Die Dorfschönheit

Neu­gie­rig lugt sie aus der Tür. Sie ist mir gleich beim Aus­stei­gen aus dem Bus auf­ge­fal­len. Wir ihr augen­schein­lich auch. Eine fide­le Erschei­nung, so rund und drall und doch so wen­dig mit laus­bü­bi­schen roten Apfel­bäck­chen – „pum­perl­ge­sund“ von der kla­ren Berg­luft.

Außer uns sind hier in Nan­ping, einem win­zi­gen nichts­sa­gen­den Berg­dorf kei­ne wei­te­ren Tou­ris­ten. Die Son­ne erbarmt sich im Janu­ar nur für ein kur­zes Stell­dich­ein im Tal­kes­sel. Die Bür­ger­stei­ge sind alle­samt hoch­ge­klappt und Lang­na­sen grund­sätz­lich noch sel­te­ne Gäs­te im Wanxi­an Shan Natur­park in der Regi­on Hen­an.

China-Henan-Taihang-Mountains-Peach-Blossom-Valley

China-Henan-Guolian-Wanxian-Shan-Nanping-Drachenschlucht

Guo­liang, die Dorf­be­rühmt­heit

Ein­zig im klei­nen Berg­dorf Guo­liang las­sen sie sich bli­cken aber nicht nur wegen des Pan­ora­ma­bli­ckes auf die Ber­ge, den man von die­sem Fle­cken Erde genießt. Jahr­hun­der­te­lang durch sei­ne Unzu­gäng­lich­keit vor der Außen­welt geschützt, gelangt Guo­liang auf einem Schlag zu Berühmt­heit. Es dien­te näm­lich als länd­li­che Kulis­se für eine Rei­he hei­mi­scher Block­bus­ter.

Heu­te zieht das Dorf vor allem Künst­ler auf Inspi­ra­ti­ons­su­che in der Natur an. Dazu gesel­len sich im Som­mer Heer­scha­ren an chi­ne­si­schen Wochen­end­tou­ris­ten. Unter der Woche ist es still und fried­voll und im Win­ter nahe­zu aus­ge­stor­ben, was wir am eige­nen Lei­be zu spü­ren bekom­men. Wo sonst Kin­der toben, alte Frau­en aus Tür­öff­nun­gen spä­hen, es über­all brut­zelt und dampft, but­ter­gel­be Mais­kol­ben an den Dorf­häu­sern bau­meln, tref­fen wir auf lee­re Gas­sen und ver­rie­gel­te Türen.

China-Henan-Nanping-Haus

China-Henan-Guoliang-Bergdorf-alte-Tür China-Henan-Guoliang-Kollage China-Lampion collage-Henan-China-Guoliang

 

Tun­nel mit zwei­fel­haf­tem Ruf

Erreich­bar ist Guo­liang über einen dra­ma­ti­schen Tun­nel, der als eine der gefähr­lichs­ten Stra­ßen der Welt Hit­lis­ten anführt und dem Dorf zu wei­te­rem Ruhm ver­half. Ein zwei­fel­haf­ter Ruhm. Steil ist er, der Tun­nel, fach­män­nisch, mit pri­mi­ti­ven Mit­teln von den Dorf­be­woh­nern in den Berg gehau­en und stre­cken­wei­se eng ist er auch, aber Gefahr kann ich kaum erken­nen. Dafür eine inter­es­san­te Geschich­te: Nach­dem die Dorf­be­woh­ner Jahr­hun­der­te nur über einen abschüs­si­gen Fuß­pfad, die Him­mels­lei­ter, mit dem Rest der Welt ver­bun­den waren, ent­schlos­sen sie sich in den 70er Jah­ren selbst einen Tun­nel zu errich­ten. Drei­zehn star­ke Dorf­be­woh­ner taten sich zusam­men, um mit Häm­mern und Mei­ßeln eine Stra­ße zu bau­en. Den Lohn für die­se Mühen, die hohen Ein­tritts­gel­der in den Natur­park, ern­tet heu­te jedoch der Staat.

Wir spa­zie­ren den 1,2 Kilo­me­ter lan­gen Tun­nel nach oben. Er win­det sich eng an einer senk­rech­ten Fels­wand ent­lang. Immer wie­der gibt es Fens­ter mit herr­li­chen Aus­bli­cken. Den Rück­weg pla­nen wir über die Him­mels­lei­ter zu neh­men, stei­le Stu­fen, die schon zur Zeit der Ming-Dynas­tie in den typisch rosa­far­be­nen Fels gehau­en wur­de und eine fan­tas­ti­sche Aus­sicht bie­ten. Das bleibt uns heu­te ver­wehrt. Die Him­mels­lei­ter ist im Win­ter nicht pas­sier­bar.

Die Rück­fahrt erfolgt im rasan­ten Downhill durch den Tun­nel, mit Eng­päs­sen und viel Tam­tam, nach Nan­ping, dem Mau­er­blüm­chen im Schat­ten (im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes) sei­ner pro­mi­nen­ten Schwes­ter aber dafür mit der bemer­kens­wer­ten Dra­chen­schlucht. Stil­le Was­ser sind eben doch tief.

China-Henan-Guoliang-Tunnel China-Henan-Guoliang-Tunnel-Kollage

China-Henan-Guoliang-Entrance

»Hast Du schon geges­sen?«

Dort tritt sie, neben uns die ein­zi­ge Men­schen­see­le weit und breit, ver­meint­lich geschäf­tig auf den Bal­kon, um die Wäsche auf­zu­hän­gen. Ihr Haus ist illu­mi­niert. Die weni­gen Son­nen­strah­len des fros­ti­gen Win­ter­ta­ges tref­fen direkt dar­auf. Auf dem Bänk­chen davor möch­te man ver­wei­len und die kal­te Nase in die Son­ne recken.

Ich beob­ach­te die klei­ne Frau, ganz ange­tan von ihrer dral­len Sta­tur und der vor­wit­zi­gen Aus­strah­lung. Sie tritt vors Haus und wursch­telt dort eif­rig wei­ter.

Ich bit­te Yang, unse­ren Beglei­ter, nach einem Foto zu fra­gen. Schmun­zelnd dra­piert sich auf der Bank und kichert, als ich das Bild prä­sen­tie­re. Dan­kend zie­he ich davon.

China-Henan-Guoliang-Frau

Woher kommst Du, ruft sie mir nach. »Chi-fan-le-ma?« (吃饭了吗) Hast Du schon geges­sen? Ja, dan­ke, mir geht es aus­ge­zeich­net hier!*

 

*Da es zur Zeit der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on für die meis­ten Leu­te zu wenig zu essen gab, bedeu­te­te die Fra­ge „Hast Du schon geges­sen?“, ob es jeman­dem gut oder schlecht ging. Bis heu­te hat sich die Fra­ge gehal­ten, wobei „Ja“ die Bedeu­tung „Mir geht es gut“ hat. Die­se Fra­ge wird in Chi­na, vor allem in den nörd­li­chen länd­li­chen Regio­nen ger­ne als Will­kom­mens­for­mel ver­wen­det.

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Antworten

  1. Avatar von Marvin

    Wirk­lich tol­ler Bei­trag. Habe mich rich­tig gefreut die­sen Bei­trag zu lesen. Ich war noch in Chi­na, aber nach dem ich mir die­sen Bei­trag durch­ge­le­sen habe, wer­de ich das Auf jeden­fall machen!

  2. Avatar von A. Neumann
    A. Neumann

    „Hast du schon geges­sen?“ anstatt Guten Tag? lus­tig

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