Michelangelos Muse

Vor 27 Jah­ren warf ich einen Pfen­nig in den Tre­vi-Brun­nen. Damals war ich nur einen Tag in Rom. Nun keh­re ich zurück. Ist es wirk­lich so schlimm gewor­den mit den Tou­ris­ten, wie alle sagen? Wo fin­det man ruhi­ge Orte im Hei­li­gen Jahr 2025? Was muss man gese­hen haben?

Ich ste­he vor einem über­ir­di­schen Blau. Am liebs­ten wür­de ich hin­ein­sprin­gen, ein­tau­chen, mich trei­ben las­sen und umher­schwe­ben in die­sem Him­mels­raum, der immer tie­fer zu wer­den scheint, je län­ger ich ihn betrach­te. Das Fres­ko hin­ter dem Altar in der Six­ti­ni­schen Kapel­le saugt mich ein wie eine begin­nen­de Ebbe klei­ne Muscheln vom Mee­res­bo­den. Die­ser Moment, in dem mich Glücks­ge­füh­le durch­strö­men, muss wohl dem ent­spre­chen, was Reli­gi­ons­phi­lo­so­phen als tran­szen­den­ta­le Erfah­rung bezeich­nen, den­ke ich, bevor sich mein Geist wie­der im Stich­kap­pen­ge­wöl­be über mir ver­liert. Sig­mund Freud beschrieb das „ozea­ni­sche Gefühl“ als Zustand einer inni­gen Ver­bun­den­heit mit dem Uni­ver­sum. Es löse die Ich-Gren­zen auf, mein­te der Psy­cho­ana­ly­ti­ker – und ich kann gera­de sehr gut nach­emp­fin­den, was Freud damit mein­te.

Michel­an­ge­lo Buo­nar­rot­tis Kom­po­si­ti­on kit­zelt mei­ne Sin­ne wach und spen­det gleich­zei­tig eine uner­klär­li­che inne­re Ruhe. Über 5.000 Qua­drat­me­ter bemal­te er, auf einer Flä­che, die etwa 40 Meter lang, 13 Meter breit und 21 Meter hoch ist. Wie gern wäre ich dabei gewe­sen, im 16. Jahr­hun­dert, als er die­ses monu­men­ta­le Werk mit über 300 bibli­schen Sze­nen schuf. Die Details neh­me ich erst wahr, als ich auf einer stei­ner­nen Bank sit­ze, neben auf­ge­pin­sel­ten Vor­hän­gen, die ich gern berüh­ren wür­de, weil sie so täu­schend echt aus­se­hen. Wäh­rend ein Wach­mann einen Ame­ri­ka­ner dar­auf hin­weist, dass er in die­sem hei­li­gen Raum kei­ne Fotos machen darf, hebe ich den Kopf im Drei­ßig-Grad-Win­kel und bli­cke nach vor­ne. Auf „Das Jüngs­te Gericht“, so heißt das schöns­te Fres­ko, das ich je gese­hen habe.

Am unte­ren Rand stei­gen Tote aus ihren Grä­bern. In der Vor­höl­le schmo­ren die Ver­damm­ten. Die Seli­gen schwe­ben hin­auf zu den sie­ben Posau­nen­en­geln in der Mit­te. Schon beim Rund­gang durch den Apos­to­li­schen Palast, vor­bei an den Stan­zen von Raf­fa­el mit ihren mat­ten, war­men Farb­tö­nen, jubi­lier­te ich stumm vor mich hin im ange­sichts die­ser gött­li­chen Kunst. Am Ende mei­nes Weges durch die Vati­ka­ni­schen Muse­en ruhen mei­ne Augen auf jener so oft kopier­ten Sze­ne mit Adam, den Got­tes Fin­ger berührt. Der Anblick macht mich so eupho­risch als hät­te mir der römi­sche Gott Bac­chus am Vor­abend heim­lich ero­ti­sie­ren­de Sub­stan­zen in mei­nen Weiß­wein gekippt.

Der Name der Six­ti­ni­schen Kapel­le erin­nert an Papst Six­tus IV., Fran­ces­co del­la Rove­re, der die Kapel­le in der Zeit von 1477 bis 1480 umbau­en ließ. Erst vor weni­gen Tagen wähl­ten Kar­di­nä­le hier den neu­en Papst. Nun dis­ku­tiert die gan­ze Welt dar­über, ob Robert Fran­cis Pre­vost der Ukrai­ne Frie­den brin­gen kann. Im Vati­kan sagt man, der Hei­li­ge Geist habe sich beim Kon­kla­ve in der Sis­ti­na offen­bart – und obwohl ich nicht an sol­che Kräf­te glau­be, gefällt mir die­ser Gedan­ke.

Mit leich­tem Her­zen ver­ab­schie­de ich mich von den Sybil­len und bit­te die­se weis­sa­gen­den Frau­en­fi­gu­ren, die mir in den kom­men­den Tagen noch häu­fi­ger in Kir­chen begeg­nen wer­den, um eine Pro­phe­zei­ung. „Du wirst dich ver­lie­ben“ flüs­tern sie mir zu, bevor ich wie­der ins Freie tre­te und die wär­men­den Strah­len der Mai­son­ne mein Gesicht strei­cheln.

Die Six­ti­ni­sche Kapel­le ist mein per­sön­li­ches High­light. Wäre ich nur eine Stun­de in Rom, wür­de ich sie besich­ti­gen und könn­te danach zufrie­den nach Hau­se flie­gen. Dabei hät­te ich mei­nen ers­ten Besuch dort fast ver­passt. „Kauf dir eine Ein­tritts­kar­te für acht Uhr mor­gens, um die­se Zeit ist es noch nicht so voll“ hat­te mir eine Freun­din gera­ten, die Rom gut kennt. Im Inter­net bezahl­te ich das Ticket eines Ver­an­stal­ters namens „Ita­ly with Fami­ly“ mit mei­ner Kre­dit­kar­te. Um punkt Acht stand ich dann auch vor dem Haupt­ein­gang der Vati­ka­ni­schen Muse­en – und hör­te zu mei­nem Ent­set­zen von einem Mann mit Schnau­zer und einer gel­ben Wes­te, dass ich gar kei­ne Ein­tritts­kar­te per Email bekom­men hat­te, son­dern nur einen Gut­schein mit einem QR-Code, den ich gegen das ech­te Ticket ein­lö­sen soll­te, das wohl mein Gui­de noch bei sich hat­te. In mei­ner Buchungs­be­stä­ti­gung las ich, dass der Treff­punkt mit ihm offen­bar zwan­zig Minu­ten zu Fuß von den Vati­ka­ni­schen Muse­en ent­fernt war – und dass sich mei­ne Grup­pe dort bereits um halb acht getrof­fen hat­te. Mein Glück kann ich bis jetzt nicht glau­ben: Ein Mit­ar­bei­ter des Ver­an­stal­ters las mei­ne ver­zwei­fel­te Email, frag­te nach mei­ner Tele­fon­num­mer und der Gui­de schick­te mir ein Foto mei­nes Tickets über Whats­App.

Aus vie­len Ver­an­stal­tern den bes­ten her­aus­zu­su­chen und auch das Klein­ge­druck­te bei Reser­vie­run­gen zu lesen, gehört zur jeder guten Vor­be­rei­tung auf eine Rei­se, ganz beson­ders gilt das in Rom. Die Vil­la Borg­he­se bei­spiels­wei­se hat mon­tags geschlos­sen. Im Forum Roma­n­um mit sei­nem weit­läu­fi­gen Park ist der letz­te Ein­lass um 18:15 Uhr. Plei­te soll­te man auch nicht sein, wenn man Spaß haben möch­te: Rom ist teu­er. Über­nach­tun­gen sind – auch in Pen­sio­nen – sel­ten unter 200 Euro bezie­hungs­wei­se unter 60 Euro für ein Bett im Hos­tel zu haben. Zwi­schen 20 und 120 Euro kann der Ein­tritt in Muse­en kos­ten, je nach Ort, Tages­zeit und Orga­ni­sa­tor. Schlan­ge zu ste­hen vor den Sehens­wür­dig­kei­ten gehört genau­so untrenn­bar zu Rom wie die Trip­pa alla Roma­na, ein Gericht aus Kut­teln oder die Sup­pli, das sind frit­tier­te Bäll­chen mit einer Toma­ten-Reis-Fül­lung und Moz­za­rel­la.

Die Göt­tin For­tu­na bleibt auf die­sem Trip mei­ne Beglei­te­rin. Im Peters­dom fin­det eine Mes­se statt, als ich ankom­me. Gläu­bi­ge sin­gen. Gui­des schwen­ken unbe­ein­druckt von den Orgel­klän­gen ihre Fähn­chen und zie­hen Tros­se hin­ter sich her wie die Himm­li­schen Heer­scha­ren. Ein paar spa­ni­sche Kin­der spie­len Fan­gen. Den Pries­ter, der in einer Ent­fer­nung von 20 Metern hin­ter einer Absper­rung in ita­lie­ni­scher Spra­che pre­digt, scheint der Tru­bel nicht zu stö­ren.

Auf dem Weg vom Vati­kan zur Spa­ni­schen Trep­pe kom­men mir Pil­ger ent­ge­gen, sie stim­men ein Kir­chen­lied an, in deut­scher Spra­che. 2025 ist ein ordent­li­ches Hei­li­ges Jahr, das alle 25 Jah­re statt­fin­det. Die Stadt Rom rech­net mit rund 45 Mil­lio­nen Pil­gern und Besu­chern aus aller Welt. Mir war das nicht bewusst, als ich einen güns­ti­gen Flug fand  – ich woll­te nur die Ewi­ge Stadt wie­der­ent­de­cken.

Vor 27 Jah­ren war ich zuletzt hier, damals war ich nur auf der Durch­rei­se an die tos­ka­ni­sche Küs­te. An viel kann ich mich nicht mehr erin­nern. Ich weiß noch, dass das Was­ser im Tre­vi-Brun­nen mil­chig war und dass ich einen Pfen­nig hin­ein­warf, in der Hoff­nung, die­se tou­ris­ti­sche Tor­heit wür­de dafür sor­gen, dass ich eines Tages zurück­kehr­te.

„Ich habe auch eine Mün­ze gespen­det, bin wie­der­ge­kom­men und geblie­ben“, ver­rät mir Erco­le Di Baia, der aus Peru­gia stammt und ein ehe­ma­li­ges Klos­ter in der Via Car­lo Alber­to zur Pen­si­on umbau­te. „The Blue Hos­tel“ liegt weni­ge Meter von der Kir­che San­ta Maria Mag­gio­re ent­fernt. Der Bahn­hof Roma Ter­mi­ni ist in acht Minu­ten zu Fuß erreich­bar. Von hier aus star­ten Züge und Bus­se zum Flug­ha­fen Fiumici­no. Erco­le ist ein lus­ti­ger, lie­bens­wer­ter Gast­ge­ber. Sein Som­mer­an­zug hat die glei­che Far­be wie sei­ne blau­en Augen, er macht dar­in „bel­la figu­ra“. In den geräu­mi­gen Zim­mern des Hos­tels lie­gen Stadt­plä­ne mit Tipps für die bes­ten Restau­rants in der Nähe, unter ande­rem emp­fiehlt Erco­le die popu­lä­re Trat­to­ria Mon­ti im gleich­na­mi­gen Vier­tel. Ich wäh­le, nach der Besich­ti­gung des Kolos­se­ums, das auch in der Nähe ist, die klei­ne Oste­ria Al Vico­lo 9, sie liegt in einer ruhi­gen Sei­ten­stra­ße. Die frit­tier­te Zuc­chi­ni­blü­te mit Ancho­vies ist köst­lich, die Ton­n­a­rel­li Cacio e Pepe mit Peco­ri­no und schwar­zem Pfef­fer fin­de ich zu sal­zig, aber der Pinot Gri­gio ist kalt, tro­cken und güns­tig.

Eine Mög­lich­keit, der Hit­ze zu ent­flie­hen, ist ein Tag am Strand. Ich ent­schei­de mich gegen Ostia und für San­ta Mari­nella. Zur Blau­en Stun­de errei­che ich die­ses einst so mon­dä­ne Städt­chen mit dem Zug. Die unter­ge­hen­de Son­ne taucht das Thyr­rhe­ni­sche Meer spä­ter in ein rot­gol­de­nes Licht. An der Via Aure­lia, der Haupt­stra­ße, die an der Ufer­pro­me­na­de ent­lang­führt, steht der Palaz­zo Mores­co. Andrea begrüßt mich. Als er mir ein wenig ner­vös einen Pro­sec­co zur Begrü­ßung ein­schenkt, erin­nert er mich an Hank Aza­ria, der in der Komö­die „The Bird­ca­ge“ mit Robin Wil­liams den schwu­len Die­ner Agador ver­kör­pert, der stän­dig stol­pert, als er das Abend­essen für eine kon­ser­va­ti­ve Poli­tik­er­fa­mi­lie ser­vie­ren soll, die den Nacht­club­be­sit­zer Armand und sei­nen Mann besucht, weil das homo­se­xu­el­le Paar die Eltern ihres zukünf­ti­gen Schwie­ger­sohns sind. Der ter­ra­cot­ta­far­be­ne Palaz­zo Mores­co ist ein nobler Nar­ren­kä­fig – und zwar im posi­ti­ven Sin­ne. Der Mana­ger Ales­sio ist char­mant. Hin­ter dem Haus, im Gar­ten, trin­ken Gäs­te Cap­puc­ci­no und ent­span­nen.

In San­ta Mari­nella hat­ten Ingrid Berg­mann und ihr Mann Rober­to Ros­se­li­ni eine Vil­la. „Mei­ne Mut­ter sah Ingrid Berg­mann manch­mal, wenn sie mit ihrem Cabrio durch den Ort fuhr“, erzählt Andrea. Wir dis­ku­tie­ren über die kor­rek­te ita­lie­ni­sche Über­set­zung für „Kopf­tuch“, das trug die Berg­mann gern beim Auto­fah­ren, bevor ich zum Abend­essen in das Molo 21 gehe, wo ich selbst­ge­mach­te Tor­tel­li­ni mit Bacalao bekom­me, eine Mini­por­ti­on mit vier Stück für 22 Euro. Dafür sit­ze ich direkt am Was­ser und genie­ße die sal­zi­ge Luft.

Zurück in Rom che­cke ich im Bio­ho­tel Rapha­el ein, das zu Relais & Châ­teaux gehört, einer Ver­ei­ni­gung von Luxus­ho­tels. Die glä­ser­ne Ein­gangs­tür ver­steckt sich unter wil­dem Wein und Rosa­re­gen. Ich ver­lie­be mich in den Küchen­chef des vege­ta­ri­schen Restau­rants „Mater Ter­rae“. Etto­re Moli­teo bekam 2025 einen Grü­nen Stern des Gui­de Miche­lin. Er lern­te sei­ne Kunst beim Tes­si­ner Pie­tro Lee­mann, der in Mai­land wie ein Hei­li­ger ange­be­tet wur­de, bevor er in die Schweiz zurück­kehr­te. Auf der Dach­ter­ras­se des Bio­ho­tels habe ich einen wun­der­schö­nen Blick auf die beleuch­te­ten Kup­peln der Stadt. Über mir hängt ein blei­cher Voll­mond so reg­los im Nacht­schwarz wie ein Spie­gel an einer Wand. Drum her­um fun­keln Ster­ne.

Bei „Anti­co For­no Roscio­li“ kau­fe ich am nächs­ten Tag ein knusp­ri­ges Stück Piz­za. Die Gela­te­ria del­la Pal­ma in der Via del­la Mad­da­le­na, nur weni­ge Schrit­te vom Pan­the­on ent­fernt, ist mir lie­ber als die Kul­teis­die­le Gio­lit­ti, weil es im 150 Jah­re alten Del­la Pal­ma auch tol­les Mousse gibt und vie­le Milch­eis­sor­ten mit Alko­hol. Zum Ape­ri­tivo nach 16 Uhr lau­fe ich über den Tiber nach Tras­te­ve­re, unter­wegs zwin­kert mit For­tu­na erneut zu: Ich fin­de einen Stroh­hut, der genau­so aus­sieht wie der, den ich im letz­ten Som­mer ver­lo­ren habe und genie­ße zwei Live-Kon­zer­te auf den Stra­ßen.

In Tras­te­ve­re gibt es Fas­sa­den mit Pati­na und Bars wie das „Mimi e Coco Trast“, in denen der Ape­rol Spritz beson­ders gut schmeckt. Auch die ältes­te Kir­che der Stadt, San­ta Maria, befin­det sich in die­sem hip­pen Aus­geh­vier­tel. Nach Über­lie­fe­run­gen ent­sprang dort, wo heu­te der Altar steht, im Jahr 38 vor Chris­tus eine ölhal­ti­ge Quel­le. Was durch eine vul­ka­ni­sche Akti­vi­tät zu erklä­ren wäre, betrach­te­ten jüdi­sche Ein­woh­ner als Zei­chen der Ankunft des Mes­si­as. 

San­ta Maria ist seit dem Jahr 1120 eine römi­sche Titel­kir­che. Ihr Bau begann bereits unter Papst Calix­tus I., der 222 starb. Hand­wer­ker been­de­ten die Arbeit im Jahr 340, danach muss­ten ver­schie­de­ne Päps­te das Got­tes­haus mehr­mals erneu­ern las­sen: Die heu­ti­ge Kir­che stammt aus dem 12. Jahr­hun­dert. Die hüb­schen Mosai­ken neh­me ich nur kurz wahr, hin­ter dem zar­ten Schlei­er einer Sopran­stim­me. Auch in der San­ta Maria zele­brie­ren Gläu­bi­ge eine Mes­se, Frau­en sin­gen. Ich ver­lie­be mich wie­der – in ihre Hin­ga­be.  

Mehr als ein­mal hat sich die Weis­sa­gung der Sybil­len aus der Sis­ti­na erfüllt. Es gibt zwar im Moment kein Was­ser in der Fon­ta­na di Tre­vi, in das Tou­ris­ten Mün­zen wer­fen könn­ten, aber ich weiß auch so, dass ich wie­der­kom­men wer­de, ganz bald sogar. Bel­la Roma, Michel­an­ge­los Muse, hat mich ver­zau­bert – und weil sich Glück nie erzwin­gen lässt, wer­de ich mich auch beim nächs­ten Mal auf For­tu­na und ihre Geset­ze der Seren­di­pi­tät ver­las­sen. Dar­auf, zu fin­den, was ich gar nicht gesucht hat­te.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert