Es ist Zufall, dass wir Riga von sei­ner mor­bi­den Sei­ten ken­nen ler­nen, dass wir erst den Ver­fall und dann die Pracht in Lett­lands Haupt­stadt ent­de­cken: Mein Freund kommt aus Kath­mandu, aus Neu­gier haben wir kurz vor unse­rer Ankunft online nach einem nepa­le­si­schen Restau­rant gesucht und beschlos­sen, gleich am ers­ten Abend hinzugehen.

Riga ist vol­ler „Lost Places“

Von unse­rem Hotel nahe dem Bahn­hof machen wir uns auf den Weg zum „Hima­laya Kit­chen“, gute halbe Stunde zu Fuß, sagt Google Maps. Wir las­sen die Alt­stadt links lie­gen und lau­fen an der „Milda“ vor­bei, der Frei­heits­sta­tue Lett­lands, ein 19 Meter hoher Obe­lisk auf einem rie­si­gen Sockel, an des­sen Spitze eine Frau­en­fi­gur drei Sterne zum Him­mel reckt.

Wir fol­gen der Brī­vī­bas iela, dem „Frei­heits­bou­le­vard“, der sich mehr als 12 Kilo­me­ter vom Zen­trum bis an den Stadt­rand zieht. Hier rei­hen sich opu­lente Jugend­stil­ge­bäude anein­an­der. Nir­gendwo auf der Welt gibt es mehr Jugend­stil­bau­ten als in Riga, sie machen fast ein Drit­tel aller Häu­ser in der Innen­stadt aus, habe ich vor unse­rer Reise gelesen.

Nicht gele­sen habe ich, dass so viele Woh­nun­gen leer ste­hen: Die größte Stadt des Bal­ti­kums ist vol­ler „Lost Places“, so nennt man – pseu­do­eng­lisch – die unbe­wohn­ten, dem Ver­fall geweih­ten Orte, die scha­ren­weise Foto­gra­fen aus aller Welt anzie­hen. Einige der mon­dä­nen Wohn­häu­ser in der Brī­vī­bas iela sehen aus­ge­brannt aus, als hät­ten rie­sige Flam­men die Fas­sa­den unter einer dicken Schicht Ruß ein­ge­schlos­sen. Oft sind noch die Erd­ge­schosse als Geschäfts­räume ver­mie­tet, doch über den beleuch­te­ten Laden­zei­len klaf­fen leere Fens­ter wie schwarze Löcher, die alles Leben ver­schluckt haben.

Es ist Juli und der Som­mer in ganz Nord­eu­ropa heiß wie lange nicht. Obwohl es am Nach­mit­tag hef­tig gereg­net hat, herr­schen 25 Grad. Trotz­dem beschleicht mich ein Win­ter­ge­fühl: Es fällt mir leicht, mir vor­zu­stel­len, ich würde frös­telnd an einem grauen Janu­ar­tag hier ent­lang spa­zie­ren, so kalt und abwei­send wir­ken die schmut­zi­gen Wände, die kaput­ten Fens­ter­rah­men, der brö­ckelnde Putz. Anbli­cke, die sich uns spä­ter auch anderswo an den Rän­dern der Alt­stadt bieten.

Zum tou­ris­ti­schen Stadt­kern, durch den wir an den kom­men­den Tagen so oft spa­zie­ren, pas­sen sie nicht: In der Alt­stadt leuch­ten makel­lose Fas­sa­den in wein­rot, mai­grün und hell­blau gegen­ein­an­der an. Bars und Restau­rants, von denen viele auf bel­gi­sches Bier oder mit­tel­al­ter­li­ches Flair set­zen, sind schick und teuer, Plätze und Parks sau­ber und üppig bepflanzt.

Ich krame in mei­nen Kennt­nis­sen zur Geschichte die­ses Lan­des: Der mitt­lere der drei bal­ti­schen Staa­ten erlangte nach jahr­zehn­te­lan­ger rus­si­scher Beset­zung 1991 offi­zi­ell seine Unab­hän­gig­keit und trat 2004 der EU bei. Seit­dem geht’s hier wirt­schaft­lich ste­tig berg­auf. Dachte ich. Und lese spä­ter: Zwar stimmt es, dass sich die Wirt­schaft seit der Unab­hän­gig­keit zügig ent­wi­ckelt hat, sie ist aber auch von sehr nied­ri­ger Basis gestar­tet. Bis heute liegt das monat­li­che Durch­schnitts­ein­kom­men bei 670 Euro. Und: Junge, gut aus­ge­bil­dete Let­ten ver­glei­chen den Lebens­stan­dard in ihrem Land nicht mit dem zu frü­he­ren Sowjet-Zei­ten, son­dern mit dem in ande­ren euro­päi­schen Län­dern. Seit ihnen der euro­päi­sche Arbeits­markt offen steht, wan­dern sie in Scha­ren ab, die meis­ten nach Groß­bri­tan­nien, Irland und Deutschland.

 Das „Eck­haus“ war gefürch­tetste Ort Rigas

Auf dem Weg zum Restau­rant kom­men wir an jenem Haus vor­bei, das wie kein zwei­tes Zugang schafft zum Lett­land von ges­tern und heute. Mir fällt es wegen der Schil­der zu bei­den Stra­ßen hin auf: „Exhi­bi­tion – History of KGB Ope­ra­ti­ons in Lat­via“ steht auf ihnen geschrie­ben. Das „Eck­haus“, wie die Ein­hei­mi­schen den sechs­stö­cki­gen Pracht­bau in der Brī­vī­bas iela 61 nen­nen, war jahr­zehn­te­lang der gefürch­tetste Ort Rigas. Hier befand sich vom zwei­ten Welt­krieg bis 1991 das KGB-Haupt­quar­tier samt Gefäng­nis im Kel­ler­ge­schoss. Erst 2014 hat man das Gebäude der Öffent­lich­keit zugäng­lich gemacht, seit­dem gibt es Füh­run­gen durch die Zel­len, die Ver­neh­mungs­räume, die Innen­höfe und die Erschie­ßungs­an­lage – und damit durch das dun­kelste Kapi­tel der let­ti­schen Geschichte.

Hin­ter den schwe­ren Stahl­tü­ren ist die Luft sti­ckig, blät­tert Farbe von den Wän­den, ros­ten Schlös­ser und Git­ter vor sich hin. Der Guide, der uns gemein­sam mit etwa 15 ande­ren Tou­ris­ten Ein­lass zum Gefäng­nis­trakt gewährt, ist keine drei­ßig Jahre alt und heißt Mar­tin. Er blickt seine Zuhö­rer aus hel­len Augen an und lässt keine der Schre­ckens­ge­schich­ten aus, die sich hier abge­spielt haben. Mehr­mals bit­tet er Eltern, ihren Kin­dern die Ohren zuzuhalten.

Mar­tin erzählt, wie angeb­li­che Klas­sen­feinde von ihrer Arbeit oder mit­ten in der Nacht aus ihren Häu­sern hier­her ver­schleppt, ver­hört, gefol­tert oder gleich erschos­sen wur­den. Ihre Ver­ge­hen? Einige wur­den allein des­halb ver­haf­tet, weil sie sich für fran­zö­si­sche Lite­ra­tur inter­es­sier­ten. Ein LKW, mit dem die Lei­chen spä­ter abtrans­por­tiert wur­den, hielt wäh­rend der Hin­rich­tun­gen mit lau­fen­dem Motor im Hof und über­tönte die Schuss­ge­räu­sche. Mehr als 150 Men­schen hat die rus­si­sche Staats­si­cher­heit hier 1940 und 1941 umge­bracht. Die ande­ren Häft­linge wur­den nach Sibi­rien depor­tiert oder als „Inof­fi­zi­elle Mit­ar­bei­ter“ ange­wor­ben. Allein in der Nacht vom 14. Juni 1941 hat man mehr als 15.000 Let­ten von Riga nach Sibi­rien ver­bannt, bis 1949 waren es 88.000. Zurück­ge­kehrt ist kaum jemand.

Die Nazis, die das Land ab 1941 besetz­ten, nutz­ten die Gräu­el­ta­ten der Sowjets nur zu gern für ihre eigene Pro­pa­ganda aus, bis die rus­si­sche Staats­si­cher­heit 1944 ihre Macht über Lett­land zurück­er­langte. Hin­rich­tun­gen fan­den nach dem Krieg zwar nicht mehr statt, doch an den unmensch­li­chen Haft­be­din­gun­gen änderte sich nichts. Man quälte die ver­meint­li­chen Staats­feinde Tag und Nacht mit grel­lem Licht, von dem sie Migräne beka­men, und gab ihnen ver­dor­be­nes Essen. In völ­lig über­füll­ten Zel­len diente ein ein­zi­ger Eimer Dut­zen­den Insas­sen als Toilette.

Erst im Mai 1990, als Lett­land seine Unab­hän­gig­keit erklärte, ver­lie­ßen die letz­ten Häft­linge das Eckhaus.

Lett­land kämpft noch immer sicht­bar mit den Fol­gen der Besetzung

50 Jahre Unter­drü­ckung haben alles ver­än­dert und wir­ken lange nach. „Vor 1940 war Lett­land reich. Rich­tig reich!“, sagt Mar­tin und fährt mit ver­bit­ter­ter Stimme fort: „Ohne die deut­sche und sowje­ti­sche Beset­zung würde es uns heute so gut gehen wie den Fin­nen.“ Statt­des­sen muss das Land um seine Exis­tenz fürch­ten, wenn wei­ter­hin so viele junge Let­ten ihrer Hei­mat den Rücken keh­ren. Um 27 Pro­zent ist die Ein­woh­ner­zahl Lett­lands seit 1990 gesun­ken – so einen Bewoh­ner­schwund hat es in kei­nem ande­ren Land in Europa gegeben.

Schon lange gibt es in Riga Bemü­hun­gen, den leer­ste­hen­den Raum in der Stadt sinn­voll für krea­tive und gemein­nüt­zige Pro­jekte zu nut­zen. Und mitt­ler­weile soll sich die Ein­woh­ner­zahl zumin­dest in der Haupt­stadt wie­der leicht erholt haben. Bleibt zu hof­fen, dass die Bevöl­ke­rungs­zahl in dem klei­nen Land bald wie­der auf über zwei Mil­lio­nen steigt. Und dass das Leben zurück­kehrt in die unzäh­li­gen lee­ren Woh­nun­gen in der Brī­vī­bas iela und anderswo.

Cate­go­riesLett­land
  1. Jan says:

    Ich war 1998 in Riga. Ich fand die Stadt äußerst anzie­hend und wollte immer mal wie­der dort vor­bei schauen. Ich hätte nie gedacht das es dort so viel Leer­raum gibt. Kann man als Deut­scher eigent­lich dort Häu­ser kaufen?

    1. Hi Jan, der Leer­stand hat sich wohl mit dem EU-Bei­tritt noch mal sehr ver­schärft. Toll ist Riga trotz­dem, keine Frage! Letz­te­res weiß ich auch nicht.

  2. Pingback:Blogbummel November 2018 – Nachschlag – buchpost

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