T

Teer – Indiens skurrilster Zeitvertreib

Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
In einer grob gehaue­nen Hütte hockt ein Mann in stau­bi­gen Hosen. Er han­tiert mit hun­der­ten gesplit­ter­ten Pfei­len. In sei­ner Nähe riecht es nach bil­li­gem Whisky und schlech­tem Bier; ein Geruch, der sich in den rohen Mau­ern der Hütte fest­ge­setzt zu haben scheint. Son­nen­licht blin­zelt durch die nied­rige Tür­öff­nung und wirft mei­nen Schat­ten ganz in seine Nähe. Ich trete ein, ver­schmelze mit dem Halb­dun­kel. Erst jetzt hebt der Mann den Kopf. Ein schma­les Lächeln, dann beugt er sich wie­der wort­los über seine Arbeit. Er ist der Dok­tor der Geschosse. Seine Pati­en­ten, gerade erst ver­schos­sen, sind gebro­chen und unbrauch­bar. Jetzt flickt er sie, behan­delt ihre schma­len Kör­per mit Kleb­stoff, fixiert Brü­che mit Bind­fä­den. In Win­des­eile umwi­ckelt er Schaft für Schaft und schich­tet sie zu einem spitz­za­cki­gen Gebirge auf. In die­sem Moment gehört er zu den wich­tigs­ten Män­nern in Shil­long, der Haupt­stadt des indi­schen Bun­des­staa­tes Meg­ha­laya, den die Bri­ten einst auf­grund der hüge­li­gen, grü­nen Land­schaft und des kaum enden wol­len­den Regens als „Schott­land des Ostens“ beti­tel­ten. Meg­ha­laya wie­derum ist eine der Sie­ben Schwes­tern, gehört zu den sie­ben Bun­des­staa­ten, die zusam­men den abge­le­ge­nen Nord­os­ten Indi­ens bil­den. Hier tref­fen die Kul­tu­ren des Sub­kon­ti­nents und Süd­ost­asi­ens auf­ein­an­der und gehen betö­rende, skur­rile und manch­mal kaum zu glau­bende Ver­bin­dun­gen ein. Der Nord­os­ten Indi­ens ist auf der Land­karte der meis­ten Rei­sen­den noch immer ein wei­ßer Fleck, eine Region, über die wenig, aber dafür Fan­tas­ti­sches berich­tet wird. 
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Pfeile für die Bogen­schuss­lot­te­rie in Shillong
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Schüt­zen zwi­schen den zwei Durch­gän­gen der Bogenschusslotterie
Nach ein paar Minu­ten ist die Arbeit des Dok­tors getan. Ban­da­giert und fast geheilt gelan­gen die Pfeile aus der Hütte wie­der hin­aus ins Tages­licht des spä­ten Nach­mit­tags, wo sie von etwa 30 Bogen­schüt­zen und einem viel grö­ße­ren Publi­kum erwar­tet wer­den. Hier, hin­ter dem städ­ti­schen Pol­o­feld in Shil­long und ver­steckt hin­ter hohen Mau­ern, fin­det ein Wett­be­werb statt, der die Men­schen weit über die Stadt­gren­zen hin­aus in Atem hält. Teer [tiːr] nen­nen sie ihr Spiel, eine Bogen­schuss­lot­te­rie, der Tau­sende ver­fal­len sind. Dabei schie­ßen Bogen­schüt­zen hun­derte Pfeile auf einen mit Stroh gefüll­ten, einen Meter hohen Zylin­der. Die Buch­ma­cher sind stets gefragt und neh­men Wet­ten ent­ge­gen, wie viele Pfeile wohl tref­fen; wie viele Pfeile dane­ben gehen. Die Gewinn­zahl ergibt sich aus den letz­ten bei­den Zif­fern der ins Ziel ein­ge­schla­ge­nen Pfeile. Tref­fen zum Bei­spiel 498 Pfeile den Stroh­zy­lin­der, dann gewinnt die 98, tref­fen 812 Pfeile, lau­tet die Gewinn­zahl 12. Es ist ein Glücks­spiel son­der­glei­chen und um es noch ein wenig inter­es­san­ter zu machen, wird das Ganze mit einer Prise Magie ver­fei­nert. Vor jedem Wett­ein­satz zie­hen die Buch­ma­cher die Träume der Glücks­rit­ter zurate. Dabei schla­gen sie in einem eigens dafür zusam­men­ge­stell­ten Kata­log nach. Für jeden Traum gibt es die pas­sende Zahl. Oft ste­hen sogar meh­rere Num­mern zur Wahl. Wer etwa von einer Kuh, einer Ziege oder einem Büf­fel träumt, dem raten die Buch­ma­cher auf die 12, 18, 19, 22, 24, 34, 42, 54, 72, 74, 84, 94 oder 97 zu wet­ten. Spricht man im Schlaf mit Geis­tern, emp­feh­len die Buch­ma­cher die Num­mern 52, 54, 58, 62, 64 und 68. Wer in sei­nem Traum dage­gen mit einer Hand­pumpe, einem Schnei­de­werk­zeug oder einem Ham­mer han­tiert, oder aber einem aus Zie­gel­stei­nen geleg­ten Pfad folgt, setzt sein Geld am bes­ten auf die 71. Träumt man von einer Brat­pfanne, ord­net der Kata­log die Gewinn­num­mer 2 zu. 
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Buch­ma­cher neh­men Wet­ten entgegen
An klei­nen Büd­chen und locke­ren Ver­schlä­gen, die über­all in der Stadt ver­streut sind, erlie­gen vor allem Män­ner der Ver­hei­ßung des Glücks­spiels. Hier set­zen sie Bares in freu­di­ger Hoff­nung; manch einer viel­leicht auch in stil­ler Not. Die Beträge rei­chen gewöhn­lich bis zu 100 Rupien – nicht mehr als 1,20 € und den­noch viel Geld in die­sem Teil der Welt.

Die Bogenschusslotterie beginnt

Auf dem Schieß­platz hin­ter dem Pol­o­feld wer­den an sechs Tagen in der Woche in zwei Run­den jeweils bis zu 1.000 Pfeile ver­schos­sen. Nur am Sonn­tag bleibt der Schieß­platz im christ­lich gepräg­ten Meg­ha­laya leer. Dann näm­lich sit­zen die Män­ner beim Got­tes­dienst in der Kir­che und waschen anschlie­ßend hin­ge­bungs­voll ihre Autos. Doch nun drän­gen sich die Schau­lus­ti­gen unter einem leicht bewölk­ten Him­mel um die Schüt­zen. Dahin­ter sit­zen die Buch­ma­cher in impro­vi­sier­ten Bam­bus­ver­schlä­gen. Ein Dach, ein Tisch, ein Stuhl, meh­rere Tele­fone. Jeder der rund zwei Dut­zend Buch­ma­cher bie­tet eine ver­lo­ckende Quote: 1:60! Vor ihnen scha­ren sich die Figu­ren der Stadt; die Arbei­ter, Tage­löh­ner, Geschäfts­män­ner, Bau­ern. Es sind jene, die bereit sind ihren Träu­men zu fol­gen. Gerade berei­ten sich die Schüt­zen auf die zweite Runde der Lot­te­rie vor. Im Halb­kreis hocken sie um das mit Stroh gestopfte Ziel. Dahin­ter ragt ein Erd­wall einen hal­ben Meter in die Höhe. Die Män­ner span­nen ihre Bögen, schie­ßen ein paar Pro­be­pfeile auf alte Mais­kol­ben, zie­hen an Ziga­ret­ten, kauen ihr Kwai, in Betel­blät­ter gewi­ckelte Are­ka­nüsse, mit rost­ro­ten Zäh­nen. Es sind alte und junge, dicke und dürre, fal­tige, glatte, haa­rige, glatz­köp­fige. Was sie eint, sind die vom Leben gezeich­ne­ten Gesichter. 
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Bogen­schüt­zen
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Whis­ky­fla­schen wan­dern durch die Rei­hen der Schüt­zen und Zuschauer; von einer Hand zur ande­ren. Aus dem Hin­ter­grund brüllt eine Stimme keh­lig über die Köpfe der ande­ren hin­weg. Pfeile wer­den ver­teilt. Vor jedem Schüt­zen lie­gen etwa 25 Geschosse. Wet­ten wer­den gesetzt, immer hek­ti­scher. Ein letz­tes Schul­ter­klop­fen. Das Adre­na­lin steigt. Plötz­lich taucht eine schmale Gestalt an mei­ner Seite auf, die mir gerade bis zur Brust reicht. Gla­sige Augen schauen mich aus einem runz­li­gen Gesicht an. Der Whis­ky­ge­ruch aus der Hütte des Dok­tors steigt mir erneut in die Nase. Das schüt­tere Haar des Man­nes bedeckt ein alter, schief sit­zen­der Trilby – jener kleine ener­gi­sche Hut für lange Feste und aus­schwei­fende Fei­ern, der über­all in Indien mit Stolz getra­gen wird. Gemein­sam leh­nen wir an einem Pfos­ten. Er selbst spiele ja sel­ten, erzählt mir der Alte mit vom Kwai rot gefärb­ten Zäh­nen. Viel­leicht ein oder zwei Mal im Monat. Vor eini­ger Zeit habe er von einem Tiger geträumt und sei am nächs­ten Tag sofort zu einem Buch­ma­cher gelau­fen. Er habe auf die 99 gesetzt, die Zahl des Tigers, sei so sicher gewe­sen und habe den­noch ver­lo­ren – 100 Rupien auf und davon. „Gambling“, so sagt er, „ist nur etwas für Geschäfts­män­ner, nicht für die ein­fa­chen Leute.“ Dann berich­tet er von den Anzug­trä­gern aus den Casi­nos, die im fei­nen Zwirn hor­rende Sum­men setz­ten. Seine Stimme klingt nach Abscheu, seine Augen glit­zern vor Bewunderung. 
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Vor­be­rei­tung auf die zweite Runde der Bogenschusslotterie
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Teer ist lukra­tiv. Nach oben gibt es keine Grenze. Gele­gent­lich set­zen Glücks­rit­ter meh­rere hun­dert­tau­send Rupien auf eine ein­zige Num­mer. Sogar aus dem 3.000 Kilo­me­ter ent­fern­ten Mum­bai tru­deln Wett­ein­sätze per Tele­fon ein. Mil­lio­nen Rupien wer­den jeden Tag ver­spielt. Die letz­ten Sekun­den bis zum ers­ten Schuss der zwei­ten Runde ver­strei­chen ebenso, wie die Chance auf eine aller­letzte Wette. Auf ein Signal, das ich irgend­wie ver­passt habe, schwir­ren plötz­lich dut­zende Pfeile durch die Luft. Die meis­ten schla­gen ins Ziel, andere in den Erd­wall dahin­ter. Unun­ter­bro­chen feu­ern die Schüt­zen, nur gele­gent­lich inne­hal­tend, um das Ziel neu zu fokus­sie­ren. Der Bogen­schütze vor uns, ein klei­ner, breit­schult­ri­ger Mann mit gut­mü­ti­gen Zügen, kommt aus dem Rhyth­mus. Wäh­rend seine ers­ten Pfeile alle­samt das Ziel tref­fen, ver­schießt er nun aus­nahms­los. Erst zwei, dann drei, dann fünf Pfeile. In die­ser Schwä­che­phase hilft nur noch abset­zen, durch­at­men, neu star­ten. Und tat­säch­lich trifft er danach regel­mä­ßi­ger. Aus dut­zen­den Pfei­len wer­den hun­derte und noch immer zischen die Geschosse dem Ziel ent­ge­gen, boh­ren sich rasend in den Zylin­der. Die Anspan­nung im Halb­rund ist greif­bar. Nie­mand spricht, statt­des­sen star­ren alle Augen­paare ange­strengt dem Ziel ent­ge­gen, Schweiß­per­len benet­zen die Stirn, zusam­men­ge­presste Hände zer­knit­tern Wett­scheine. Das Spek­ta­kel dau­ert gerade ein­mal fünf Minu­ten. Dann schnellt ein Lei­nen­tuch in die Höhe, ver­deckt das Ziel vor nach­träg­lich abge­feu­er­ten oder ver­irr­ten Pfei­len.
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Bogen­schütze wäh­rend einer der zwei Teer-Runden
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
der getrof­fene Zylinder

Einen Pfeil am Glück vorbei

Doch die Anspan­nung liegt noch immer schwer in der Luft. Kaum jemand wagt zu spre­chen. Fünf Offi­zi­elle über­neh­men jetzt die Ver­ant­wor­tung. Sie zäh­len nach­ein­an­der die Pfeile, die das Ziel getrof­fen haben. Ganz nah um sie herum hocken die Schüt­zen zusam­men mit dem noch immer hoch kon­zen­trier­ten Publi­kum. Gemein­sam betrach­ten sie jede Bewe­gung der Punkt­rich­ter. Nach elend lan­gen Minu­ten sind die Geschosse aus­ge­zählt. Das Ergeb­nis steht fest: Glück­lich, wer auf die 71 wet­tete. Wir kön­nen es dage­gen nicht fas­sen. Es ist keine zwan­zig Minu­ten her, da stan­den wir vor einem der Buch­ma­cher und setz­ten, mehr zum Spaß, aber den­noch sie­ges­ge­wiss 50 Rupien auf die Zahl unse­res Ver­trau­ens: die 72. Es ist ein ein­zi­ger Pfeil, der uns vom 60-fachen Gewinn trennt. 3.000 Rupien! Was wir damit hät­ten anstel­len kön­nen: zum Bei­spiel 40 Tha­lis essen oder 300 Chai trin­ken.
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
die Offi­zi­el­len über­neh­men Verantwortung
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
gespann­tes Publikum
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
die Pfeife wer­den ausgezählt
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
und nach Far­ben sortiert
Die Bogen­schuss­lot­te­rie ist vor­bei. Lang­sam ver­streut sich die Menge ohne wei­tere Worte zu ver­lie­ren. Kein Flu­chen, keine Jubel­schreie. Geis­ter­haft leert sich der Schieß­platz. Still und unauf­ge­regt strö­men die Män­ner zurück in die Stadt, zu ihrer Arbeit, zu ihren Fami­lien, ins nächste Bier­ge­schäft. Die Pfeile, bereits nach Far­ben sor­tiert, wer­den den ent­spre­chen­den Schüt­zen und ihren Ver­ei­nen, die aus den umlie­gen­den Dör­fern anrei­sen, zurück­zu­ge­ben. Jeder Schütze erhält 300 Rupien für den Tag. Aber schon Mor­gen sind sie wie­der da; bereit den Träu­men der Wage­mu­ti­gen ihren Dienst zu erwei­sen.
die Pfeile gehen zurück an die Schützen
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
beim Buch­ma­cher
Teer, Shillong, Meghalaya, Indien
wie gewon­nen, so zerronnen
Cate­go­riesIndien
Avatar-Foto
Morten & Rochssare

Per Anhalter und mit Couchsurfing reisen Morten und Rochssare ab 2011 zwei Jahre lang zwischen Feuerland und der Karibik kreuz und quer durch Südamerika. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie auf ihrem Blog und in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen bei Malik National Geographic.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert