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Weil Indien ein Schmelztiegel der Kulturen ist

Nicht nur Bom­bay war und ist ein Schmelz­tie­gel, son­dern der gesamte indi­sche Sub­kon­ti­nent – und zwar ein rie­sen­gro­ßer. Indien ist die Wiege gro­ßer Kul­tu­ren, die sich fort­wäh­rend ver­mischt haben. In die­ser Fähig­keit, immer neue Ein­flüsse in sich auf­zu­neh­men und zu inte­grie­ren, und der dar­aus ent­stan­de­nen Viel­falt besteht für mich die größte Stärke und die beson­dere Schön­heit Indiens.

 

Wer­fen wir doch erst mal einen Blick zurück in die Geschichte: Als Urein­woh­ner Indi­ens gel­ten die Adi­vasi, die noch als Fischer, Hir­ten­no­ma­den, Wan­der­feld­bau­ern, Jäger und Samm­ler in einem wald­rei­chen Indien lebten.

Die ers­ten frü­hen Stadt­ge­sell­schaf­ten mit Stadt­mau­ern, Befes­ti­gungs­an­la­gen und einer Proto-Schrift ent­stan­den ent­lang des Indus (haupt­säch­lich im heu­ti­gen Paki­stan und in Guja­rat). Die Indus-Kul­tur gehört zu den ältes­ten Hoch­kul­tu­ren der Mensch­heit. Noch immer ist rela­tiv wenig über sie bekannt – sowohl über ihren Ursprung als auch ihren plötz­li­chen Nie­der­gang wird noch gerät­selt. Diese Stadt­zen­tren wie Mohenjo-Daro oder Har­appa auf dem Gebiet des heu­ti­gen Paki­stans gehör­ten zu einem Kul­tur­raum zwi­schen Ägyp­ten und dem Indus mit dem Zen­trum Meso­po­ta­mien im Zwei­strom­land von Euphrat und Tigris im heu­ti­gen Irak, eine Region, die sich zur Wiege des sess­haf­ten Men­schen entwickelte.

Viele His­to­ri­ker gehen davon aus, dass diese Urbe­völ­ke­rung von den Ari­ern, einem krie­ge­ri­schen Hir­ten­volk, das aus dem Iran ein­wan­derte, unter­wor­fen wurde. Damit ent­wi­ckelte sich auch das Kas­ten­sys­tem, das Indien nun seit Tau­sen­den von Jah­ren ent­schei­dend prägt und bereits in den ers­ten hei­li­gen Tex­ten des Hin­du­is­mus, den Veden[1], fest­ge­schrie­ben wurde. Die vier Haupt­kas­ten wer­den Var­nas (Far­ben) genannt. Ganz oben ste­hen die Brah­ma­nen-Pries­ter, die sich als Zei­chen ihrer Rein­heit weiß klei­den. Dar­un­ter folgt die Kaste der Ksha­trya, zu denen Krie­ger, Beamte und Fürs­ten zäh­len. Ihre Farbe ist Rot. Dann kommt die Kaste der Vais­hya, die Händ­ler und Groß­grund­be­sit­zer, sie sind gelb geklei­det. Die vierte Kaste nennt sich Shu­dra. Dazu zäh­len Hand­wer­ker, Bediens­tete und Knechte. Ihre Farbe ist Schwarz. Oft ist der Stand bereits an der Farbe der Klei­dung erkennbar.

Die unter­le­ge­nen Urein­woh­ner wur­den von den Ari­ern zu Ange­hö­ri­gen der unte­ren Kas­ten gemacht oder als Dalit[2] ganz außer­halb gestellt, wäh­rend die Arier (Aryas bedeu­tet »Die Edlen«) die obe­ren drei Kas­ten in der neuen Gesell­schafts­ord­nung ein­nah­men. Den Dalit blie­ben nur die schmut­zi­gen Arbei­ten, und bis heute ten­diert ihre soziale Aner­ken­nung gegen null. Schlim­mer noch: Viele Ange­hö­rige höhe­rer Kas­ten ekeln sich vor einer Berüh­rung. Die Dalit gel­ten als unrein, weil sie mit Gerb­säure, toten Tie­ren oder Exkre­men­ten arbei­ten müssen.

Hält man sich vor Augen, dass neben 160 Mil­lio­nen Hin­dus, die zu den Dalit zäh­len, auch Mus­lime, Chris­ten und Bud­dhis­ten außer­halb der Var­nas ste­hen und von radi­ka­len Hin­dus nicht als echte Inder akzep­tiert wer­den, kann man ahnen, wel­cher sozia­ler Spreng­stoff hier ver­bor­gen liegt.

Unter den Var­nas gibt es 2.000 bis 3.000 Jati, die Unter­kas­ten, die den Beruf, den Hei­rats­part­ner und sogar die Ernäh­rung vor­ge­ben. Alle Hin­dus gehö­ren einer Jati an, auch wenn sie nicht zu den Var­nas gehören.

Das Kas­ten­sys­tem hat große Ähn­lich­kei­ten zum Stän­de­we­sen mit sei­nen Gil­den im mit­tel­al­ter­li­chen Europa. Damals waren der soziale Stand und die Berufs­wahl eben­falls von Geburt an festgelegt.

Der Nor­den und Wes­ten des heu­ti­gen Indi­ens blieb fortan von der (indo-)arischen Bevöl­ke­rung domi­niert, und die Ein­flüsse aus Zen­tral­asien blie­ben auch in der Zukunft ent­schei­dend. Nur der Süden ent­wi­ckelte sich lange rela­tiv eigen­stän­dig und wurde von der dra­vi­di­schen bzw. tami­li­schen Kul­tur geprägt. Vor allem die Chera, die Chola und die Pan­dya ent­wi­ckel­ten eigene Spra­chen, Lite­ra­tur, Mythen, Kul­tur, Kunst­for­men und Archi­tek­to­nik. Ob die Dra­vi­den auch zur Gruppe der Adi­vasi gehö­ren oder wäh­rend einer ande­ren Epo­che ein­wan­der­ten, ist unklar. Noch weiß man zu wenig über die Ursprünge der dra­vi­di­schen Kul­tur. Über­haupt muss man mit den Begriff­lich­kei­ten vor­sich­tig sein, viele sind von west­li­chen Inter­pre­ta­tio­nen geprägt. Die Mehr­zahl der west­li­chen Indo­lo­gen des 19. Jahr­hun­derts, die auch den Begriff »Dra­vi­den« präg­ten, gin­gen von einer Über­le­gen­heit der (mit den euro­päi­schen Völ­kern ver­wand­ten) ari­schen Rasse aus. Wohin diese men­schen­ver­ach­tende Ideo­lo­gie führte, zeigte der per­fide Ras­sen­wahn der Natio­nal­so­zia­lis­ten, die die Welt in ein Schlacht­feld ver­wan­del­ten. Die Juden wur­den nun zu den Paria gemacht. Der schon lange in Europa schwe­lende Anti­se­mi­tis­mus bekam mit der Ideo­lo­gie von Ober- und Unter­men­schen neue Nahrung.

In der Fol­ge­zeit ent­wi­ckelte sich auf Grund­lage der Veden die vedi­sche Kul­tur mit dem Brah­ma­nen­tum, der hin­du­is­ti­schen Ethik (Dharma[3]), und das Kas­ten- und Stän­de­we­sen dif­fe­ren­zierte sich wei­ter. Dar­aus ent­wi­ckelte sich lang­sam die hin­du­is­ti­sche Reli­gion mit den Kul­ten um Vishnu, Shiva und Mahadevi.

Ein Relief von „Lord Shiva“ in den Rui­nen von Angkor

Alex­an­der der Große, der bekannte make­do­ni­sche Herr­scher, gelangte nach sei­nem sieg­rei­chen Feld­zug gegen das Per­ser­reich um 330 v. Chr. bis an den Indus, Indien eroberte er jedoch nicht. Den­noch übten die Nach­fol­ge­rei­che, die sich in den Nach­bar­re­gio­nen Indi­ens eta­blie­ren konn­ten – wie etwa die Seleu­ki­den, die Dia­do­chen-Rei­che, Bakt­rien und die Gan­dhara-Kul­tur, in der hel­le­nis­ti­sche und bud­dhis­ti­sche Ideen ver­schmol­zen – gro­ßen Ein­fluss auf die indi­sche Kul­tur aus. Bis heute beru­fen sich einige Völ­ker und Dorf­ge­mein­schaf­ten auf das Erbe Alex­an­ders (in Indien auch als ­Iskan­der bekannt) und sei­ner Armee. Tat­säch­lich blie­ben zahl­rei­che Ange­hö­rige sei­ner Streit­kräfte am Indus, anstatt die lange Rück­reise nach Make­do­nien auf sich zu neh­men. Bis heute trifft man in Indien Men­schen wie die Balti oder die Bewoh­ner des iso­lier­ten Dor­fes ­Mal­ana in Himachal Pra­desh, die sich als seine Nach­fol­ger verstehen.

