom­plet­ter Dun­kel­heit lebte? Im Som­mer die Nächte mit nur zwei bis drei Stun­den Dun­kel­heit genie­ßen, aber auch die Tou­ris­ten, die genau in die­sem Moment auf­tau­chen, ertra­gen müsste? Auch der Som­mer hier ist schließ­lich noch über­la­gert vom kal­ten Win­ter. Die Natur hat sich ihr Recht, im Gegen­satz zum weit ent­fern­ten euro­päi­schen Kon­ti­nent, nie­mals zurück­er­obern müs­sen. Sie hat ihr Recht nie auf­ge­ge­ben. Die Straße hier­her gehorcht der Will­kür der Fjorde, die sich quasi unprak­tisch tief in das Land gefres­sen haben. Man ist lange unter­wegs, ober­halb die­ses Fjords ver­bin­det ein ein­spu­ri­ger Tun­nel die Bewoh­ner mit dem Rest des Lan­des. Es gibt ein Post­amt hier, in dem die ält­li­chen Frauen von der Gum­mie­rung der Brief­mar­ken zu leben schei­nen, mit sol­cher Inbrunst befeuch­ten sie die Mar­ken mit der Zunge. Nach Laden­schluss im ein­zi­gen Super­markt ist nicht mehr viel zu hören. Auf dem klei­nen Fried­hof ste­hen die Kin­der­grä­ber ganz vorn in Rich­tung Straße, wie kleine Bet­ten pas­sen sie zur Stille ringsum. Die ver­zier­ten, wei­ßen Vor­hänge hin­ter den Fens­tern wer­den zuge­zo­gen, obwohl es noch lange hell bleibt. Blickt man über die Ver­en­gung des Fjords nach Osten, kommt irgend­wann Nor­we­gen. Doch eigent­lich kommt da Nichts. Nur die rie­sige, ewig weite Flä­che des Meeres.

Der nächste Tag bringt mir aber­mals das Gegen­teil von Stille, von Ein­öde. Ein rie­si­ges Glet­scher­feld am Rande der Straße, Was­ser­fälle, zu denen man hin­auf­klet­tern, oder hin­ter die man wan­dern kann. Begeis­tert wäre unter­trie­ben, ich kann ein­fach nur dort ste­hen und stau­nen. Wei­ter Rich­tung Wes­ten. Einen Kreis werde ich voll­endet haben, wenn ich wie­der in Reykja­vík ein­treffe. Aber noch ist es nicht soweit. Noch besu­che ich unter ande­rem einen Gey­sir. Wie ver­rückt unser Pla­net eigent­lich ist. Da geht man tag­ein, tag­aus auf die­sem Boden umher, man schläft auf ihm, man fühlt sich sicher. Und ver­gisst dabei, dass man die ganze Zeit auf einem leben­den Objekt, auf einem leben­di­gen Kern im Inne­ren lebt. Island ist sehr gut darin, die­sen Umstand ins Gedächt­nis zurück­zu­ru­fen. Die Gey­sire schleu­dern Schwe­fel und hei­ßes Was­ser aus dem Erd­in­ne­ren urplötz­lich an die Ober­flä­che. Wie­der die Wucht von Was­ser, aber spä­ter auch von Feuer und Eis. Ein Glet­scher­feld nahe der Route 1 lässt mich für eine Stunde erstar­ren. Die abge­bro­che­nen Eis­flä­chen schim­mern in blau und weiß auf der Was­ser­ober­flä­che, die Sonne erstrahlt alles mit purer Dra­ma­tik. Lupen­rein spie­geln sich die Eis­masse und der dahin­ter lie­gende Berg im Was­ser. Die Welt ver­dop­pelt, von jetzt auf gleich.

Zufrie­den stehe ich am Rande des Eises und kann nicht glau­ben, in wie kur­zen Abstän­den mir die­ser Trip solch enorme Unter­schiede auf­lädt. Von der abso­lu­ten Stille zum toben­den Was­ser, vom hin­auf­schie­ßen­den Gey­sir zur lang­ge­zo­ge­nen Straße direkt an der Süd­küste des Lan­des. Und dazwi­schen, wenn mir Men­schen begeg­nen, immer wie­der diese Laute aus ihren Keh­len. Laute, die nun, da ich hier bin, tat­säch­lich aus dem Land her­aus ent­ste­hen zu schei­nen. Einem Land, das hier oben, im hohen Atlan­tik, schein­bar heim­lich und leise vor sich hin lebt. Und dabei aber jeden Augen­blick von dem Ele­men­ten bestimmt und ver­än­dert wird. Ein Land aus Feuer, Eis und Wasser.

Cate­go­riesIsland
Marius Kriege

Mit Anfang 20 brach Marius nach Australien auf und ist trotz regelmäßiger Unterbrechungen im Grunde nie wieder ganz zurückgekehrt. Ein halbes Jahr Südamerika brachte unzählige tolle Geschichten und Malaria, aber das verbuchte er unter Erfahrung. Wenn er nicht irgendwo unterwegs ist, lebt er in Hamburg und schreibt. Über alles, was ihn bewegt.

  1. Biki says:

    Schön, dass dir Island gefällt!

    Ich schenke dir einige ðððððð, damit du die Orts­na­men wie Sey­ðis­fjörður und Skóla­vörðus­tí­gur mit dem rich­ti­gen Buch­sta­ben schrei­ben kannst.

  2. Frank says:

    Alle Ach­tung !!
    Das ist ein genial geschrie­be­ner Rei­se­be­richt. Die Worte eines begab­ten Schriftstellers.
    So ist eine tolle Reise für den Leser auch ein Erleb­nis im Nachhinein.
    Da lese ich die ande­ren Berichte auch gleich noch .….
    Danke
    Frank

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