Im wilden Lappland

Eine uner­war­te­te Bewe­gung auf dem Asphalt vor mir kata­pul­tiert mich ins Hier und Jetzt. Plötz­lich bin ich hell­wach. Zwei Ren­tie­re befin­den sich genau vor mir, mit­ten auf der Stra­ße. Tap­sig und leicht panisch lau­fen sie auf Zick­zack-Kurs vor mir her, hal­ten sich dann wei­ter rechts und lau­fen schließ­lich über das schma­le Rasen­stück vor den Bir­ken.

„Wenn du die Vie­cher nicht suchen musst, son­dern wenn sie dir von allein vor die Motor­hau­be lau­fen, bist du in Lapp­land ange­kom­men“, hat ein betrun­ke­ner Fin­ne in Hel­sin­ki vor weni­gen Tagen gesagt. „Lis­ten to the locals“, geht mir durch den Kopf.

Mei­ne Müdig­keit an die­sem Sams­tag­mor­gen kommt nicht von unge­fähr. Ich habe eine anstren­gen­de Nacht hin­ter mir. Um Geld zu spa­ren und ein wenig mehr Aben­teu­er in die gan­ze Geschich­te zu krie­gen, dach­te ich mir: Scheiß auf den Rücken und auf Bequem­lich­keit, schlaf doch mal ein paar Näch­te ein­fach im Auto. Den Schlaf­sack habe ich ja dabei, ein Toyo­ta Yaris ist kein Luxus­pa­last, aber bei­lei­be groß und geräu­mig genug für ein schma­les Hemd wie mich. Pus­te­ku­chen! Gegen zehn Uhr am Vor­abend habe ich eine opti­ma­le Stel­le für die Nacht gefun­den. Nicht weit von der Stra­ße zwi­schen Kuusa­mo und Kemi­jär­vi führt eine Ober­lei­tung ent­lang und unter ihr habe ich eine Schot­ter­pis­te gese­hen, die es im Not­fall mög­lich macht, an die Strom­lei­tung zu gelan­gen. Dort habe ich den Wagen geparkt und bin ich mei­nen Schlaf­sack gekro­chen, den Rück­sitz umge­klappt. So habe ich doch rela­tiv bequem dort gele­gen. Im Gegen­licht der tief­stehen­den Son­ne erspä­he ich tau­sen­de von Mücken und ande­ren Insek­ten. Ich schlie­ße die Augen und ver­su­che, nach und nach abzu­drif­ten. Aber ver­ge­bens, trotz mei­ner geschlos­se­nen Augen bleibt immer noch ein wenig Licht, das in mein Bewusst­sein dringt. Ich war­te und war­te, ruhe mich aus, ver­su­che auch mei­ne Gedan­ken zu ent­span­nen und übe ein Man­tra, um den Geist zum Pau­sie­ren zu brin­gen. Nix da, die fin­ni­sche Nacht macht mir einen Strich durch die Rech­nung. Als ich das nächs­te Mal auf das Dis­play mei­nes Tele­fons bli­cke, ist es bereits nach 1 Uhr. Die Son­ne selbst ist zwar nicht mehr zu sehen, aber ein gold-röt­lich strah­len­der Strei­fen Licht wan­dert Rich­tung Nor­den. Von dort in Rich­tung Osten. Zum ers­ten Mal in mei­nem Leben befin­de ich mich nörd­lich des Polar­krei­ses und noch hält sich das Licht die gan­ze Nacht hin­durch. Und ich? Ich dre­he mich und wen­de mich, drif­te tat­säch­lich ein­mal für weni­ge Minu­ten ins Reich des Schla­fes, bin aber kurz dar­auf umso wacher.

