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Manchmal fühle ich mich, als sei ich so anders als die anderen, so viel versunkener in meinen Gedanken – dass ich plötzlich neben mir stehe, mich selbst beobachtend – und mich verwundert in der Anonymität betrachte. Das klingt komplizierter, als es ist. Ein Beispiel. Ich betrete einen Supermarkt. Es ist Feierabendzeit, der Laden voller Menschen. Ich weiß genau, was ich brauche und suche die entsprechenden Waren, so schnell ich kann. Ich bleibe nicht gern länger als notwendig in so vollen Läden, und das hat einen (guten) Grund. Wenn ich nämlich dort stehe, oder gehe, betrachte ich mich plötzlich von außen und komme mir so vor, als ob ich in einer Herde feststecke, die in eine Richtung drängt. Ich würde gern gegen diese Herde anrennen – nicht aus Protest oder aus einem Gefühl der Überlegenheit – sondern, um diesem Gefühl der Anpassung und des Eingesperrten zu entkommen. Wenn ich mich dann beobachte, komme ich mir altmodisch und unangepasst vor. Doch das bin dann ich. Und das sorgt manchmal, nicht immer, aber immer wieder zu Problemen. Vielleicht reise ich deswegen so viel.
Was das mit dem Perito Moreno Gletscher zu tun hat? Mit Argentinien? Nun, dafür muss ich von vorn beginnen. Patagonien war so lange in meinem Verstand ein schier endloser, weiter und leerer Sehnsuchtsort. Nun, da ich hier angekommen bin, fällt vieles davon der Relativität zum Opfer. Selbstverständlich sind die Ebenen der Pampas unvorstellbar offen und weit, selbstverständlich ist die Luft klar und der Himmel tiefenblau, mit einer Schärfe, wie sie nur über weiten Flächen ohne jegliche Gebäude oder Bäume vorkommt. Man kann stundenlang fahren oder gehen, ohne einen Menschen oder gar ein Tier zur Gesicht zu bekommen. Diese Freiheit um mich relativiert sich jedoch, da ich dennoch so gut wie nie allein bin. Außer mir hat diese Region nämlich hunderte, oder gar tausende Menschen angezogen; Menschen, die kommen, um sich im weiten Nichts dieser Region zu verlieren. Und paradoxerweise treffen sie dann genau auf das, was sie verlassen wollten, auf eine Masse von Menschen. Jedenfalls an den Orten, an denen sich die Natur in Extremen entwickelt hat. Reiseführer nennen so etwas Highlights. Dort endet dann meine Sehnsucht in der Realität, alles wird relativ frei – und ich ende wieder zwischen den Supermarktregalen. Der Herdeneffekt, einmal mehr.
Wir befinden uns in El Calafate, in der argentinischen Provinz Santa Cruz. Vierzig Kilometer westlich die Grenze, die in diesem Landstrich der Berge, Seen und Wälder am Ende der Welt wie ein Reißverschluss Argentinien und Chile ineinander hakt. Knapp südlich des 50. Breitengrads (50°S). Nördlich von uns der Lago Argentino. Im Gasthaus Los Dos Pinos, das ich wegen meiner Affinität zum Film „Zurück in die Zukunft“ ausgewählt habe, treffe ich Fabian wieder.
Fabian und ich sind vor wenigen Tagen durch einen Nationalpark im nördlichen Patagonien gewandert, wir haben den Cerro Fitz Roy gesehen, einen der schönsten Gipfel Südamerikas. Bei solchen Bekanntschaften auf dem Weg kommt es öfter vor, dass man sich wieder trifft; manchmal durch Zufall, manchmal, weil man ganz bewusst auch die nächste Etappe gemeinsam erleben möchte. So ist es bei uns, wir haben uns von Anfang an gut verstanden. Wenn man stundenlang durch die Wildnis wandert, ist es wichtig, auch schweigen zu können. Zusammen schweigen, wohlgemerkt. Das konnten wir, daher treffen wir uns nun erneut. Wir sitzen in der Gemeinschaftsküche unseres Gasthauses, kochen Nudeln mit Rindfleisch und berichten uns gegenseitig von den vergangenen Tagen. Fabian wandert professionell, er hat eine Ausrüstung dabei. Ich nicht, ich betrete unwegsames Gelände gerne mit Sneakern und wundere mich, dass diese Ausflüge immer gut gehen und ich nie Probleme mit den Beinen oder Gelenken bekomme. Morgen wollen wir mit einem Mietwagen zum Perito Moreno Gletscher fahren, es ist ein berühmter Gletscher. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist er sehr gut erschlossen und erreichbar – ein Parkplatz befindet sich genau am Auslauf dieser Eismassen. Allein dies hätte mir eine Warnung sein müssen, der bereits angesprochene Herdentrieb. Zum anderen beeindruckt der Gletscher durch seine hohe Aktivität. Nun fragen wir uns, wie kann ein Gletscher aktiv sein? Es ist relativ einfach. Der Gletscher wächst an seiner Spitze – an der Landzunge, sozusagen – um etwa zwei Meter täglich. Wobei dann aber Eisstücke abbrechen und im Wasser versinken. So verhält es sich mit diesem Ungetüm schon seit Ewigkeiten, Wachsen, Abbrechen, Wachsen, Abbrechen. Damit bleibt er für heutige Verhältnisse recht stabil in seiner Größe, und die ist enorm. Etwa 30 Kilometer lang, 5 Kilometer breit und bis zu 60 Meter hoch befindet sich diese Eismasse zwischen den Berghängen, die einstmals zusammen standen, sich dann durch tektonische Bewegungen auseinanderzogen und den Weg für das Eis freigaben.
Unsere Fahrt mit einem alten Fiat 500 begeistert mich sehr, es ist das erste Mal während meiner monatelangen Reise, dass ich am Steuer eines Autos sitze. Die weite Ebene der Pampas mit den gelben Gras- und Weideflächen gibt einen Eindruck davon, wie es früher – bevor der Fortschritt und mit ihm der Straßenbau hier eingezogen sind – ausgesehen hat. Tagelange Ritte oder Wanderungen, um von einer Estancia zur Nächsten zu kommen. Estancias, das sind alte Farmhäuser; oftmals nach schottischem oder walisischem Vorbild gebaucht, waren sie der Kontroll- und Wohnort jener Siedler, die hier Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Schafzucht richtig reich wurden. Heute gibt es nur noch wenige Schafe, die Rinderzucht und der hohe Fleischverzehr der Argentinier sind es nun, die hiesigen Bewohnern ihr Einkommen sichern.
Wir nähern uns dem Gletscher, bereits aus weiter Ferne erkennt man den weißen Fleck inmitten von Braun und Grau, zwischen Gestein. Als wir ankommen, lässt der Parkplatz keinen Zweifel. Die Herde war vor mir da, ich stoße lediglich dazu. Wir betreten die aus schwerem Eisen gebaute Empore, die wie ein zweigeteilter Laufsteig in Y‑Form zur Eismasse führt. Dort, am Rande des Perito Moreno, tummeln sich die Massen. Ganz gleich, an welcher Stelle ich stehenbleibe, um in Ruhe auf die beeindruckende Gestalt vor mir blicken zu können; immer ist bereits jemand anders da, oder es kommen genau in dem Moment Menschen vorbei, wenn ich stehenbleibe. Sie betrachten im Grunde gar nichts, sie blicken auch nie selbst auf das Eis. Sie blicken durch ihre Smartphones oder Kameras auf das Eis, dann stellen sie sich mit dem Rücken oder der Seite zu ihm auf und posieren. Schwer zu schätzen, wie viele Selfies ich an diesem Vormittag beobachtet habe – es dürften Hunderte sein.
Ich erinnere mich an den Supermarkt zu Hause und stehe dort, ich komme mir altmodisch und mürrisch vor, da ich nur stehen und betrachten möchte. Ganz hier sein, nur jetzt in diesem Augenblick. Kurz gelingt es mir. Ich beobachte und versuche, es zu behalten. Das Wasser hat die Farbe von Zink. Der Gletscher selbst wirkt durchscheinend blau, weiter hinten und an den Rändern weiß. Wie eine obszöne, gefrorene Zunge hängt er zwischen den Bergen im Wasser. Er? Ist ein Gletscher männlich? Jedenfalls strahlt er Dominanz aus, Kraft, eine Naturgewalt, die in jedem Fall lebendig ist. Dieses uralte Wasser vor uns ist nicht tot, es lebt, es knackt und kracht und knistert von weither und aus der Nähe. Diese Geräusche machen das Ganze nur noch schwerer fassbar, da es wie eine Anhäufung an Effekten erscheint; diese Effekte aber entstehen auf natürliche Art. Kein Regisseur könnte es so lebendig wirken lassen. Fabian und ich sprechen nicht viel, wir versuchen, das, was es gibt, zu sehen und den Massen an Menschen auszuweichen. Jack Wolfskin muss es gut gehen – so viel steht fest. Überall diese Jacken für die Wildnis, die hier, auf einem bequemen Laufsteg vor der Natur (und nicht in ihr) überhaupt nicht Not tun.
Doch kurz bevor uns Ironie und Widersprüche endgültig aufhetzen, kracht es laut und ein riesiger Eisbrocken löst sich vom Rande der Gletscherzunge, stürzt ins Wasser und lässt eine Flutwelle entstehen, die genau unter unseren Füßen ausläuft. Dieser Moment macht eines klar. Sie können noch so viele Parkplätze bauen, noch so viele Leute in Outdoorjacken spazieren und Selfies machen lassen – der Gletscher kümmert sich nicht darum. Er ist lebendig, er wächst und schrumpft, wächst erneut und schrumpft – und wird doch langfristig irgendwann verschwinden, ganz einfach durch das träge und geduldige Gesetz der Zeit und der Erwärmung, die wir, auch Fabian und ich, auch die vielen Jackenträger und Selfiefetischisten, verursachen. Bei all seiner Größe und Übermacht wird der Gletscher eines Tages verschwinden. Durch uns.
Am Ufer, nahe am Parkplatz, der ähnlich überdimensional ausfällt wie der Gletscher selbst, ergreife ich eine durchsichtige Eisplatte. Auf meiner Handfläche liegt dieses Stück und beginnt knisternd zu schmelzen. Bringe ich hier gerade Wasser zum Schmelzen, das vor tausenden von Jahren gefroren ist? Wasser aus einer Zeit vor Christus, vor den Pharaonen, vor den Massen? Bewahrte Zeit zerläuft hier als Wasser auf meiner Hand. Uraltes Wasser.
Es ist genug. In unserem Fiat fahren wir zurück, vorbei an Estancias, vorbei an tannengesäumten Wäldern, vorbei an weiten Ebenen mit freien Flächen, die nichts unvorstellbarer scheinen lassen als Menschenmassen und Moderne; zurück zu den Massen, die uns nicht loslassen wollen.
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Ein sehr schöner Artikel zum nachdenken. 🙂 Ich komme im Almurlaub Südtirol immer sehr zur Ruhe und finde wieder zu mir. Das brauche ich aber auch, da der normale Alltag viel zu stressig ist, um sich einen klaren Blick zu bewahren.
Wow, ich bin sprachlos. Ein Artikel der richtig zum Nachdenken anregt und mich an meine Islandreise erinnert.
Da ging es mir ähnlich mit den ganzen Touris im Süden von Island und ich war so froh, wie wir endlich die Westfjorde erreicht haben und stundenlang kein anderes Auto gesehen haben. Das war richtig herrlich.
Deine Worte werden noch länger in meinem Kopf hallen und ich bin gespannt, was sie in mir auslösen.
Vielen Dank für diesen Gedankenanstoß.
Lieben, nachdenklichen Gruß
Dori[…] Artikel lesen auf ‚Reisedepeschen‘ lesen […]
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