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Die unge­schminkte Hure

Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal öffent­lich zuge­ben würde, aber ohne fol­gende musi­ka­li­sche Beichte, wäre die­ser Text wohl nicht ent­stan­den. Also sei’s drum, wir haben doch alle unsere Lie­der-Lei­chen im Kel­ler unse­rer Play­list. Auf mei­nem MP3-Player gibt Phar­rell nach sei­ner Happy-Hymne den Staf­fel­stab direkt an Rein­hard Mey wei­ter, der herz­er­wei­chend von sei­ner Liebe zum Ende der Sai­son chan­so­niert. Ja, Rein­hard Mey, jetzt ist es raus. Danach kom­men übri­gens wie­der die Red Hot Chili Pep­pers, aber zurück zu mei­ner unver­hoff­ten musi­ka­li­schen Inspiration.

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♫  „Die Tage wer­den kür­zer und die Schat­ten wer­den länger.
Und Wild­fremde erzähl‘n dir ihren gan­zen Lebenslauf.“ ♫

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Ich stehe an der stür­mi­schen Stufe vor mei­nem ers­ten Win­ter in einer Stadt, die wie keine andere für Som­mer, Sonne und Flip Flops steht. Und ich frage mich, was bleibt, wenn man Syd­ney das Strand­le­ben nimmt, und nach sechs Mona­ten auf ein­mal wie­der das Schuhe bin­den ler­nen muss. Auch in einer Stadt mit rund 150 Strän­den ist der Som­mer irgend­wann zu Ende, und wenn sich in Syd­ney die Blät­ter fär­ben, und ab und zu ein Palm­we­del vom Him­mel fällt, ver­las­sen die Back­pa­cker in Scha­ren und bunt­be­mal­ten Bus­sen die Stadt.

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♫ „An den ver­wais­ten Fah­nen­mas­ten klop­fen lose Leinen
Und irgendwo dort drü­ben schlägt ein Gar­ten­tor im Wind.
Wie all diese Geräu­sche deut­li­cher und lau­ter scheinen,
Wenn erst die lau­ten Stim­men der Sai­son ver­klun­gen sind!“ ♫

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Als das Ther­mo­me­ter eines Tages tat­säch­lich unter die magi­sche 20 Grad Marke fällt, kommt das nach fünf Mona­ten über 30, teil­weise über 40 Grad einem Käl­te­schock gleich. Hei­zun­gen sucht man in Aus­tra­lien ver­geb­lich und so sit­zen wir abends in trau­ter Runde um den Küchen­tisch und wär­men unsere Hände am Toas­ter, der sich als per­fek­ter Mini­ofen ent­puppt. Wir schwel­gen in war­men Erin­ne­run­gen an einen brül­lend hei­ßen Som­mer­tag, der sämt­li­che Tee­lich­ter ver­flüs­sigt, meine Kopf­hö­rer geschmol­zen und den Feu­er­mel­der gegrillt hat. Es ist zuge­ge­be­ner­ma­ßen ein schö­nes Gefühl, sich nachts mal wie­der in eine Decke zu kuscheln, wäh­rend man nor­ma­ler­weise kleb­rig und tran­spi­rie­rend jeg­li­chen Kör­per-Tex­til­kon­takt vermeidet.

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♫ „Einen Som­mer lang bist du im Schuh­la­den um ein Paar her­um­ge­stri­chen: Unver­schämt teuer, doch gefal­len würde es dir schon,Seit ges­tern Abend ist das alte Preis­schild durchgestrichen:
Ich liebe das Ende der Saison!“ ♫

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In der Apo­theke wird mir beim Kauf von Son­nen­creme gleich noch eine Grippe-Imp­fung ans Herz gelegt, und ich tau­sche das erste Mal den Stroh­hut gegen meine fast ver­ges­sene Woll­mütze, die ich eupho­risch aus den Untie­fen mei­nes Ruck­sacks her­vor­krame. Mit der Hitze sind auch die kame­ra­be­han­ge­nen Tou­ris­ten mit den Ten­nis­so­cken in der San­da­lette aus dem Stadt­bild ver­schwun­den, und im Bota­ni­schen Gar­ten muss ich nicht mehr stän­dig meine Lieb­lings­wiese für eine der unzäh­li­gen Hoch­zei­ten räu­men, oder schwit­zend alle halbe Stunde dem Schat­ten hin­ter­her robben.

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♫ „Wenn jetzt die Sonne scheint, dann ist das nicht mehr selbstverständlich,
Und du nimmst jeden Strahl ein­zeln und dank­bar hin.
Der Regen hat die Kreide von den Schrift­ta­feln gewaschen,
Wer jetzt noch hier­her kommt, der weiß ja sowieso Bescheid.“ ♫

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Wer jetzt noch hier ist, liebt die Stadt, und ist gekom­men, um zu bleiben.
Für die einen ist Syd­ney eine glit­zernde Hure, die nicht mit dem kul­tu­rell ambi­tio­nier­tem Mel­bourne mit­hal­ten kann.

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Ursprüng­lich wollte ich an die­ser Stelle einen Text über den ewi­gen Städ­te­ver­gleich Syd­ney ver­sus Mel­bourne schrei­ben, aber ich habe mein Herz vor vie­len Jah­ren an die glit­zernde Hure ver­lo­ren, daher wäre die­ser Ver­gleich nicht beson­ders objek­tiv gewor­den. Und dann kam Rein­hard Mey, wäh­rend ich in mei­nem kuba­ni­schen Lieb­lings-Kaf­fee um die Ecke tat­säch­lich auf Anhieb einen der fünf Tische bekomme.

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♫ “Der heiß­um­kämpfte Tisch, den nur die Halb­göt­ter bekamen,
Ist nicht mehr heiß­um­kämpft und plötz­lich für dich frei.
Und dein Gesicht hat end­lich für den Kell­ner einen Namen,
Du bist auf ein­mal wich­tig und nicht nur Tisch Num­mer drei!“ ♫

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Für mich ist Syd­ney damals wie heute eines der lebens­wer­tes­ten Fleck­chen Erde auf die­sem Pla­ne­ten. Meer und Land lie­gen wild umschlun­gen bei­ein­an­der, und sel­ten habe ich die archi­tek­to­ni­sche Ver­bin­dung von Natur und Stadt in so respekt­vol­ler Weise erfah­ren. Die Oper ist zwar in Wahr­heit beige statt weiß, aber wenn sich mit Ein­bruch der Dun­kel­heit die Flug­hunde im Bota­ni­schen Gar­ten erhe­ben und in schwar­zen Schwär­men den Him­mel ver­dun­keln, schei­nen die Spit­zen der Oper, wie leuch­tende Schwer­ter der Gefahr zu trot­zen. Die impo­sante Har­bour Bridge wirft sich schüt­zend über die Bucht und wirkt wie ein natür­li­cher Rah­men für eine Sze­ne­rie, die mir jedes Mal einen inne­ren Seuf­zer entlockt.

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♫ „Nichts ist mehr so wie‘s war, und du kannst spür‘n: Alles ist endlich.
Auch wenn du‘s nicht ver­stehst, ahnst du doch: Es hat sei­nen Sinn.
„Und übri­gens, die Runde geht auf mich!“ hör‘ ich mich sagen.
Ich liebe das Ende der Saison!“ ♫

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Der Sturm fegt eine ver­ges­sene Calippo-Eis Packung über den Strand, der Him­mel ver­mit­telt eine beängs­ti­gend fas­zi­nie­rende End­zeit-Stim­mung, das Meer über­gibt sich grol­lend und spu­ckend auf den Algen­ver­han­ge­nen Sand, und die sonst so heiß umgarn­ten Life­guards sind schon lange nicht mehr zur Arbeit erschie­nen. Die glit­zernde Hure liegt unge­schminkt vor mir und scheint skep­tisch zu fra­gen, ob ich sie immer noch attrak­tiv finde. Ich schlage den Kra­gen mei­ner Jacke hoch, ver­grabe die Hände in den Taschen, lächle in den Wind und kaufe einen neuen Toaster.

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♫  „Und denk‘ dabei, ich stünde gern in fer­nen Tagen,
und sähe auf die Wege mei­nes Lebens und könnt‘ sagen:
Ich liebe das Ende der Saison!“ ♫

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♫ Rein­hard Mey „Ich liebe das Ende der Saison“

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