Kurz nach 4, als der Strei­fen im Osten ange­langt ist, raf­fe ich mich auf und fah­re durch den Früh­ne­bel los. Zwei Stun­den fah­ren, dann bin ich in Kemi­jär­vi und dort war­tet eine erwa­chen­de Tas­se Kaf­fee auf mich. Doch so leicht lässt sich mei­ne Müdig­keit nicht aus­trick­sen, ich ver­fah­re mich und muss wen­den. Als ich zum Umkeh­ren in ein klei­nes Wald­stück ein­bie­ge, schim­mert hin­ter einem Holz­haus das Was­ser eines Sees durch die Bäu­me. Ich fah­re ganz lang­sam und lei­se wei­ter, stei­ge aus und tre­te auf einen Steg, auf dem ein Boot liegt. Der Mor­gen­ne­bel wan­dert in Schwa­den über das Was­ser, die Son­ne geht wenig spä­ter genau hin­ter dem See auf. Die Welt spie­gelt sich, der Nebel wird schwä­cher und für kur­ze Zeit bin ich hell­wach. Als ob mein Kör­per Not­re­ser­ven an Kraft aus­schüt­tet, damit ich die­sen Anblick auch ja nicht ver­pas­se.

Über­haupt sind es die Seen, die die­ses Land domi­nie­ren. Sie geben dem Gan­zen Struk­tur und Ord­nung und sor­gen für atem­be­rau­ben­de Pan­ora­men. Im Süd­os­ten Finn­lands sind es weit über Ein­tau­send, doch auch wei­ter nörd­lich trifft man immer wie­der auf wun­der­bar kla­re, die Welt auf den Kopf stel­len­de Seen. Meis­tens sind die Ufer flach und lang­ge­streckt genug, um gefah­ren­frei baden zu kön­nen. Vie­le Fische sor­gen zudem in die­sem Gebiet dafür, dass gera­de an den Wochen­en­den die Ang­ler von weit her gefah­ren kom­men, um ihr Glück zu ver­su­chen. Wer Ruhe und Frei­heit genie­ßen möch­te, hät­te sich die­se Land­schaft am Reiß­brett nicht bes­ser aus­den­ken kön­nen.

Doch jetzt gera­de kann ich die Seen und die kla­re Mor­gen­luft kaum noch genie­ßen. Müde wer­de ich schnell unge­nieß­bar. Und noch immer habe ich kei­nen Kaf­fee bekom­men und erst die bei­den Ren­tie­re auf der Stra­ße haben mich wie­der ein wenig aus mei­ner Lethar­gie geris­sen. Dort ste­hen sie also nun, rechts von mei­nem Auto und kom­men nach der kur­zen Hek­tik unse­rer Begeg­nung wie­der zur Ruhe. Gelas­sen fres­sen sie an den Sträu­chern, dane­ben ein rie­si­ger Bir­ken­wald. Das Mor­gen­licht fällt durch die Baum­kro­nen und die weiß-schwarz getupf­ten Bir­ken­stäm­me erschei­nen in die­sem Licht wie LSD-Hal­lu­zi­na­tio­nen, als ob Zebras aus Mode­grün­den von Strei­fen zu Punk­ten gewech­selt haben und sich gemäch­lich vom Wind Lapp­lands in eine Rich­tung trei­ben las­sen. Ich schüt­te­le mei­nen Kopf – da ist nun aber jemand wirk­lich zu müde.

Wei­ter gehts und nach etwa zwan­zig Minu­ten errei­che ich an den Ufern meh­re­rer rie­si­ger, dun­kel­blau erstrah­len­der Seen die Klein­stadt Kemi­jär­vi. Ich kann die Augen kaum offen hal­ten, so inten­siv wird das Son­nen­licht vom Was­ser reflek­tiert. Schließ­lich fin­de ich eine Tank­stel­le, tan­ke den Toyo­ta voll und schlur­fe mit Augen­rin­gen und auf­ge­dun­se­nen Wan­gen zur Selbst­be­die­nungs­the­ke. End­lich Kaf­fee.

