Argen­ti­nien, Februar 2007.
Es ist ein typisch argen­ti­ni­scher Som­mer­tag, heiß und schwül, als ein Anruf ein­geht. „Am Bahn­hof Once ist was los, komm her, wenn es dich inter­es­siert“, brüllt ein befreun­de­ter Foto­graf ins Tele­fon. Dann legt er auf. Zu laut ist es im Hin­ter­grund, als dass er noch mehr erklä­ren könnte. Wäh­rend ich mich dem Bahn­hof nähere, über­fällt mich ein mul­mi­ges Gefühl. In die­sem Stadt­teil sollte ich mich nicht auf­hal­ten, wurde mir vor­her oft gesagt. Die Stra­ßen sind vol­ler Müll, die Häu­ser her­un­ter­ge­kom­men. Nach den präch­ti­gen Bau­ten, die von bes­se­ren Zei­ten zeu­gen und die man aus ande­ren Stadt­vier­teln kennt, sucht man hier ver­geb­lich. Men­schen lun­gern auf den Stra­ßen herum, wüh­len im Mist, bit­ten um Geld. In der Vor­halle des Bahn­hofs herrscht Chaos, ein Mann schlägt auf seine Trom­mel ein, jemand drückt mir einen Zet­tel in die Hand, es ist laut. Ich suche den Foto­gra­fen. Über­all ste­hen Men­schen herum, man­che mit ver­mumm­ten Gesich­tern. Auf mich wir­ken sie irgend­wie furcht­ein­flö­ßend, es ist das erste Mal, dass ich so etwas miterlebe.

In der Menge ent­de­cke ich den Freund. Er berich­tet meis­tens über soziale Pro­teste und ist des­halb hier. Er erklärt mir, dass die Preise der Zug­ti­ckets erhöht wer­den sol­len und sich die Men­schen dage­gen zur Wehr set­zen. Ich betrachte den Zet­tel in mei­ner Hand. Pro­test­ti­cket, steht dar­auf. Dar­un­ter ist erklärt, warum die Men­schen hier heute demons­trie­ren. Und es wird dazu auf­ge­ru­fen, ohne zu bezah­len mit dem Zug zu fahren.

Ich mische mich unter die Leute, beob­achte das Trei­ben eine Weile. Ich bin unpo­li­tisch auf­ge­wach­sen, meine Eltern haben sel­ten über Poli­tik gere­det. Ich wüsste auch nicht, dass sie jemals an Demons­tra­tio­nen teil­ge­nom­men hät­ten. Ich packe meine Kamera aus. Etwas komisch fühlt es sich an, mit die­sem Gerät auf fremde Men­schen zu zie­len, doch es scheint nie­man­den wirk­lich zu stö­ren. Eine Frau kommt auf mich zu, im Arm hält sie ein klei­nes Kind, das an ihrem blan­ken Busen saugt. Sie beginnt, mir ihre Lei­dens­ge­schichte zu erzäh­len. Dass sie viele Kin­der hat, aber kein Geld. Sie beschwert sich über die Zug­ge­sell­schaft, die jetzt noch mehr ver­lan­gen wolle für die Fahrt und dass es so noch schwe­rer wer­den würde, Essen für ihre Fami­lie zu besor­gen. Ich hor­che ihr zu. Sage nicht viel, was soll ich auch sagen? Dann irgend­wann hört die Frau auf zu reden und ver­schwin­det wie­der in der Menge.

Ich foto­gra­fiere wei­ter. Eine Gruppe lachen­der Mäd­chen will für ein Bild posie­ren. Eines davon drückt mir einen Zet­tel mit ihrer E‑Mail-Adresse in die Hand. Damit ich ihnen das Foto schi­cken kann. Ich wende mich den jun­gen Män­nern zu, die den Fahr­gäs­ten hel­fen, ohne Ticket die Absper­rung zu den Glei­sen zu über­que­ren. Es ist hek­tisch. Ich halte die Kamera auf einen Mann, der mich irgend­wie fas­zi­niert. Als er das bemerkt, brüllt er mir zu: „Flaca, ¡no me saques fotos!“ Er will nicht, dass ich ihn foto­gra­fiere, also drü­cke ich nicht ab. Ver­ständ­lich irgend­wie. Es wird einen Grund geben, wes­halb man­che der Leute mit Tüchern ihr Gesicht verdecken.

Nach einer Weile ver­lasse ich die Bahn­hofs­halle wie­der. Ich grüble über die Gründe, die Men­schen dazu brin­gen, zu pro­tes­tie­ren. Diese Welt ist mei­ner so unglaub­lich fern und ich möchte sie ver­ste­hen. Heute weiß ich, dass die­ser Tag der Beginn mei­nes Inter­es­ses für poli­ti­sche Zusam­men­hänge war. Der Anfang einer Suche nach den Ursa­chen glo­ba­ler Ungleich­hei­ten. Ein paar Wochen nach die­sem argen­ti­ni­schen Som­mer­tag, wie­der zurück in Europa, schreibe ich mich an mei­ner Uni für das Stu­dium der Poli­tik­wis­sen­schaft ein. Ich will all das verstehen.

Cate­go­riesArgen­ti­nien
Hanna Silbermayr

Oft sind es die kleinen Dinge, die uns zum Staunen bringen. Begegnungen und Gespräche, die zum Nachdenken anregen, uns einen Moment innehalten lassen in einer Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint, uns ein Lächeln entlocken.

Solche Momente möchte ich nicht für mich behalten, sondern mit Euch teilen. Ich, das ist eine ausgebildete Grafikdesignerin, studierte Romanistin und Politikwissenschaftlerin, die im Namen des Journalismus immer wieder in Lateinamerika unterwegs ist. Demnächst wohnungslos und in stetiger Bewegung.

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