 

In der Antike war das Mau­rya-Reich beson­ders prä­gend. Erst­mals gelang es König Ashoka um 250 v. Chr., fast ganz Indien bis auf den Süden zu beherr­schen. Eine wei­tere Blüte folgte wäh­rend der Herr­schaft von Kushana zwi­schen 100 und 250 n. Chr., deren Ein­fluss bis weit nach Zen­tral­asien reichte, und dem Gupta-Reich, das zwi­schen 320 und 550 n. Chr. eine ähn­li­che Größe erreichte wie unter Ashoka.

 

Ab etwa dem Jahr 1000 n. Chr. dran­gen neue Inva­so­ren von Afgha­ni­stan aus nach Indien vor. 200 Jahre spä­ter, 1206, ent­stand das Sul­ta­nat von Delhi, aus dem sich das Mogul­reich ent­wi­ckeln sollte. Die Moguln besa­ßen bereits Feu­er­waf­fen und Kano­nen, womit sie mili­tä­risch haus­hoch über­le­gen waren. Wäh­rend der Herr­schaft der Moguln zwi­schen 1526 und 1858 ent­wi­ckelte sich eine per­sisch-mon­go­lisch-indisch-mus­li­mi­sche Misch­kul­tur, die Indien bis heute stark beein­flusst. Danach präg­ten Maha­ra­dschas, Sikhs und Mara­then die indi­sche Geschichte bis zur Unabhängigkeit.

Blick auf das Fort Mehr­an­garh in Jodh­pur im Bun­des­staat Rajasthan

Um 1600 began­nen die euro­päi­schen Kolo­ni­al­mächte, sich bren­nend für den indi­schen Sub­kon­ti­nent zu inter­es­sie­ren, allen voran wegen des Gewürz- und Tee­han­dels. Han­dels­ge­sell­schaf­ten ent­stan­den, zum Bei­spiel die Bri­tish East Indian Com­pany, eine Han­dels- und Akti­en­ge­sell­schaft, die mit einem Frei­brief der bri­ti­schen Krone aus­ge­stat­tet war.

Das „Gate­way of India“ in Bom­bay ist das Sym­bol für die bri­ti­sche Kolonialherrschaft

Andere euro­päi­sche Staa­ten folg­ten die­sem Bei­spiel und began­nen, die Res­sour­cen Indi­ens rück­sichts­los aus­zu­beu­ten. Die Bri­ten führ­ten Sil­ber aus Europa nach Indien ein, tausch­ten es dort gegen Baum­wolle, die sie zum Teil in Indo­ne­sien wie­derum gegen Pfef­fer und andere Gewürze tausch­ten, über­führ­ten diese Waren nach Eng­land, von wo aus es nach Afrika, Nord­ame­rika und Ost­eu­ropa expor­tiert wurde – im Tausch gegen das in Indien begehrte Sil­ber. Wirt­schaft­li­che Inter­es­sen blie­ben auch lange Zeit im Vor­der­grund. Erst ab Mitte des 18. Jahr­hun­derts gewann die Bri­tish East Indian Com­pany neue Ter­ri­to­rien hinzu. Rund 150.000 Bri­ten herrsch­ten um 1900 über 300 Mil­lio­nen Inder, die sie als »Wilde« betrach­te­ten. Die Inder kamen sel­ten über den Sta­tus von Bediens­te­ten hin­aus, die den Bri­ten ihr eli­tä­res Leben ermög­lich­ten. Vor allem stütz­ten sich die Bri­ten auf die etwa 250.000 Sepoy, die das wesent­li­che Gerüst der bri­tisch-indi­schen Armee bil­de­ten. Nur etwa jeder Sechste in die­ser Armee war ein Euro­päer. Doch im Jahr 1857 und 1858 kam es zu schwe­ren Auf­stän­den der Sepoy, nach­dem bekannt wurde, dass die Patro­nen mit Schwei­ne­fett und Rin­der­talg behan­delt wur­den – ein Affront für die gläu­bi­gen Hin­dus und Mus­lime. Die auf­ge­staute Wut über die Aus­beu­tung ent­lud sich. Die bri­ti­sche Krone musste ein­grei­fen und ent­mach­tete schließ­lich die Bri­tish East Indian Com­pany. 1858 wurde Indien zur bri­ti­schen Kron­ko­lo­nie, und die bri­ti­schen Herr­scher wur­den zu Kai­sern von Indien.

Die Por­tu­gie­sen setz­ten sich an der West­küste und in dem Gebiet Damian in Guja­rat sowie der vor­ge­la­ger­ten Insel Diu fest. Das Zen­trum ihrer Macht war Goa Velha. Auch die Fran­zo­sen besetz­ten Teile der Ost­küste. Ihre wich­tigste Kolo­nie war Pon­di­cherry (heute Podu­cherry), nörd­lich von Madras (heute Chen­nai). Auch andere euro­päi­sche Mächte grün­de­ten Han­dels­nie­der­las­sun­gen und Kolonien.

In der Folge ver­stärk­ten sich in Indien die Bestre­bun­gen nach Unab­hän­gig­keit. Doch die Tren­nung in Indien und Paki­stan bei der Staats­grün­dung 1947 war ein schwe­rer Bruch mit einem reich­hal­ti­gen Erbe, in dem isla­mi­sche, per­si­sche und indi­sche Ein­flüsse wei­test­ge­hend ver­schmol­zen waren. Alte Kon­flikte gelang­ten mit Macht an die Ober­flä­che. Men­schen wur­den getrennt, ver­trie­ben und ermor­det, und Gren­zen wur­den gezo­gen, die so nie bestan­den hat­ten. Bis heute ist das der große Riss in die­sem fas­zi­nie­ren­den Schmelz­tie­gel, mit der klaf­fen­den Wunde in Kaschmir.

Auf dem Dal­see in Kasch­mirs Haupt­stadt Srinagar

Heute spielt in Indien auch die Glo­ba­li­sie­rung eine ent­schei­dende Rolle. Einen gro­ßen Ein­fluss hat­ten schon immer die Besu­cher aus aller Welt, die Kul­tur­in­ter­es­sier­ten, die Händ­ler, die Suchen­den, in moder­ner Zeit auch die Tou­ris­ten und Back­pa­cker. Seit Indien sich Anfang der 90er-Jahre den welt­wei­ten Märk­ten geöff­net hat (zuvor exis­tierte eine Misch­form aus Markt- und Plan­wirt­schaft), prä­gen auch die mul­ti­na­tio­na­len Kon­zerne das moderne Indien. Roh­stoffe wer­den in nie gekann­tem Aus­maß aus­ge­beu­tet, Son­der­wirt­schafts­zo­nen locken Investoren.

 

Diese viel­fäl­ti­gen kul­tu­rel­len Ein­flüsse machen Indien in mei­nen Augen erst zu dem schil­lern­den Land vol­ler Kon­traste, in dem schein­bar alles par­al­lel exis­tiert. Nicht sel­ten schei­nen ver­schie­dene Zeit­al­ter neben­ein­an­der zu bestehen. Luxus­li­mou­si­nen fah­ren neben Esel­kar­ren, High­tech glit­zert neben archai­schen Werk­zeu­gen und Kul­tur­tech­ni­ken, Moderne und Mit­tel­al­ter sind oft nur einen Stein­wurf entfernt.

 

[1]
Die Veden wur­den lange münd­lich über­lie­fert, bevor sie nie­der­ge­schrie­ben wur­den. Die bekann­tes­ten Teile sind das Rig­veda und die Upanishaden.

 

[2]
Die »Unter­drück­ten«, von Außen­ste­hen­den auch als Paria oder Hari­jans (»Kin­der Got­tes«) bezeichnet.

 

[3]
Das Dharma legt die kos­mi­sche und die gesell­schaft­li­che Ord­nung fest, der sowohl Bud­dhis­ten, Hin­dus, Sikhs als auch Jaina fol­gen. Die Bud­dhis­ten nen­nen das Kon­zept Dhamma.

 

Die Viel­falt der indi­schen Kul­tu­ren, Reli­gio­nen und Phi­lo­so­phien sind für mich ein wesent­li­cher Teil der Fas­zi­na­tion, die von Indien aus­geht. Im Buch gehe ich noch ein­ge­hen­der auf die hier umris­se­nen kul­tu­rel­len Ein­flüsse ein, die Indien geprägt haben. Hier einige Beispiele:

 

  • Weil Raja­sthan das Land der Könige ist
  • Weil die Bish­noi zu den ers­ten Tier­schüt­zern zählen
  • Weil Ajmer die Haupt­stadt der Fakire ist
  • Weil Bud­dha in Nord­in­dien seine Leh­ren verbreitete
  • Weil die Sikhs Indi­ens „Löwen“ sind
  • Weil ver­schie­dene Reli­gio­nen neben­ein­an­der bestehen
  • Weil die Par­sen Nach­fol­ger Zara­thus­tras sind

 

„111 Gründe, Indien zu lie­ben“ ist erschie­nen im Schwarz­kopf & Schwarz­kopf Ver­lag, Ber­lin und umfasst 336 Sei­ten. Pre­mium-Paper­back mit zwei far­bi­gen Bildteilen.

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