Finn­land und Kaf­fee – das ist ein Kapi­tel für sich. In kei­nem Land der Welt wird sta­tis­tisch gese­hen pro Kopf mehr Kaf­fee getrun­ken als hier im hohen Nor­den. „Kaf­fe­paus­si“ nen­nen die Fin­nen  ihre klei­nen Ver­schnauf­pau­sen wäh­rend der Arbeit. Und wenn eine sol­che schlaf­lo­se Nacht und anschlie­ßen­de Fah­re­rei genau eines ist, dann jawohl Arbeit. So sit­ze ich dort zwi­schen vie­len fin­ni­schen und rus­si­schen Män­nern mit karier­ten Hem­den, Ang­ler­hü­ten und All­wet­ter­ja­cken und male mir Geschich­ten zu jedem ein­zel­nen Gesicht aus. Ein Hauch von Twin Peaks umgibt die­se Tank­stel­len im fin­ni­schen Lapp­land. Nicht nur, weil sich hier alles um eine schö­ne, hei­ße Tas­se Kaf­fee dreht, wie sie auch Agent Coo­per so ger­ne zu trin­ken pflegt. Son­dern weil sich die Tank­stel­len seit den 1950er Jah­ren zu DEN Treff­punk­ten der hie­si­gen Gemein­den und Men­schen gemau­sert haben. Oft­mals lie­gen die Häu­ser und Höfe der Bewoh­ner zig Kilo­me­ter aus­ein­an­der, meis­tens sind abge­le­ge­ne Gebie­te nur über Schot­ter­pis­ten erreich­bar. So such­ten die Men­schen nach einer Art sozia­lem Zen­trum, einem Treff­punkt, an dem man zur Ruhe kom­men, den neu­es­ten Klatsch aus­tau­schen und in man­chen Fäl­len sogar Han­dels­be­zie­hun­gen abschlie­ßen und direkt begie­ßen kann. Das klei­ne Restau­rant oder Café der Tank­stel­len ist für all das der per­fek­te Ort, denn hier kommt frü­her oder spä­ter jeder im Umkreis von 100 Kilo­me­tern vor­bei, um auf­zu­tan­ken. Die Män­ner um mich her­um sit­zen größ­ten­teils schwei­gend am Tisch, nip­pen an ihren Tas­sen, essen Bröt­chen oder süße Zimt­schne­cken oder blät­tern in der Lokal­zei­tung. Ganz sel­ten wird eine Stim­me mal lau­ter, wenn eine Unter­hal­tung in Gang kommt, ist sie auch schnell wie­der ver­stummt. Es gibt sie, die wah­ren Kli­schees, die Cha­rak­te­ris­ti­ka, die sich vor Ort durch­aus bewahr­hei­ten. Fin­nen sind sehr sozi­al, gehen gern in die Knei­pe oder in die Sau­na. Aber zugleich kön­nen sie auch ein wenig kau­zig und vor allem schweig­sam sein. So wie die Män­ner an die­sem Mor­gen.

„Blöd­sinn“, den­ke ich, als ich die Tas­se geleert habe. Was stimmt und nicht stimmt. Es lässt sich nicht leug­nen, dass sich in einer länd­li­chen und zum Teil wil­den Regi­on wie Lapp­land mehr zurück­ge­zo­ge­ne Zeit­ge­nos­sen tum­meln als in der Haupt­stadt Hel­sin­ki. Aber das ist in der Eifel oder im Schwarz­wald auch nicht anders.

