Es wird lang­sam dun­kel, als wir in Erzurum den Ort errei­chen, den uns unser neuer Gast­ge­ber Fesih als Treff­punkt beschrie­ben hat. Wir schauen uns um. Große Wohn­blocks gren­zen an eine freie Flä­che vol­ler Schot­ter und Erde, auf der graue Schnee­reste und auch etwas Müll ver­streut lie­gen. Der Boden ist mit gro­ßen Pfüt­zen über­sät, auch jetzt reg­net es. Zum drit­ten Mal rufen wir Fesih an, aber wie­der nimmt er nicht ab. Wir schauen uns an. Wie lange wol­len wir noch war­ten und wann machen wir uns auf die Suche nach einer ande­ren Unter­kunft? Lang­sam beschla­gen die Schei­ben des Autos, als Fesih schließ­lich zurück­ruft. End­lich! Die Kom­mu­ni­ka­tion ist schwie­rig, er scheint uns nicht wirk­lich zu ver­ste­hen. Auf ein­mal beginnt er, Fran­zö­sisch mit uns zu spre­chen. Wir kra­men alles, was wir von unse­rem Schul-Fran­zö­sisch noch irgendwo im Kopf haben, zusam­men und schaf­fen es, dass Fesih aus einem der gro­ßen Häu­ser­blocks her­aus­tritt. „Bien­ve­nue en Erzurum!“, strahlt er uns an.

Mit unse­ren gro­ßen Ruck­sä­cken quet­schen wir uns zu dritt in einen win­zi­gen Auf­zug. Er stoppt im vier­ten Stock und zu Fuß geht es wei­tere vier Stock­werke hin­auf. Wir kom­men ordent­lich ins Schnau­fen, denn Erzurum liegt auf 1950 Meter Höhe. Unsere ein­set­zende Schnapp­at­mung hat bestimmt damit zu tun…😉

Direkt unter dem Dach stop­pen wir vor einer Türe und Fesih bedeu­tet uns, die Schuhe aus­zu­zie­hen und ein­zu­tre­ten. Ich erkenne einen win­zi­gen Gang, indem eine kleine Küchen­zeile gerade so Platz fin­det. Der schlauch­för­mige Raum macht hin­ten einen Knick um die Ecke, mehr kann ich nicht sehen. Ich schaue Fesih fra­gend an, hier hin­ein mit dem gan­zen Gepäck? Er nickt und ich laufe zwei Meter nach vorne. Mein Ruck­sack bleibt an der nied­ri­gen Decke hän­gen und es wird immer enger. Hilfe, ich ste­cke fest! Schnell nehme ich den Ruck­sack ab und linse um die Ecke. Geht es dort wei­ter? Ende. Sack­gasse. „Hä, was ist das denn?“, frage ich mich. Es ist gemüt­lich hin­ter der Ecke, ein klei­nes Fens­ter lässt uns in den Regen und die Dun­kel­heit bli­cken, der Boden ist mit Tep­pich gepols­tert und viele Kis­sen ver­klei­den die Wand. Wäre da nicht die Raum­höhe von knapp 1,50 Metern, die uns nur gebückt lau­fen lässt. Zudem hat das Mini­räum­chen eine Flä­che von etwa 2m². Auch Sebas­tian hat sei­nen Ruck­sack mehr schlecht als recht irgendwo in dem klei­nen Gang depo­niert und lässt sich neben mir auf die Kis­sen sin­ken. Kurz stei­gen klaus­tro­pho­bi­sche Gefühle in mir hoch, in die­ser klei­nen Höhle. Zum Glück bie­tet uns Fesih einen Tee an, den wir gerne anneh­men und der mich erst­mal ablenkt von der Enge.

Do you live here? Will we sleep here?“, fra­gen wir unse­ren Gast­ge­ber. Er schaut uns nur rat­los an und scheint unsere Fra­gen nicht ver­stan­den zu haben. Plötz­lich zückt er sein Handy, öff­net Google Trans­la­tor und tippt eif­rig drauf los. Strah­lend hält er uns kurz dar­auf sein Handy vor’s Gesicht. „Don’t look at vagi­nas at late night“, lesen wir dar­auf. Wie bitte? Mir schießt die Röte ins Gesicht. Wer ist der Typ und was will er von uns? Fesih merkt sofort, dass irgend­was nicht stimmt und zieht sein Handy wie­der zurück. „No sense?“ fragt er uns vor­sich­tig. „No, no sense“, ant­wor­ten wir. Was dort stand, wol­len wir ihm nicht ins Fran­zö­si­sche über­set­zen. Er wagt einen zwei­ten Ver­such, der wie­der kei­nen Sinn ergibt. So greift Fesih ein drit­tes Mal zu sei­nem Handy und tele­fo­niert ein Weil­chen. Bald dar­auf klopft es an der Türe und eine junge Frau tritt her­ein, die hier an der Uni stu­diert und nun zu unse­rer Über­set­ze­rin wird.

Bienvenue en Erzurum! Unser Abendessen mit (v.r.) Fesih, Refik und der namenlosen Studentin.

Nach die­sem etwas holp­ri­gen Start ver­brin­gen wir zu fünft einen schö­nen Abend. Neben der Stu­den­tin stößt noch Refik zu unse­rer klei­nen Runde, Stu­dent der Vete­ri­när­me­di­zin und auch ein Mie­ter im Haus. Lang­sam, sehr lang­sam, bekom­men wir raus, dass Refik unser eigent­li­cher Gast­ge­ber für die kom­men­den zwei Nächte sein wird. Unser Abend­essen wird beim Lie­fer­ser­vice bestellt und bald erfah­ren wir bei meh­re­ren Por­tio­nen Lah­ma­cun, Çiğ Köfte (rohe Hack­fleisch­bäll­chen) und Ayran, dass Fesih mitt­ler­weile Rent­ner ist, frü­her Häu­ser baute (unter ande­rem die­ses, in dem wir gerade sit­zen) und nun seine freie Zeit als Maler ver­bringt. Es ist spät gewor­den und Refik gähnt herz­haft. Er muss mor­gen wie­der früh in die Kli­nik. Also bre­chen wir auf, lau­fen meh­rere Stock­werke nach unten und bezie­hen in Refiks Gäs­te­zim­mer Quar­tier. Bevor wir tod­müde ins Bett fal­len, begut­ach­ten wir noch Refiks aktu­elle Mit­be­woh­ner – kleine Küken, die ihm aus Ver­se­hen nass wur­den und die er nun mit Wär­me­lampe und aller­hand ande­rer Sachen ver­sucht, tro­cken zu bekom­men, so dass sie große und starke Hüh­ner werden.

Sebastian ist begeistert von den momentanen „Mitbewohnern“ Refiks 🙂

Zum Glück scheint Refiks Methode, sie wieder zu trocknen, zu funktionieren

Der kom­mende Tag begrüßt uns ent­ge­gen der Wet­ter­vor­her­sage mit strah­len­dem Son­nen­schein und es brennt uns unter den Nägeln, Erzurum ken­nen­zu­ler­nen. Aller­dings ist Fesih, mit dem wir heute den Tag ver­brin­gen wer­den, eher auf Tee trin­ken und Reden ein­ge­stellt und es kos­tet uns viel Über­zeu­gung, ihn und sei­nen Bru­der, der spon­tan zu Besuch gekom­men ist, aus dem Haus zu locken. Haben wir anfangs Zwei­fel, wie wir uns mit ihm wer­den unter­hal­ten kön­nen, klappt es dann mit unse­rem biss­chen Fran­zö­sisch, Hän­den und Füßen über­ra­schend gut.

Wir schlen­dern gemein­sam durch die Innen­stadt und wer­den trotz Son­nen­schein von Fesih erst­mal zu einer Shop­ping Mall geschleppt. Obwohl wir uns ver­stän­di­gen kön­nen, rei­chen bei­der­seits die Sprach­kennt­nisse nicht aus, um von Fesih zu erfah­ren, was in die­ser Mall sehens­wert sein soll und um ihm zu erklä­ren, dass wir nur in die Mall gehen möch­ten, wenn es dort mehr als nur Geschäfte gibt. Schließ­lich geben wir auf und fol­gen ihm durch die Ein­gangs­türe. End­lich ver­ste­hen wir, dass er uns mit einem befreun­de­ten Maler bekannt machen will, der dort seine Bil­der aus­ge­stellt hat. Dum­mer­weise ist Herr Özy­urt gerade nicht da, aber bei einem Tee dür­fen wir seine Bil­der begut­ach­ten, ihm nach sei­ner Ankunft nett die Hand schüt­teln, ein gemein­sa­mes Foto machen und dann end­lich raus aus der Mall zurück in den Son­nen­schein treten!

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Erzurum begeis­tert uns mit einer ent­spann­ten Innen­stadt und tol­len, alten Gebäu­den, die wie aus einer ande­ren Zeit wir­ken. Wir besich­ti­gen die Yaku­tiye-Med­rese, eine Reli­gi­ons­schule, die 1310 gebaut wurde, lau­fen wei­ter zur Zita­delle Erzurums und genie­ßen vom Uhren­turm aus einen fan­tas­ti­schen Aus­blick auf die Stadt. Unser Sight­see­ing-Pro­gramm beschlie­ßen wir an der Çifte-Minare-Med­rese, der „Dop­pel­mi­na­rett-Reli­gi­ons­schule“, uralt und sehr hübsch anzuschauen.

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Vom vie­len durch die Stadt schlen­dern sind wir hung­rig gewor­den und fin­den ein Sup­pen­re­stau­rant, in dem wir Aus­wahl zwi­schen diver­sen lecke­ren vege­ta­ri­schen und nicht-vege­ta­ri­schen Sup­pen haben. Weil wir Aus­län­der sind, darf auch ich im „nor­ma­len“ Bereich des Restau­rants Platz neh­men, wäh­rend die ein­hei­mi­schen Frauen und Fami­lien in den ers­ten Stock gehen, um dort unge­stört von Bli­cken nicht-ver­hei­ra­te­ter Män­ner essen zu kön­nen. Ich bin über­rascht, so eine Tren­nung hat­ten wir bis­lang in der Tür­kei noch über­haupt nicht wahrgenommen.

Als Fesih einen Anruf bekommt und uns anbie­tet, uns zu Hause abzu­set­zen, bevor er zu die­sem Ter­min fährt, stim­men wir erfreut zu. Ein biss­chen Ent­span­nung nach einem Tag vol­ler Sight­see­ing kommt uns sehr ent­ge­gen. Als wir vor unse­rem Haus ste­hen, bemer­ken wir, dass es wohl mal wie­der ein Miss­ver­ständ­nis gab und Fesih doch nicht weg muss, son­dern uns auf einen Tee in sein Mini-Räum­chen ein­la­den will. Wir erbe­ten eine Stunde Zeit für uns, was er nicht ganz zu ver­ste­hen scheint, uns aber trotz­dem zugesteht.

Gegen Abend bre­chen wir wie­der auf zu einem letz­ten Aus­flug an die­sem Tag. Drei große Ski­sprung­schan­zen konn­ten wir von unse­rem Haus aus sehen und diese schauen wir uns nun näher an. Fesih hat, als wir auf­bre­chen, wie­der Besuch, und die­ser kommt spon­tan mit. Lei­der spricht der junge Jura­stu­dent kein Eng­lisch, aber bei einem Tee genie­ßen wir im Restau­rant ober­halb des höchs­ten Ski­sprung­turms den Blick auf Erzurum und unter­hal­ten uns, so gut es geht. Erzurum scheint eine regel­rechte Sport­stadt zu sein. Neben den Ski­sprung­tür­men gibt es ein Schwimm­zen­trum, eine große Klet­ter­halle, eine Eis­ho­ckey­halle und diverse andere Sport­mög­lich­kei­ten. Im Win­ter ist Erzurum die Haupt­stadt des tür­ki­schen Win­ter­sports, erklärt uns Fesih.

22_skiturm 23_blickauferzurum 24_erzurum_nacht 25_sprungturm

Schließ­lich lockt uns ein Anruf unse­res Gast­ge­bers Refik zurück nach Hause. Er ist für heute mit der Arbeit fer­tig und lädt uns auf einen Kräu­ter­tee ein. Bei ange­reg­ten Gesprä­chen mit den zu Besuch gekom­me­nen Nach­barn über das anste­hende Refe­ren­dum schlie­ßen wir den Abend in sei­ner Woh­nung ab.

Am nächs­ten Mor­gen freue ich mich über die vor­han­dene Küche und backe spon­tan Pfann­ku­chen. Unser uns in Bul­ga­rien geschenk­ter Honig ver­süßt uns das Früh­stück! So gestärkt ver­las­sen wir Erzurum und bre­chen zu unse­rer heu­ti­gen Etappe nach Kars, in Rich­tung arme­ni­scher Grenze, auf.

Was wir in Erzurum gelernt haben? Spra­chen, egal wie gut (oder schlecht) man sie ein­mal gelernt hat, wer­den einem irgend­wann nütz­lich sein. Dass wir Fran­zö­sisch in der Tür­kei wür­den brau­chen kön­nen, hät­ten wir vorab nicht erwar­tet. Aber ohne unsere Schul­kennt­nisse hät­ten wir uns nur mit dem Bild­wör­ter­buch oder Google Trans­la­tor unter­hal­ten kön­nen. Und letz­te­rem ver­trauen wir inzwi­schen nicht mehr besonders… 😉

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Cate­go­riesTür­kei
Leo und Sebastian sind die Autoren der Reiseberichte des Blogs eins2frei.com.
Leo Sibeth & Sebastian Ohlert

Die beiden Wahl-Augsburger änderten im März 2017 ihr Leben: Jobs und Wohnung haben sie gekündigt, die Möbel verkauft und Persönliches in Kisten verpackt. Mit Bus und Bahn reisten sie 20 Monate lang über Land nach und durch Asien. Mit einem Containerschiff überquerten sie den Pazifik und erkunden nun Mittelamerika. Sie reisen möglichst nachhaltig, langsam und bewusst. Das Flugzeug ist dabei tabu! Wichtig sind ihnen Begegnungen mit Menschen und das Infragestellen ihrer eigenen Bilder und Stereotype.

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