Im Wilden Westen

Mexiko, September 2011.

Eine dämmrige Passage in der Nähe der Touristenmeile einer nordmexikanischen Stadt. Die meisten der kleinen Läden sind versperrt und liegen verlassen da. Keiner geht mehr hier einkaufen. Nur vereinzelt tönt Musik aus einem Winkel der heruntergekommenen Hallen, dort haben sich junge Künstler ihre Ateliers eingerichtet.Vielleicht ist es diese Mischung aus Kreativität und Verlassenheit, die den Ort zu einem Ruhepol inmitten der pulsierenden Grenzstadt macht. Irgendwo mitten im Gang steht eine zerschlissene Couch, hier kann man es sich mit einem Becher Kaffee bequem machen und einfach mal das Nichts beobachten. Gegenüber ist einer der kleinen Läden geöffnet. Er ist vollgestopft mit alten Möbeln, Bildern, Kleidung. Wie ein Trödelmarkt sieht er aus. Wer aber dort einkaufen soll, bleibt ein großes Fragezeichen. Im Eck ein Bett. Vor dem Laden dösen zwei kleingewachsene Mexikaner vor sich hin. Nur manchmal öffnen sie die Augen, richten ihren Blick Richtung Eingang, den man gar nicht sieht, weil dort die grelle Sonne versucht, sich einen Weg ins Innere der Passage zu bahnen. Ein verschlafener Nachmittag. Stellt man sich statt der Betonmauern eine Wüste vor, dann könnte man meinen, wir befänden uns in einem Wild-West-Film aus Hollywood und warteten auf die Bösewichte, die uns jeden Moment angreifen könnten.

Plötzlich wird es hektisch um mich herum. Verwundert blicke ich von meinem Kaffee auf. Kommen die Angreifer schon? Muss ich mich zur Verteidigung bereit halten? Ich blicke zum Eingang der Passage. Aus dem gleißenden Licht erhebt sich eine mächtige Figur. Ein riesiger Sombrero schmückt den Kopf, im Mund eine Zigarre. Langsam, wie ein Roboter, nähert sich der Bösewicht. In der Hand eine Gitarre, setzt er langsam Fuß vor Fuß. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich den dichten weißblonden Bart im roten Gesicht des alten Mannes erkenne. Lustig sieht er aus, mit dem großen Hut. Als wäre er gerne ein echter Mexikaner aus der Zeit der Revolution. Doch er ist kein Mexikaner. Vor dem kleinen Trödelladen mit den vielen Möbeln und Fotos bleibt er stehen. Ruckartig dreht er sich Richtung Eingang und verschwindet im hinteren Eck beim Bett. Die zwei kleingewachsenen Mexikaner, die zuvor noch unter der Hitze der Wüste ihr Nickerchen gehalten hatten, waren plötzlich eifrig an der Arbeit. Sie schieben die zwei Stühle ins Innere des Ladens, auch den Schreibtisch, der davor gestanden war. Dann ziehen sie die grünen Rollos herunter. Es ist drei Uhr nachmittags. Der alte Mann ginge schlafen, flüstern sie in andächtigem Ton. Dann ist es wieder ruhig in der Passage. Wir warten auf die nächsten Angreifer.

Ein paar Tage später sollte ich mit dem kuriosen Mann mit Gitarre sprechen. Ich sollte erfahren, dass er kein verwirrter Möchtegern-Mexikaner ist, sondern vor langer Zeit ein wichtiger Musiker in Hollywood gewesen war. Dass er ein mexikanisches Volkslied so adaptiert hatte, dass es jetzt in aller Welt bekannt ist. Und dass er sich im Alter in die mexikanische Grenzstadt zurückgezogen hat, weil er hier seine Ruhe findet. Ein Mensch von Welt. Der erste Eindruck kann täuschen. Oder die Sonne hat mich in meinem Wild-West-Film an diesem Nachmittag einfach zu sehr geblendet.

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