Der Kaf­fee hat gehol­fen, die Geheim­nis­se der Män­ner blei­ben unge­klärt. Ob sie heu­te zum Fischen, zum Jagen, zum Holz hacken oder zum Mor­den einer loka­len Dorf­schön­heit (sie­he Twin Peaks) auf­bre­chen – wer mag das beur­tei­len? Ich jeden­falls bin zum ers­ten Mal an die­sem Sams­tag wach genug, um die Land­schaft am Stra­ßen­rand rich­tig zu sehen und mir dar­über klar zu wer­den, dass ich ihn end­lich erreicht habe. Den wil­des­ten Teil Nord­eu­ro­pas, wo es vor Nadel- und Bir­ken­wäl­dern, kla­ren Seen, wil­den Flüs­sen und frei her­um­lau­fen­den Ren­tie­ren nur so wim­melt. Das genügt auch schon, um wie­der gute Lau­ne und neue Lust auf die Wei­ter­fahrt zu bekom­men. An die­sem Tag möch­te ich bis nach Ivalo fah­ren, einer klei­nen Stadt mit­ten im Land der Samí, der Nach­fah­ren jener Noma­den­völ­ker, die vor der Moder­ne in die­sem Gebiet gren­zen­los zwi­schen Russ­land, Finn­land, Schwe­den und Nor­we­gen mit ihren Ren­tier­her­den hin und her zogen und eine kom­plett eigen­stän­di­ge Kul­tur und Lebens­wei­se ent­wi­ckel­ten, die im voll­stän­di­gen Ein­klang mit der hie­si­gen Natur stand.

Für die Erhal­tung ihrer gefähr­de­ten Spra­che und Kul­tur setzt sich ein auto­no­mes Par­la­ment ein, das im fin­ni­schen Ina­ri sei­nen Sitz hat. Im Nor­den Lapp­lands wird den Samen kul­tu­rel­le Auto­no­mie garan­tiert. Doch der Wan­del beschleu­nigt sich von Jahr zu Jahr. Heu­te unter­schei­den sich die Lebens­um­stän­de der Samen nicht mehr so sehr vom Rest der Gesell­schaft. Im Nor­den Finn­lands sind die sozia­len Bedin­gun­gen und die Arbeits­markt­si­tua­ti­on für alle Ein­woh­ner gleich. Eini­ge Samen ver­fol­gen immer noch einen tra­di­tio­nel­len Lebens­stil, der auf Ren­tier­zucht, Fische­rei und Jagd basiert. So ist es aber auch bei ande­ren Ein­woh­nern Lapp­lands. Mehr als die Hälf­te der 9200 Samen lebt inzwi­schen außer­halb des sami­schen Ter­ri­to­ri­ums und hat sich auch über den weit ent­fern­ten Süden Finn­lands zer­streut.

Was die Ren­tie­re angeht, ver­ste­he ich erst in Ivalo, war­um nahe­zu alle Tie­re Hals­bän­der oder Ohr­mar­ken tra­gen. Jede Her­de gehört einem ganz bestimm­ten Samí Stamm. Die Besit­zer der Tie­re orten ihre Her­den heut­zu­ta­ge über GPS, die Sen­der befin­den sich eben am Hals oder in den Mar­ken am Ohr. Moder­ne Vieh­hal­tung im hohen Lapp­land.

Zwei Tage spä­ter wan­de­re ich süd­lich von Ivalo durch die Wäl­der des Urho Kek­ko­sen Natio­nal­parks. Von den mit Sträu­chern und Moo­sen bewach­se­nen Hügeln kann man bei Son­nen­schein bis nach Russ­land sehen. Ich bin an die­sem Mor­gen recht früh gestar­tet und daher begeg­nen mir stun­den­lang kei­ne Men­schen, dafür aber eine klei­ne Ren­tier­her­de. Es ist ganz still. Nur das lei­se Stamp­fen der Tie­re und der Wind sind zu Hören. Ich dre­he mich im Kreis, sau­ge die kla­re Luft ein und bin hell­wach.

So ist also Lapp­land.

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Antworten

  1. Avatar von Markus

    Schö­ne Bil­der und schön geschrie­ben. Möch­te dem­nächst auch mal wie­der in den Nor­den. Ware bis­her nur in Schwe­den und möch­te auf jeden Fall noch nach Finn­land und Nor­we­gen.

  2. Avatar von Susanne Helmer

    Hat mir sehr gefal­len, die Geschich­te. Ich muss auch ein­mal nach Lapp­land.

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