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Es gibt viele Momente im Leben, die einen prägen. Doch es gibt nur wenige, die einem gleichzeitig Gänsehaut bereiten und Tränen in die Augen treiben. Einer dieser Momente war der Augenblick, in dem unsere Kinder zum ersten Mal auf einen Teil unserer Familie trafen, den sie noch nie zuvor gesehen hatten – und trotzdem war da sofort Liebe. Diese Umarmungen, so innig, so intensiv, lassen einen für einen Moment vergessen, dass hier einst Fremde aufeinandertreffen.
So war es auch an unserem zweiten Tag in Islamabad, als mein Cousin Rashid, mein engster Vertrauter vor Ort, aus dem 400 Kilometer entfernten Faisalabad angereist kam, nur um die Kinder zu sehen. Rashid ist derjenige, der alles regelt – von Veranstaltungen bis zu Besorgungen. Umso erschütternder war es, als er vor einigen Jahren entführt wurde. Eine Familienfehde machte ihn zum Spielball zwischen zwei verfeindeten Parteien. Gott sei Dank kam er unversehrt frei, aber diese Zeit der Ungewissheit möchte ich nie wieder erleben.
Es ist Valentinstag. Überall sieht man Blumenverkäufer und rote Ballons. Doch für wen? In einem streng islamischen Land sind öffentliche Liebesbekundungen selten. Pärchen treffen sich heimlich, in abgelegenen Parks oder hinter verschlossenen Türen. Doch unseren Kindern fällt vor allem eines auf: die Ballons. Sie wollen einen. Als wir an einem kleinen Stand ankommen, sehen wir, wer hinter diesem Geschäft steckt: ein Vater, sein älterer Sohn, etwa 14 Jahre alt, der die Ballons mit Gas füllt, und sein kleiner Bruder, etwa sechs, der mit dem Mund die Stiele der Rosen entfernt.
Auf eine Tasse Tee
Diese Abende in Pakistan, wo einem der Rauch von frisch gegrilltem Huhn oder Hammel in die Nase steigt (schwierig für meine Frau, die sich – zumindest hier – vegetarisch ernährt) und wo man bis spät in die Nacht bei einem gemeinsamen Tee (am besten mit Wasserbüffelmilch gekocht) über Gott und die Welt sprechen kann, aber man am Ende keine Lösung findet. Toll, schon Anthony Bourdain sagte: "Pakistan is a beautiful country with some of the best food in the world—rich, complex, and always made with love." Eine dieser Diskussionen dreht sich um künstliche Intelligenz. Die Sorge ist groß in Pakistan, dass hier wirklich der Mensch ersetzt wird. Denn die Bildungslage vor Ort ist nicht so fortgeschritten wie in der westlichen Welt. Hier befürchtet man, dass die ungebildete Schicht den Anschluss an die Entwicklung verliert. Aber auch das Verständnis, was KI ist, ist eine andere. Wir verstehen KI eher als Helfer, als Entlastung. In Pakistan wird sie mehr als Bedrohung gesehen und mit Negativem verbunden als bei uns in Europa. Woran mag das liegen? Tatsächlich am Bildungsniveau oder vielleicht doch am Zugang? Ich glaube, es ist eine Mischung. Denn vieles wird durch Hörensagen weitergegeben. So werden einem auch immer noch Fragen zu Hitler gestellt, und wie die Deutschen ihn finden. Man habe ja gehört, dass… und so weiter.
Ein weiterer Punkt, der immer wieder die Emotionen hochkochen lässt, ist die überall anzutreffende Inflation. Für uns Touristen finanziell zwar günstig, so war der Umtauschkurs vor 6 Jahren noch 1 € zu 100 Rupien, so liegt er jetzt bei 1 € zu 300 Rupien. Das eröffnet uns viele Möglichkeiten, schränkt aber die Bevölkerung um so mehr ein. Ein Liter Benzin kostet jetzt mehr als 80 Cent. In einem Land, in dem man monatlich durchschnittlich 150 € verdient. Mein Cousin, Angestellter bei den Stadtwerken, konnte sein Gehalt in den letzten Jahren verdoppeln. Von 50.000 Rupien auf nunmehr 100.000 Rupien monatlich. Kaufen kann er sich davon allerdings aufgrund der Inflation nichts.
Krasse Gegensätze und Entwicklungen
Hoch oben in den Bergen von Islamabad gibt es eine Seilbahn. Wir tragen T-Shirts und Sonnenbrillen, genießen die milden 20 Grad, während die Pakistani in Pullovern und Strickmützen eingemummelt sind. Für sie fühlt es sich kalt an.
Kein Wunder, dass wir regelmäßig angesprochen werden, woher wir kommen. Und oft folgt ein begeistertes „Oh nice“. Es dauert nicht lange, bis jemand erzählt, dass ein Cousin in den 80ern nach Deutschland ausgewandert ist oder eine Verwandte gerade ihren Master dort macht. Deutschland: Ein Einwanderungsland – und in Pakistan oft ein Sehnsuchtsort.
Pakistan ist ein Land der Extreme. Auf der einen Seite scheint die Zeit stillzustehen, auf der anderen rast sie, als wäre sie in einem 100-Meter-Sprint mit Usain Bolt.
Ein Besuch in der Faisal-Moschee macht das spürbar. Die größte Moschee Pakistans, ein imposantes Wahrzeichen von Islamabad, wurde in den 1980er Jahren mit finanzieller Unterstützung Saudi-Arabiens erbaut und nach König Faisal benannt. Ihr modernes Design mit den vier markanten Minaretten hebt sich von traditionellen Moscheen ab und erinnert an ein Beduinenzelt – eine architektonische Hommage an die arabische Welt.
Mein großer Sohn und ich setzen uns auf den kühlen Marmorboden, als sich ein kleines, barfüßiges Mädchen neben uns niederlässt. In ihrer Hand eine kleine Plastiktüte mit Popcornresten, die sie vorsichtig ausleckt. Als die Tüte umkippt, beginnt sie, akribisch jedes einzelne Korn aufzusammeln – nichts darf verschwendet werden. Ich beobachte sie und versuche, meinem Vierjährigen diesen Moment zu erklären: Dankbarkeit. Wertschätzung für das, was wir haben. Und die Erkenntnis, dass das, was für uns selbstverständlich ist, für andere purer Luxus sein kann.
Während manche Kinder noch ums tägliche Essen kämpfen, boomt in Pakistan das digitale Zeitalter. Start-ups sprießen aus dem Boden, NGOs organisieren sich über Instagram, um Strände zu säubern, Hausfrauen inszenieren ihre selbstgekochten Gerichte und verkaufen sie über Social Media. Auch einer meiner Cousins ist eine kleine TikTok-Größe – das werden wir noch merken.
Pakistan ist ein Land der Widersprüche. Nach nur sieben Stunden Flug steht unsere Welt Kopf: Regeln, Hygiene, Essgewohnheiten – alles anders.
Und dann die Autobahn nach Faisalabad. Offiziell als Motorway bezeichnet, verbindet sie die wichtigsten Städte Pakistans und gilt als eines der ambitioniertesten Infrastrukturprojekte des Landes. Während große Abschnitte modernen Standards entsprechen, sind andere von improvisierten Lösungen geprägt. Geschwindigkeitsmessungen erfolgen hier nicht per hochentwickelter Radarfallen, sondern per Zeitnahme: Fahrer passieren Kontrollpunkte, an denen ihre Durchfahrtszeit manuell überprüft wird. Doch in der Praxis entscheiden nicht selten die Laune und das Ermessen des Polizisten über das Strafmaß.
Und so erwischt es uns. Die Papiere unseres Fahrers sind angeblich abgelaufen. Doch mein Cousin, Angestellter der Stadtwerke, schlägt einen Deal vor: Er kümmert sich um den Zählerstand des Polizisten. Problem gelöst. Pakistan eben.
Ankunft in Faisalabad, eine weitere neue Welt
Die Reise geht weiter. Weiter nach Faisalabad, der Stadt, die einst Lyallpur hieß und heute als industrielles Herz Pakistans gilt. Faisalabad ist die Textilhochburg des Landes – mit über 500 Fabriken, in denen Baumwollgarn, Stoffe und Kleidung produziert werden. Die Stadt versorgt nicht nur den heimischen Markt, sondern exportiert ihre Waren in die ganze Welt. Auch meine Familie ist in dieser Branche verwurzelt.
Doch bevor wir in die Stadt eintauchen, spüren wir zuerst die pure Liebe unserer Familie. Während nur mein Cousin Rashid uns in Islamabad begrüßen konnte, warten in Faisalabad fast 80 weitere Verwandte sehnsüchtig auf uns. Der Empfang ist überwältigend. Ein Meer aus Blumen, Tränen und festen Umarmungen. Nach sechs langen Jahren endlich wieder vereint.
Einer meiner kleinen Großcousins betrachtet neugierig unsere Pässe und fragt nach den Stempeln darin. Ich erkläre ihm, dass sie für jede Ein- und Ausreise stehen – ein Konzept, das für ihn fast unerreichbar erscheint. Der pakistanische Reisepass gehört zu den schwächsten weltweit. Nur wenige Länder gewähren visafreien Zugang, schlechter eingestuft sind nur die Pässe von Syrien und Afghanistan. Für viele in Pakistan ist es fast unmöglich, legal ins Ausland zu reisen.
Unser nächster Halt ist das Serena Hotel Faisalabad – eine Oase der Ruhe inmitten des urbanen Trubels. Rote Ziegelsteine, weitläufige Gärten und ein beheizter Pool machen es zu einem der besten Hotels des Landes. Doch Sicherheit steht hier an erster Stelle. Jedes Fahrzeug wird von zwei Sicherheitskräften kontrolliert, Kofferraum und Motorhaube müssen geöffnet werden, Sprengstoffspürhunde durchsuchen das Gelände. Zwei Schranken trennen uns noch vom Eingang. Der Scharfschütze auf dem Dach? Kaum noch wahrnehmbar nach dieser Prozedur. Doch einmal im Inneren spürt man die pakistanische Gastfreundschaft : Jeder begrüßt uns mit einem Lächeln, das Personal hilft aufmerksam und herzlich.
Am Abend erkunden wir die Stadt. Uns fällt erst spät ein, dass Freitag in muslimischen Ländern dem Sonntag in Europa gleicht. Viele Geschäfte haben geschlossen. Doch für uns ist das ein Glücksfall – die leeren Straßen bieten uns die Gelegenheit, Faisalabad in einem anderen Licht zu sehen. Unser Ziel ist der Clock Tower, eines der ältesten Wahrzeichen der Stadt. Er wurde 1905 während der britischen Kolonialzeit erbaut und steht heute noch in seiner ursprünglichen Form. Die acht umliegenden Märkte sind nach einem besonderen Muster angeordnet: Von oben betrachtet bilden sie die Form des Union Jack, der britischen Flagge. Jeder dieser Basare hat seinen eigenen Fokus – von Textilien über Gewürze bis hin zu Elektronik.
Obwohl viele Läden geschlossen sind, herrscht in einigen Straßen noch reges Treiben. Händler begrüßen uns freundlich, bieten uns ihre Waren an. Wir nutzen die Gelegenheit für Fotos: Ein alter Mann seziert Fische mitten auf der Straße, während ein junger Verkäufer im Dunkeln T-Shirts anpreist. Neben ihm ein Rickshaw-Fahrer, der es sich für ein kurzes Nickerchen auf seinem Gefährt gemütlich gemacht hat. Die Nacht lassen wir mit einem Bier ausklingen – einer echten Rarität in Pakistan. Alkohol ist streng reguliert, und nur nicht-muslimische Ausländer dürfen ihn kaufen. Meine Frau muss dafür drei Formulare unterschreiben, bevor sie eine Flasche erhält – ein Bier der einzigen Brauerei des Landes.
Tanzen im Regen
Es gibt nicht viele Regentage in Pakistan – und wir erleben bereits den zweiten. Während Regen in Europa oft mit grauer Tristesse verbunden ist, erleben wir hier das Gegenteil. Die Menschen rennen auf die Straße, lachen, strecken die Arme aus und genießen die kühlen Tropfen. Regenschirme? Fehlanzeige. Eine funktionierende Kanalisation? Auch nicht. Innerhalb von Minuten verwandeln sich die Straßen in kleine Seen, Rickshaws bleiben stecken, das Wasser schwappt in die offenen Fahrerkabinen. Doch Pakistani wären keine Pakistani, wenn nicht sofort fünf Leute helfen würden, das Fahrzeug aus dem Wasser zu schieben.
Es ist der erste Regen seit fünf Monaten.
Am Frühstückstisch erwartet uns ein unerwarteter Anblick: Die Frauen-Cricket-Nationalmannschaft Pakistans sitzt am Nebentisch. Sie sind zufällig im selben Hotel untergebracht, trainieren hier für ein anstehendes Turnier. Cricket ist in Pakistan nicht nur ein Sport, sondern eine Leidenschaft, eine Religion. Selbst ein ehemaliger Präsident, Imran Khan, verdankt seine Popularität dem Sport. 1992 führte er die Nationalmannschaft zum Weltmeistertitel und stieg später in die Politik ein.
Mit Cricket konnte ich mich jedoch nie anfreunden – zu lang, zu kompliziert, zu wenig Bewegung. Mit 13 Jahren gründete ich lieber das größte Social-Media-Portal für Fußball in Pakistan. Und doch spüre ich die Faszination für diesen Sport, als einige Tage später Pakistan gegen Indien in der internationalen Champions Trophy antritt. Ein besonderes Turnier, denn es ist das erste Mal seit 27 Jahren, dass es wieder in Pakistan stattfindet. Doch die Feindschaft zwischen beiden Ländern überschattet den sportlichen Wettbewerb. Indien verweigert die Reise und das Spiel wird nach Dubai verlegt.
Mitten am Tag steht in Pakistan für Stunden alles still. Männer versammeln sich vor Straßencafés, Bildschirme flackern, Spannung liegt in der Luft. Doch dann die Enttäuschung: Pakistan verliert und scheidet im eigenen Land aus. Eine Geschichte, die wir als deutsche Fußballfans nur zu gut kennen.
Im Hotel begegnen uns einige Ausländer. Was machen sie hier? Einer sitzt im Garten, vertieft in ein Buch von Heinrich Böll. Ein anderer diskutiert mit Pakistanern in gebrochenem Urdu. Ich frage mich immer wieder, was Menschen nach Faisalabad zieht – keine klassische Touristenstadt, keine Sehenswürdigkeiten, die im Reiseführer stehen.
Dann spricht mich ein Mann auf Deutsch an. Er hat uns gehört, stellt sich als in Deutschland lebender Pakistani vor, der geschäftlich in Faisalabad unterwegs ist. Da haben wir also eine der gesuchten Antworten.
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Erneut ein starker Reisebericht, wo man immer was dabei lernt🙏
Zugabe 😊
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