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Von Männern für Männer: Geschlechterrollen in der orientalischen Welt

Ich fläze mich zu Abdul, Muham­mad und deren Nach­bar auf den Tep­pich, den sie vor der Hütte in den wei­chen, noch war­men Wüs­ten­sand gelegt haben. Sie trom­meln, sie sin­gen unter den Ster­nen, die wie Dia­man­ten am dun­kel­blauen Him­mel fun­keln. Mal unter­hal­ten wir uns, mal schwei­gen wir für län­gere Zeit… ohne, dass ich die ein­tre­tende Stille als unan­ge­nehm oder bedroh­lich emp­finde, wie es wäh­rend eines Gesprächs unter Euro­pä­ern womög­lich der Fall wäre.

Nach einer Weile durch­bre­che ich das Schwei­gen und erkun­dige mich, ob es Zufall sei, dass ich bis­her mit kei­ner ein­zi­gen marok­ka­ni­schen Frau tie­fer ins Gespräch gekom­men sei. Nur ein­mal, im Bus von Mar­ra­kesch nach Zagora, war es zu einer unbe­hol­fe­nen Kom­mu­ni­ka­tion mit mei­ner jun­gen Sitz­nach­ba­rin gekom­men. Sie war geschätzt Anfang 20, hatte haßel­nuss­braune Augen und trug eine tra­di­tio­nelle Dschel­laba (lan­ges, flie­ßen­des Gewand mit Kapuze). Ihr üppi­ges dunk­les Haar floss über die Schul­tern, und sie ver­hüllte es nicht. Mit einem brei­ten Lächeln und unter Ein­satz von Hän­den und Füßen ver­stän­dig­ten wir uns dar­auf, ihre Chips und meine Cola zu tei­len. Es blieb aber bei die­sen freund­li­chen und offe­nen Ges­ten, da wir keine gemein­same Spra­che fanden.

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Bildung – (k)eine Selbstverständlichkeit?

Eher sei es wohl kein Zufall, erklärt mir Abdul. Viele Mäd­chen wür­den gar nicht erst zur Schule geschickt, da sie zuhause als Arbeits­kraft gut zu gebrau­chen sind. Und Jene, die zur Schule gehen, ler­nen Ara­bisch und Fran­zö­sisch, aber kaum Eng­lisch. Meine Recher­che ergibt, je nach zu Rate gezo­ge­ner Quelle, eine Analpha­be­ten­rate zwi­schen 30 und 60% … wobei sie bei Frauen ungleich höher ist als bei Männern.

Abdul und Muham­mad, beide Ende 20, sind die jeweils ältes­ten Söhne in ihren kin­der­rei­chen Fami­lien, die seit jeher Noma­den waren und erst in die­ser Gene­ra­tion in Tagounite bzw. M’Ha­mid sess­haft gewor­den waren. Als Kamel­trei­ber, Köche und Gast­ge­ber in der klei­nen Sied­lung mit­ten in den Dünen sor­gen sie zu einem gro­ßen Teil für das Fami­li­en­ein­kom­men, sichern damit auch den Schul­be­such der Geschwis­ter. Und, dar­auf legen beide sehr gro­ßen Wert, sie sind in der Nähe ihrer Fami­lien und hel­fen den jün­ge­ren Geschwis­tern, die sie etwa ein­mal pro Woche besu­chen, mit den Haus­auf­ga­ben. „Ins­hal­lah“, wenn Gott will, wer­den alle Geschwis­ter, auch die Mäd­chen, die Schul­aus­bil­dung abschlie­ßen, seufzt Abdul zufrieden.

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Michaela, eine Öster­rei­che­rin, die in Mar­ra­kesch lebt, erklärt mir, am Land sei das durch­aus noch so üblich. In der Stadt sei hin­ge­gen Ver­än­de­rung zu spü­ren. Alle sie­ben Geschwis­ter in ihrer marok­ka­ni­schen Fami­lie, die aus Ouar­za­zate stammt, haben matu­riert, sechs davon stu­die­ren. Deren Mut­ter sei Analpha­be­tin, der Vater Auto­me­cha­ni­ker, sie konn­ten ihren Kin­dern bei den Schul­auf­ga­ben also nie wirk­lich hel­fen. Mitt­ler­weile sind mehr junge Frauen als Män­ner an den Uni­ver­si­tä­ten ein­ge­schrie­ben und erzie­len auch die grö­ße­ren Erfolge. Marokko hat eine der welt­weit höchs­ten Aka­de­mi­ke­rin­nen­ra­ten zu Buche stehen.

Dies ver­mag aber nur auf den ers­ten Blick dar­über hin­weg zu täu­schen, dass selbst die libe­ra­le­ren Marok­ka­ner tief in ihren patri­ar­cha­lisch-chau­vi­nis­tisch gepräg­ten Denk­wei­sen und Struk­tu­ren ver­wur­zelt sind. „Es ist egal, ob du Haus­frau oder Minis­te­rin bist, dein Mann bestimmt, was gemacht wird. Selbst wenn du als Minis­te­rin aus­rei­sen willst, muss dein Mann unter­schrei­ben, dass er ein­ver­stan­den ist“, bringt es Michaela auf den Punkt.

Weiblicher Alltag in einem patriarchalisch-chauvinistischen System

Wenn man als blonde, weiß­häu­tige Euro­päe­rin in ein ara­bisch gepräg­tes Land reist, macht man sich so seine Gedan­ken zur Rolle der Frau in die­ser Kul­tur. Zusam­men mit den eige­nen Erfah­run­gen und vie­len Gesprä­chen zei­gen sich unend­lich viele Facet­ten die­ser Thematik.

Da gibt es zunächst mal den Koran, der ganz wun­der­bar in alle mög­li­chen Rich­tun­gen inter­pre­tiert wer­den kann. Selbst in Ama­zon-Buch­be­wer­tun­gen zu einem Rei­se­füh­rer ent­spin­nen sich aus­la­dende theo­lo­gi­sche Dis­kus­sio­nen über den „wah­ren“ Islam, weil die Suren ver­dammt viel Spiel­raum in der Aus­le­gung las­sen. Die Kon­ser­va­ti­ven und Fun­da­men­ta­len inter­pre­tie­ren bei­spiels­weise eine Sure so, dass der Mann über der Frau stünde und Ver­fü­gungs­ge­walt über sie habe. Andere hal­ten dem ent­ge­gen, „über der Frau ste­hen“ sei unglück­lich for­mu­liert, viel mehr müsse man es als „für sie ver­ant­wort­lich sein“ verstehen.

Immer wie­der gab und gibt es Frauen, die im öffent­li­chen Leben Marok­kos Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Sie alle waren und sind gläu­bige Mus­li­min­nen, die ihre reli­giö­sen, tra­di­tio­nel­len Wert­vor­stel­lun­gen und die beruf­li­chen Auf­ga­ben nicht in Wider­spruch sehen. Moderne, gläu­bige Femi­nis­tin­nen sowie zahl­rei­che männ­li­che Islam­wis­sen­schaft­ler kom­men auf­grund der man­nig­fal­ti­gen Inter­pre­tier­bar­keit des Koran zu fol­gen­der Erkennt­nis: Unter­drü­ckung und Aus­schluss der Frauen aus dem öffent­li­chen Leben las­sen sich nicht durch den Islam recht­fer­ti­gen, son­dern sind viel mehr ein Kon­strukt von Män­nern für Män­ner. Das Ziel, eh klar, ist Macht­er­halt. Auch in der west­li­chen Welt haben die meis­ten Män­ner eher ver­hal­ten geju­belt und froh­lockt, als die Frau­en­be­we­gung in Fahrt kam bezie­hungs­weise sich das Rol­len­bild der Frau zu ver­än­dern begann.

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Immer­hin ist Marokko das erste isla­mi­sche Land, in dem die voll­kom­mene Gleich­be­rech­ti­gung von Mann und Frau 2004 per Gesetz ver­an­kert wurde. Dass der All­tag der Frau dadurch aber nicht von heute auf mor­gen rosa­rot ist, ver­steht sich von selbst. Dabei geht es weni­ger um die vie­len Frauen, die voll in ihrer Rolle als Ehe­frau und Mut­ter auf­ge­hen, sich hin­ter dem Schleier gebor­gen und kei­nes­wegs unter­drückt füh­len, im Gegen­satz dazu uns Euro­päe­rin­nen bemit­lei­den, weil wir in ihren Augen keine Sicher­heit im Leben haben. Es geht viel­mehr um jene wach­sende Anzahl von Frauen, die sich von der Gesell­schaft, in der sie leben, ob der vie­len Dop­pel­bö­dig­kei­ten ver­ra­ten füh­len. Denn prak­tisch wird die Gesetz­ge­bung ähn­lich fle­xi­bel aus­ge­legt wie der Koran … ten­den­zi­ell zu Las­ten der Frauen.

Ein Gesetz allein reicht eben nicht aus, die Struk­tu­ren und Denk­wei­sen umzu­krem­peln. Bis die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau in den Köp­fen ange­kom­men ist, wird wohl noch viel Zeit ver­ge­hen. Ande­rer­seits: Es ist ja nicht so, als sei in Sachen Gleich­be­rech­ti­gung in good old Aus­tria alles eitel Wonne. Auch hier­zu­lande sind die Rol­len­vor­stel­lun­gen von Mann und Frau in ste­ti­ger Bewe­gung und Veränderung.

Als Touristin in der orientalischen Welt

Für Ken­ner der ara­bi­schen Welt ist es nichts Neues: Als allein rei­sende, blonde Frau gelte ich bei vie­len Marok­ka­nern zunächst per se als euro­päi­sche Schlampe. Kaufe ich an ihrem Stand nichts ein, wird mir das oft auch unver­hoh­len hin­ter­her gebrüllt. Das hat einer­seits mit den geschil­der­ten, seit Jahr­hun­der­ten ver­in­ner­lich­ten patri­ar­chal-chau­vi­nis­ti­schen Denk­mus­tern zu tun. Ande­rer­seits aber auch mit der Unwis­sen­heit bzw. Igno­ranz euro­päi­scher Frauen, die leicht geklei­det (Bauch frei, Schul­tern frei, Knie frei, Shirt bis zu den Brust­war­zen aus­ge­schnit­ten) durch Marokko fuhr­wer­ken und pro­ak­tiv auf den nächst­bes­ten Flirt ein­stei­gen. An Gele­gen­hei­ten dazu man­gelt es nicht. Und an täu­schend ech­tem, roman­ti­schem Charme sowie einer fes­seln­den Aus­strah­lung marok­ka­ni­scher Män­ner auch nicht.

Eine Bezie­hung zu einer Euro­päe­rin gilt für viele junge Marok­ka­ner als „Fahr­schein in den Wes­ten“. Bez­ness, ein Kunst­wort, das sich aus Bezie­hung und Busi­ness zusam­men­setzt, heißt die­ser Geschäfts­zweig, der dar­auf abzielt, Euro­päe­rin­nen auf­zu­rei­ßen, eine Bezie­hung anzu­bah­nen und so über kurz oder lang für das eigene Ein­kom­men und das der marok­ka­ni­schen Fami­lie zu sor­gen. So ergibt sich eins zum andern.

Zurück in mei­nem kom­for­ta­blen, euro­päi­schen Leben. Nie­mand sucht sich aus, wann und wo er gebo­ren wird. Mir ist bewusst: Boahh, hatte ich Schwein! Denn auch, wenn es mir heute selbst­ver­ständ­lich erscheint – als Berg­bau­ern­toch­ter in einem abge­le­ge­nen Tal gebo­ren – zwei aka­de­mi­sche Stu­dien abge­schlos­sen zu haben, ein gutes und selbst­be­stimm­tes Leben zu füh­ren, weiß ich, dass es bei Wei­tem nicht so selbst­ver­ständ­lich ist.

Cate­go­riesMarokko
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Regina M. Unterguggenberger

Wie es Zwillingsgeborenen nachgesagt wird, hat Regina (mindestens!) zwei Herzen in ihrer Brust. Als freie Kommunikationsberaterin arbeitet sie meist in schwindelerregendem Tempo. Als Fotografin, Autorin und beim langsamen Reisen kann sie sich schon mal im kontemplativen Moment verlieren. Sie gilt als " anspruchsvoll" und ist ganz nach Paul Watzlawick der Meinung, zweimal so viel sei nicht immer doppelt so gut.

  1. poca Sa says:

    Ich­weiß ja nicht… ob man in einem Kur­zen­Ur­lab- ohne Sprach­kennt­nisse- eben­mal so beim Durch­fh­ren-die Sozia­len Struk­tu­ren wirk­lich mitkriegt…
    Eher haben Sie Ihre Vor­ur­teile hier abge­bil­det und in Worte gefasst.
    Schade.
    DAS ist mir zu ober­fläch­lich und mart­schreie­reischer mainstream.

    1. Was Sie glau­ben, ist natür­lich Ihre Sache, und ich stelle nicht den Anspruch, Jedem bzw. Jeder zu gefallen. 

      Wor­über ich berichte, sind meine per­sön­li­chen, durch­aus reflek­tier­ten Reis­erleb­nisse aus knapp drei Wochen Marokko, in denen ich im Übri­gen sehr ein­ge­hende Gesprä­che mit Ein­hei­mi­schen füh­ren durfte, halt nicht auf Ara­bisch oder Fran­zö­sisch, son­dern auf Eng­lisch und Spa­nisch. Sie glau­ben gar nicht, wie sprach­ge­wandt viele Marok­ka­ner sind. 

      Dass man Dinge aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven betrach­ten kann, stelle ich nicht in Abrede. Es steht Ihnen ja frei, eine Depe­sche mit Ihren fun­dier­ten Orts­kennt­nis­sen und Rei­se­er­leb­nis­sen in Marokko zu schreiben.

  2. Norah says:

    Hi Regina,

    vor kur­zem war ich in Jor­da­nien. Dort habe ich mir eben­falls Gedan­ken zu die­sem Thema gemacht.
    Das west­li­che Frauen als „leicht zu haben“ ein­ge­stuft wer­den, musste ich auch an eini­gen Orten in Süd­ost­asien fest­stel­len. Mein Trek­king-Guide in Laos hat die Welt nicht mehr ver­stan­den, als ich mich gewei­gert habe ihn zu küssen… 

    Lei­der wird die­ses Bild durch das Fern­se­hen und (wie du schon gesagt hast) durch eine extrem frei­zü­gige Beklei­dung eini­ger Tou­ris­tin­nen ver­stärkt. Hof­fen wir dar­auf, dass sich die Gleich­be­rech­ti­gung wei­ter durch­setz­ten wird – nicht nur in der Theo­rie / den Gesetz­bü­chern, auch in der Praxis!

    Danke für dei­nen Arti­kel. LG Norah

    1. Mein Trek­king-Guide in der Sahara hat es auch für not­wen­dig befun­den, neben mir sit­zend auf ein­mal mei­nen Rücken zu strei­cheln. Und das obwohl ich mich so spie­ßig wie mög­lich geklei­det hatte. Ich hätte ihm fast eine gescheu­ert, hab es aber dabei belas­sen, ihn ganz deut­lich und laut zurecht zu weisen.

      Das mit der Gleich­be­rech­ti­gung ist so eine Sache. Ich habe beruf­lich min­des­tens zu 80% mit Män­nern zu tun, und obwohl sich die meis­ten davon gewiss für fort­schritt­lich hal­ten, kommt der Chauvi dann halt oft unter­schwel­lig rüber. Viel­leicht liegt es an mir als Per­son, aber manch­mal frage ich mich, warum ich z. B. eine Maß­nahme eldendslange argu­men­tie­ren muss, wäh­rend sie, von einem männ­li­chen Kol­le­gen vor­ge­tra­gen, sofort breite Zustim­mung fin­det. Von den Miss­stän­den unter­schied­lich hoher Gehäl­ter für den­sel­ben Job will ich gar nicht erst sprechen.

      Und nach­dem es bei uns schon meh­rere Jahr­zehnte gedau­ert hab, bin ich abso­lut über­zeugt davon, dass es in der ara­bi­schen Welt eine Gene­ra­tio­nen­frage sein wird, bis sich diese Dinge dort für die Frau spür­bar verändern. 

      Vie­len Dank für Dei­nen Dis­kus­si­ons­bei­trag, Norah!
      Regina

  3. Michael Deneke says:

    Erkennt­nis inklu­sive Selbst­re­fle­xion aus einem Rei­se­er­leb­nis nach Marokko, einem ara­bi­schen Land, sehr gut und nach­voll­zieh­bar beschrieben.
    Liest sich leicht und verständlich.

    1. Ich gehe nächs­tes Jahr ja wie­der nach Marokko und plane auch ein Foto­pro­jekt zu machen, ich bin gespannt, ob sich meine Ein­drü­cke dann ver­stär­ken oder ver­än­dern, wenn ich län­gere Zeit in die­sem Land bin.

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