Im Leichtsinn des Taifuns

Kurz vor Mit­ter­nacht. Seit zwei Stun­den war es dun­kel. Nur die schwan­ken­de Later­ne am Fuße des Stran­des spen­de­te uns Licht. Es war genau so viel Licht, dass wir unse­re Gesich­ter sehen und die Rich­tung zum Meer erah­nen konn­ten. Wir saßen im Halb­kreis, unter uns der feuch­te Sand. Seit zwei Tagen reg­ne­te es in Ken­ting und gera­de eben ließ der Regen erst­mals nach.

»No swim­ming, no beach!«

Als wir heu­te Vor­mit­tag ver­such­ten das Meer zu errei­chen, wur­den wir vom lang­haa­ri­gen Ret­tungs­schwim­mer, der in dicker Win­ter­ja­cke und Flips Flops aus sei­ner Hüt­te gestürzt kam, ver­trie­ben.

»No swim­ming, no beach!« hat­te er aus­nahms­los gefor­dert. Denn ein Tai­fun näher­te sich der Insel. Aller Vor­aus­sicht nach soll­te er noch am glei­chen Tag ein­tref­fen.

Erst einen Tag spä­ter wer­den wir erfah­ren, dass er vom Kurs abkam und Tai­wan in 200 Kilo­me­ter Ent­fer­nung streif­te.

Wenn aus Rei­sen­den Freun­de wer­den.

Jetzt, wo kein Ret­tungs­schwim­mer mehr in der Nähe war oder er uns schlicht­weg nicht sehen konn­te, hat­ten wir einen neu­en Ver­such gewagt. Mutig zog einer mei­ner Beglei­ter das Absperr­band zu Boden. Ver­ängs­tigt schau­ten wir uns um: kein Bade­meis­ter in Sicht. Also husch­ten wir einer nach dem ande­ren über die weit­läu­fi­ge und so stür­mi­sche Strand­flä­che bis wir uns an einer nicht son­der­lich abge­schirm­ten Flä­che nie­der­lie­ßen. Es gab kei­nen spe­zi­el­len Grund für die­sen Platz. Wir folg­ten seit Tagen unse­ren spon­ta­nen Gedan­ken. Wir leb­ten im hier und jetzt und genos­sen das Leben.

Ein Mal mehr zog der ältes­te aus der Run­de sei­ne Gitar­re her­vor und klim­per­te zum Rau­schen der Nacht. Ein ande­rer zün­de­te ein Wind­licht an, wo auch immer er die Ker­ze her hat­te, aber ein Wind­schutz war mit Taschen­mes­ser und Bier­do­se schnell gebaut. Ich hat­te Bier gekauft und ver­tei­le es unter allen Anwe­sen­den. Schon Tage zuvor muss­te ich fest­stel­len, dass mei­ne asia­ti­schen Beglei­ter viel weni­ger trin­ken, als ich jemals ver­mu­tet hät­te.

Unbenannt

Minu­te um Minu­te, Stun­de um Stun­de ver­ging in die­ser berau­schen­den Atmo­sphä­re. Erst Tage zuvor hat­ten wir uns ken­nen­ge­lernt, doch wir ver­stan­den uns präch­tig. Wir mach­ten Scher­ze über die Gewür­ze Indi­ens, den Daten­sam­mel­wahn der USA und schweb­ten in unse­rer klei­nen, ganz eige­nen Vor­stel­lung der Welt. An einem der öst­lichs­ten Fleck­chen der Erde waren wir aus allen Ecken und Enden der Welt zusam­men­ge­kom­men.

Über­mut tut nie­mals gut.

Doch jene Nacht soll­te nicht so idyl­lisch enden, wie sie begon­nen hat­te. Wir spra­chen über unse­re Träu­me und Wün­sche fürs Leben und über Din­ge, die wir unbe­dingt mal erle­ben woll­ten. Im Rau­sche des Über­muts plat­ze es aus einem ganz plötz­lich her­aus: Er woll­te mal wäh­rend eines Tai­funs im Meer schwim­men. Wir hiel­ten ihn für ver­rückt, doch noch wäh­rend er die Wor­te aus­sprach, sprang er auf, mach­te blitz­schnell sei­nen Ober­kör­per frei und zog sei­ne Schu­he aus. Noch wäh­rend er zum Was­ser lief, hat­te er sei­ne Hose abge­legt und rann­te ins Was­ser.

»Are you fuck­ing asho­le total­ly cra­zy?«, brüll­te einer.

Da mitt­ler­wei­le das Mond­licht die Nacht noch mys­ti­scher mach­te, als sie ohne­hin schon war, konn­ten sei­ne ers­ten Schrit­te ins Mee­res­was­ser vom Strand noch gese­hen wer­den. Doch mit dem zwei­ten oder drit­ten Schritt schnapp­te ihn eine Wel­le und er ver­schwand. Die fol­gen­den Minu­ten kamen den neu gewon­nen Freun­den wie Stun­den vor. Sie hör­ten ihn lachen. Oder schrei­te er? Alle paar Sekun­den, immer in glei­chen Abstän­den wie­der das glei­che Gebrüll. Zwei der Freun­de stan­den mitt­ler­wei­le Knie­tief im Was­ser und hiel­ten Aus­schau. Immer bereit ins Was­ser zu sprin­gen und ihn zu ret­ten – wenn sie ihn doch nur sehen könn­ten!

Wäh­rend alle beängs­tigt auf das Was­ser schau­ten, mein­te einer, dass hier vor zwei Tagen vier Tou­ris­ten nachts schwim­men gin­gen. Nur einer von ihnen kam jemals wie­der aus dem Was­ser. Stil­le. Kei­ner sag­te mehr etwas.

„Dort hin­ten!“, brüll­te einer der Typen, die bereits im Was­ser stan­den. Etwa zehn Meter ent­fernt sahen sie ihn in Rich­tung Strand krau­len. Nur müh­sam kam er vor­an, da ihn jede neue Wel­le wie­der ein Stück ins offe­ne Meer zog. Doch irgend­wann schaff­te er es auf einer Wel­le mit­zu­g­lei­ten und war recht schnell in Reich­wei­te. Sie pack­ten sei­ne Arme und zogen ihn in den sal­zi­gen Sand. Er lach­te und war vol­ler Eksta­se.

Das Leben ist zu wert­voll für sol­che Kurz­schlüsse.

Doch kurz danach bemerk­te er den Schock, der in den Gesich­tern sei­ner Rei­se­be­glei­ter stand. Sie hat­ten sich um ihn gesorgt. Sie kann­ten die Bedroh­lich­keit der Situa­ti­on, wel­cher er sich kei­nes Falls bewusst war. Leicht­sin­nig, wie er nie gewe­sen war, stürz­te er sich in die Flu­ten. Kei­ne Angst, kei­ne Beden­ken hat­te er gehabt. Erst jetzt, hier am siche­ren Strand bemerk­te er die Gefahr, die von sei­nem Leicht­sinn aus­ging.

Es tat ihm leid. Er nahm den Indern, der einer von denen gewe­sen war, die im Was­ser stan­den und bereit waren ihn zu ret­ten, in den Arm und ent­schul­dig­te sich.

Wäh­rend die Grup­pe die Situa­ti­on aus­wer­te, dis­ku­tier­te und in min­des­tens drei Spra­chen zusam­men­fass­te, zog er sei­ne Sachen wie­der an. Sie gin­gen zurück an ihren alten Platz.

Es begann zu nie­seln. Also zog er neben sei­ner übli­chen Klei­dung auch sei­ne Regen­ja­cke her­vor und stülp­te sie rasch über sei­nen klitsch­nas­sen Kopf. Als ihn einer der Beglei­ter dar­auf ansprach mein­te er, dass er nicht krank wer­den möch­te.

Sie lach­ten und mach­ten sich über ihn lus­tig. Der Typ, der eben noch wäh­rend des Tai­funs im Meer schwim­men war, woll­te jetzt tro­cken blei­ben und fürch­te­te sich vor Nie­sel­re­gen.

Mit zuneh­men­der Zeit erkann­te er aber­mals den Leicht­sinn die­ser Tat. Er wür­de so etwas nie wie­der tun, bemerk­te er und bereu­te es zutiefst. Das Leben ist zu wert­voll für sol­che Kurz­schlüs­se. Er hat­te sich geschwo­ren nun mehr auf sich, sein Leben, sei­ne Umwelt und die Natur zu ach­ten. War­um ich das weiß?

Ja, die­ser jemand, der war lei­der ich.

Erschienen am



Antworten

  1. Avatar von Kersti

    uiuiui…

    Zuerst waren auch bei mir die »Mama-Gedan­ken« da: Mensch, Jun­ge. War­um? War­um nicht nach­ge­dacht? War­um ein­fach gehan­delt?

    Und dann das Ver­ste­hen: die­se Situa­ti­on damals vor Augen, Dei­ne Gedan­ken, Dei­ne Gefüh­le, Dein Zun – Dein Erken­nen

    Ja – manch­mal brau­chen wir Ereig­nis­se, die uns wach rüt­teln, uns an den Sinn des Leben, an das Leben selbst erin­nern.

    Dar­über schrei­ben? Kann ich mehr als ver­ste­hen. Es gibt Vie­les, über das ich erst nach Jah­ren geschrie­ben habe. Und mir immer wie­der ins Gedächt­nis rufe – mit neu­en Emp­fin­dun­gen.

    Immer dar­an den­ken: ohne die­se Erleb­nis­se wären wir nicht wir und wür­den das Leben nicht so betrach­ten, wie wir es tun. Und dar­über berich­ten hilft viel­leicht Ande­ren dar­über nach­zu­den­ken, bevor sie bei einem Tai­fun im Meer baden gehn…

  2. Avatar von Luisa

    Man Ste­ven, du machst Sachen. Ich hab noch nicht­mal ver­stan­den, war­um ihr trotz Tai­fun­war­nung an den Strand geht. Ich ver­bu­che das mal unter jung und leicht­sin­nig und bin erleich­tert, dass du noch da bist.
    Im übri­gen fin­de ich es gut, dass du doch noch dar­über sprichst. Is gut fürs kar­ma 😉

    LG von der mut­ti­front 😀

  3. Avatar von Steven

    Da hast du abso­lut Recht, lie­be Mel. :/​

  4. Avatar von Mel (worldwhisperer)

    Bes­ser eine spä­te Erkennt­niss als gar kei­ne. Aber das war wirk­lich leicht­sin­nig … aber das weißt du ja inzwi­schen. Es gibt so vie­le tol­le Fle­cken auf der Erde – da soll­te man sen Leben nicht ris­kie­ren und damit ris­kie­ren die­se ande­ren Orte nicht mehr zu Gesicht zu bekom­men.

    LG
    Mel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert