Die Bogenschusslotterie beginnt
Auf dem Schießplatz hinter dem Polofeld werden an sechs Tagen in der Woche in zwei Runden jeweils bis zu 1.000 Pfeile verschossen. Nur am Sonntag bleibt der Schießplatz im christlich geprägten Meghalaya leer. Dann nämlich sitzen die Männer beim Gottesdienst in der Kirche und waschen anschließend hingebungsvoll ihre Autos. Doch nun drängen sich die Schaulustigen unter einem leicht bewölkten Himmel um die Schützen. Dahinter sitzen die Buchmacher in improvisierten Bambusverschlägen. Ein Dach, ein Tisch, ein Stuhl, mehrere Telefone. Jeder der rund zwei Dutzend Buchmacher bietet eine verlockende Quote: 1:60! Vor ihnen scharen sich die Figuren der Stadt; die Arbeiter, Tagelöhner, Geschäftsmänner, Bauern. Es sind jene, die bereit sind ihren Träumen zu folgen. Gerade bereiten sich die Schützen auf die zweite Runde der Lotterie vor. Im Halbkreis hocken sie um das mit Stroh gestopfte Ziel. Dahinter ragt ein Erdwall einen halben Meter in die Höhe. Die Männer spannen ihre Bögen, schießen ein paar Probepfeile auf alte Maiskolben, ziehen an Zigaretten, kauen ihr Kwai, in Betelblätter gewickelte Arekanüsse, mit rostroten Zähnen. Es sind alte und junge, dicke und dürre, faltige, glatte, haarige, glatzköpfige. Was sie eint, sind die vom Leben gezeichneten Gesichter. Whiskyflaschen wandern durch die Reihen der Schützen und Zuschauer; von einer Hand zur anderen. Aus dem Hintergrund brüllt eine Stimme kehlig über die Köpfe der anderen hinweg. Pfeile werden verteilt. Vor jedem Schützen liegen etwa 25 Geschosse. Wetten werden gesetzt, immer hektischer. Ein letztes Schulterklopfen. Das Adrenalin steigt. Plötzlich taucht eine schmale Gestalt an meiner Seite auf, die mir gerade bis zur Brust reicht. Glasige Augen schauen mich aus einem runzligen Gesicht an. Der Whiskygeruch aus der Hütte des Doktors steigt mir erneut in die Nase. Das schüttere Haar des Mannes bedeckt ein alter, schief sitzender Trilby – jener kleine energische Hut für lange Feste und ausschweifende Feiern, der überall in Indien mit Stolz getragen wird. Gemeinsam lehnen wir an einem Pfosten. Er selbst spiele ja selten, erzählt mir der Alte mit vom Kwai rot gefärbten Zähnen. Vielleicht ein oder zwei Mal im Monat. Vor einiger Zeit habe er von einem Tiger geträumt und sei am nächsten Tag sofort zu einem Buchmacher gelaufen. Er habe auf die 99 gesetzt, die Zahl des Tigers, sei so sicher gewesen und habe dennoch verloren – 100 Rupien auf und davon. „Gambling“, so sagt er, „ist nur etwas für Geschäftsmänner, nicht für die einfachen Leute.“ Dann berichtet er von den Anzugträgern aus den Casinos, die im feinen Zwirn horrende Summen setzten. Seine Stimme klingt nach Abscheu, seine Augen glitzern vor Bewunderung. Teer ist lukrativ. Nach oben gibt es keine Grenze. Gelegentlich setzen Glücksritter mehrere hunderttausend Rupien auf eine einzige Nummer. Sogar aus dem 3.000 Kilometer entfernten Mumbai trudeln Wetteinsätze per Telefon ein. Millionen Rupien werden jeden Tag verspielt. Die letzten Sekunden bis zum ersten Schuss der zweiten Runde verstreichen ebenso, wie die Chance auf eine allerletzte Wette. Auf ein Signal, das ich irgendwie verpasst habe, schwirren plötzlich dutzende Pfeile durch die Luft. Die meisten schlagen ins Ziel, andere in den Erdwall dahinter. Ununterbrochen feuern die Schützen, nur gelegentlich innehaltend, um das Ziel neu zu fokussieren. Der Bogenschütze vor uns, ein kleiner, breitschultriger Mann mit gutmütigen Zügen, kommt aus dem Rhythmus. Während seine ersten Pfeile allesamt das Ziel treffen, verschießt er nun ausnahmslos. Erst zwei, dann drei, dann fünf Pfeile. In dieser Schwächephase hilft nur noch absetzen, durchatmen, neu starten. Und tatsächlich trifft er danach regelmäßiger. Aus dutzenden Pfeilen werden hunderte und noch immer zischen die Geschosse dem Ziel entgegen, bohren sich rasend in den Zylinder. Die Anspannung im Halbrund ist greifbar. Niemand spricht, stattdessen starren alle Augenpaare angestrengt dem Ziel entgegen, Schweißperlen benetzen die Stirn, zusammengepresste Hände zerknittern Wettscheine. Das Spektakel dauert gerade einmal fünf Minuten. Dann schnellt ein Leinentuch in die Höhe, verdeckt das Ziel vor nachträglich abgefeuerten oder verirrten Pfeilen.Einen Pfeil am Glück vorbei
Doch die Anspannung liegt noch immer schwer in der Luft. Kaum jemand wagt zu sprechen. Fünf Offizielle übernehmen jetzt die Verantwortung. Sie zählen nacheinander die Pfeile, die das Ziel getroffen haben. Ganz nah um sie herum hocken die Schützen zusammen mit dem noch immer hoch konzentrierten Publikum. Gemeinsam betrachten sie jede Bewegung der Punktrichter. Nach elend langen Minuten sind die Geschosse ausgezählt. Das Ergebnis steht fest: Glücklich, wer auf die 71 wettete. Wir können es dagegen nicht fassen. Es ist keine zwanzig Minuten her, da standen wir vor einem der Buchmacher und setzten, mehr zum Spaß, aber dennoch siegesgewiss 50 Rupien auf die Zahl unseres Vertrauens: die 72. Es ist ein einziger Pfeil, der uns vom 60-fachen Gewinn trennt. 3.000 Rupien! Was wir damit hätten anstellen können: zum Beispiel 40 Thalis essen oder 300 Chai trinken. Die Bogenschusslotterie ist vorbei. Langsam verstreut sich die Menge ohne weitere Worte zu verlieren. Kein Fluchen, keine Jubelschreie. Geisterhaft leert sich der Schießplatz. Still und unaufgeregt strömen die Männer zurück in die Stadt, zu ihrer Arbeit, zu ihren Familien, ins nächste Biergeschäft. Die Pfeile, bereits nach Farben sortiert, werden den entsprechenden Schützen und ihren Vereinen, die aus den umliegenden Dörfern anreisen, zurückzugeben. Jeder Schütze erhält 300 Rupien für den Tag. Aber schon Morgen sind sie wieder da; bereit den Träumen der Wagemutigen ihren Dienst zu erweisen.CategoriesIndien