Gua­te­mala- 23. Juni 2019

Hier sind wir also: in Mit­tel­ame­rika. Nach unse­rem Darien Gap Aben­teuer geht es von Panama aus per Anhal­ter jetzt wei­ter durch Costa Rica, Nica­ra­gua, Hon­du­ras und El Sal­va­dor nach Guatemala.

Hin­ter der Grenze auf nica­ra­gua­ni­scher Seite wer­den wir von Lorenzo ein­ge­la­den. Er hat gerade Fei­er­abend und über­haupt kei­nen Stress irgendwo hin zu müs­sen wie es scheint. Denn mit gro­ßer Begeis­te­rung schlägt er vor, uns die Stadt Gra­nada zu zei­gen. Wegen ihrer kolo­nia­len Archi­tek­tur war die Stadt mal ein belieb­tes Aus­flugs­ziel, jetzt sieht es hier ziem­lich leer aus. „Hier ist schon eine Weile nichts mehr los.“, erzählt uns Lorenzo. „Seit den Unru­hen im letz­ten Jahr blei­ben die Besu­cher aus.“

 

„Von Reisen per Anhalter wird (insbesondere Frauen) dringend abgeraten“

Hier sind wir also, in Mit­tel­ame­rika. Von die­sem Abschnitt des Kon­ti­nents hat­ten wir eine ganze Menge Hor­ror­ge­schich­ten gehört. Nica­ra­gua, Gua­te­mala, Hon­du­ras, El Sal­va­dor – allein die Namen rufen bei vie­len schon ein Unwohl­sein hervor.

„Was? Ihr wollt durch Mit­tel­ame­rika tram­pen? Nehmt doch lie­ber den Bus!“, gaben sie uns viele Leute denen wir unter­wegs begeg­net waren als Rat­schlag mit auf den Weg.

Und als wir dann noch einen Blick auf die Web­seite des Aus­wär­ti­gen Amtes gewor­fen hat­ten und dabei auf Aus­sa­gen wie „Von Rei­sen per Anhal­ter wird (ins­be­son­dere Frauen) drin­gend abge­ra­ten. Aber auch die Benut­zung von Taxis und Über­land­bus­sen ist nicht unge­fähr­lich“ und Im Falle eines Über­fal­les sollte kein Wider­stand geleis­tet wer­den, da die Hemm­schwelle der Täter nied­rig ist.“ oder „ Klä­ren Sie Ihre Rei­se­route vor Rei­se­an­tritt über die gua­te­mal­te­ki­sche Tou­ris­mus­be­hörde ab und erbit­ten Sie ggf. Sicher­heits­be­glei­tung.“ gesto­ßen sind, haben wir uns gefragt, was es mit all die­sen War­nun­gen tat­säch­lich auf sich hat.

Es scheint, als ten­die­ren wir Men­schen gerne dazu, uns auf das Nega­tive, Schreck­li­che und Häss­li­che zu kon­zen­trie­ren und davon schnel­ler und leich­ter über­zeugt zu sein als von den posi­ti­ven Geschich­ten. Viel­leicht liegt es an der selek­ti­ven Bericht­erstat­tung der Medien, dem nicht erforsch­ten Unbe­kann­ten, den Ängs­ten der Indi­vi­duen oder Sen­sa­ti­ons­lust wodurch „Wahr­hei­ten“ kre­iert wer­den, die oft weit von der Rea­li­tät ent­fernt sind.

Denn oft sieht es vor Ort näm­lich doch ganz anders aus. Und das war auch unsere Erfah­rung auf dem Weg durch Mittelamerika.

 

„Die Schreckensbilder aus dem letzten Jahr haben sich bei vielen in die Köpfe eingebrannt, auch wenn es heute wieder ruhig ist.“

Wir fah­ren wei­ter durch einen lan­gen Park an des­sen Ende ein Boots­ver­leih liegt. Von hier aus kann man durch die Man­gro­ven­wäl­der und zahl­rei­chen Insel­chen paddeln,

Gelang­weilt sit­zen ein paar Boots­ver­mie­ter auf ihren Plas­tik­stüh­len. Vor ihnen am Dock schau­keln leere Ruder­boote auf den klei­nen Wel­len. Kaum sind wir aus­ge­stie­gen, stür­zen die Män­ner auf uns zu, um uns eine Boots­tour zu ver­kau­fen. Mit erwar­tungs­vol­len Gesich­tern schauen sie uns an. „No Gra­cias, muy ama­ble“ – nein danke, sehr lieb von Euch – ent­geg­nen wir den Män­nern, die sich inzwi­schen in einem Kreis um uns herum ver­sam­melt haben. Bei die­sen Wor­ten nicken sie uns trau­rig zu und schlur­fen wie­der zu ihren Plas­tik­stüh­len zurück.

„Die Schre­ckens­bil­der aus dem letz­ten Jahr haben sich bei vie­len in die Köpfe ein­ge­brannt, auch wenn es heute wie­der ruhig ist. Das wirkt sich vor allem auf die Geschäfte der Klein­un­ter­neh­men aus.“ erklärt Lorenzo als wir wie­der im Auto sitzen.

 

 

Eine Nacht im Restaurant

All­mäh­lich fängt es an zu däm­mern. Da es hier in Gra­nada kei­nen ruhi­gen Ort zum Zel­ten gibt, fah­ren wir noch ein Stück mit Lorenzo aus der Stadt raus, bis wir zu einem gro­ßen Natur­schutz­ge­biet kommen.

Bevor wir uns auf den Weg zu dem See machen, wol­len wir in einem Restau­rant noch unsere Was­ser­fla­schen auf­fül­len. Als wir die Restau­rant­be­sit­ze­rin nach dem Weg fra­gen, schaut sie uns mit weit auf­ge­ris­se­nen Augen an. „Ihr wollt doch nicht etwa am See zel­ten?!“ Vor ein paar Jah­ren sei dort eine Tou­ris­tin über­fal­len wor­den. Weil sie sich Sor­gen um unsere Sicher­heit macht, schlägt sie uns vor, das Zelt bei ihr im Restau­rant auf der Ter­rasse aufzuschlagen.

 

 

Kleiner Abstecher in die Geschichte Nicaraguas vom Beifahrersitz aus

Zwi­schen Tischen und Stüh­len bauen wir unser Nacht­la­ger auf, ver­brin­gen eine ruhige Nacht und tram­pen am nächs­ten Mor­gen wei­ter nach Mana­gua, der Haupt­stadt von Nica­ra­gua. Car­los, ein alter Mann mit wachen Augen sam­melt uns ein.

Wir fah­ren die breite Haupt­straße ent­lang Rich­tung Zen­trum der Stadt und fra­gen Car­los, was im letz­ten Jahr zu den Unru­hen in Nica­ra­gua geführt hat. „Als Ortega, unser Prä­si­dent, bekannt gab die Ren­ten zu kür­zen, löste das gro­ßes Empö­ren in der Bevöl­ke­rung aus. Die Leute ver­sam­mel­ten sich lan­des­weit um auf den Stra­ßen zu demons­trie­ren. Die Ant­wort der Regie­rung war der Ein­satz von Poli­zei, die mit schar­fen Schuss­waf­fen die Demos ein­däm­men soll­ten. Dabei wur­den meh­rere Men­schen – ich glaube es waren fünf­und­zwan­zig – getö­tet. Das löste eine noch grö­ßere Pro­test­welle aus und am Ende gab es mehr als 400 Tote.“ erzählt er.

Wie sich das ent­wi­ckelt habe, wol­len wir wis­sen. „Hui, da muss ich jetzt ein biss­chen aus­ho­len“ und Car­los beginnt zu erzählen:

Von dem in der Zeit des kal­ten Krie­ges durch die USA geführ­ten  „Kamp­fes gegen den Kom­mu­nis­mus“, der zu der Insta­bi­li­tät des Lan­des bei­getra­gen hat. Er erzählt von dem durch die USA ein­ge­setz­ten Dik­ta­tor Somoza, dem Bür­ger­krieg im Jahr 1977  und der links­ge­rich­te­ten san­di­nis­ti­schen Revo­lu­tion, dem 1988 durch Ronald Rea­gan geführ­ten Con­tra-Krieg, in dem durch die US-Regie­rung finan­zierte Para­mi­li­ärs ter­ro­ris­ti­sche Über­fälle auf die Land­be­völ­ke­rung unter­nah­men, Minen leg­ten, die Ernte ver­brann­ten und Vieh stah­len, der ers­ten Prä­si­dent­schaft Orte­gas und sei­ner Wie­der­wahl im Jahr 2006.

Die poli­ti­sche Situa­tion in Mit­tel­ame­rika bzw. ganz Latein­ame­rika ist kom­plex und ohne den gesam­ten geschicht­li­chen Hin­ter­grund nicht ein­fach zu ver­ste­hen. In den ein­ein­halb Jah­ren, die wir hier auf dem Kon­ti­nent bereits unter­wegs sind, erle­ben wir die Lebens­rea­li­tä­ten und Geschich­ten der Men­schen, die nicht mit oben an der Spitze ste­hen, die mit den direk­ten Kon­se­quen­zen der jah­re­lan­gen Aus­beu­tung und Zer­stö­rung der Natur zu kämp­fen haben, an den Rand der Gesell­schaft gedrückt oder von die­ser negiert werden.

Es wäre zu ein­fach, die aktu­el­len poli­ti­schen Gege­ben­hei­ten, bestehende soziale Ungleich­hei­ten und hohe Kri­mi­na­li­täts- und Gewalt­ra­ten aus­schließ­lich der Unfä­hig­keit der Regie­ren­den oder der Bevöl­ke­rung zuzu­schrei­ben. Die Kolo­ni­al­zeit und die bis heute anhal­ten­den post­ko­lo­nia­len Struk­tu­ren, die wirt­schaft­li­chen Inter­es­sen west­li­cher Indus­trie­na­tio­nen und die impe­ria­lis­ti­sche Poli­tik der USA haben in der gesam­ten Region ihre Spu­ren hinterlassen.

 

„Rennt in zwei verschiedene Richtungen, damit wenigstens eine von Euch noch die Chance hat zu überleben.“

Von Mana­gua aus wer­den wir von einer Truppe Män­nern ein­ge­sam­melt, die gerade auf dem Weg zu einem Hah­nen­kampf sind. Einer von den Män­nern, der Bei­fah­rer, ist stink­be­sof­fen. Schweiß­nasse Haar­sträh­nen kle­ben an sei­ner fet­ti­gen Stirn und trä­nende, von roten Adern durch­zo­gene Augen tre­ten aus sei­nem Schä­del hervor.

Er sieht aus wie vom Teu­fel beses­sen und dreht sich vom Bei­fah­rer­sitz zu uns nach hin­ten um seine dia­bo­li­schen Pro­phe­zei­un­gen zu pre­di­gen: „El Sal­va­dor ist gefähr­lich, viel zu gefähr­lich um dort durch zu rei­sen. Stellt Euch dar­auf ein, dass sie euch da über­fal­len und aus­rau­ben wer­den. Und wenn das pas­siert, dann lauft so schnell ihr könnt. Lauft weg. Rennt in zwei ver­schie­dene Rich­tun­gen, damit wenigs­tens eine von Euch noch die Chance hat zu überleben.“

Das sagt er mit einer erns­ten, rau­chi­gen Stimme und seine blut­un­ter­lau­fene wäss­ri­gen Augen schauen dabei wahn­sin­nig in unsere Rich­tung. Der Mann schafft es ziem­lich gut, uns ein mul­mi­ges Gefühl zu ver­mit­teln. Ich weiß aller­dings nicht, ob es seine eigene Prä­senz oder die dunk­len Vor­her­sa­gen sind, die das Gefühl aus­lö­sen. Nach einer kur­zen Fahrt stei­gen wir aus.

Wir haben uns gerade von die­ser etwas merk­wür­di­gen Situa­tion erholt als ein alter Mann auf sei­nem klapp­ri­gen Fahr­rad vor­bei kommt und ruft: „Hola Chi­cas, a donde van?“ – „Hon­du­ras y despues El Sal­va­dor“ – „ Ayyyy dann viel Glück. Gott beschütze Euch!“.

 

Geteilte Angst ist halbe Angst

Von unse­rem Stand­punkt aus sind es nur noch wenige Kilo­me­ter bis zum Grenz­über­gang nach Hon­du­ras und kurz vor Abend­däm­me­rung wer­den wir von einem net­ten Ehe­paar ein­ge­sam­melt, das in dem klei­nen Städt­chen vor der Grenze Ver­wandte besu­chen möchte. Mit Ein­tritt der Dun­kel­heit errei­chen wir die Grenz­an­lage und lau­fen auf das Gelände, um nach einem Schlaf­platz Aus­schau zu halten.

In einem metal­le­nen Con­tai­ner wo die erste-Hilfe Sta­tion unter­ge­bracht ist, sto­ßen wir auf die Kran­ken­schwes­ter Mari­ella, die heute für die Nacht­schicht ein­ge­tra­gen ist.

Wir set­zen uns zu ihr und reden über dies und jenes. Manch­mal fühle sie sich ein­sam und sie gru­selt sich nachts im Con­tai­ner, ver­rät sie uns. Und als wir sie fra­gen ob wir neben dem Häus­chen unser Zelt auf­schla­gen kön­nen, nimmt sie unse­ren Vor­schlag freu­dig an.

Der Con­tai­ner steht etwas abseits und ist nur durch das grelle Licht der Bau­stel­len­strah­ler erhellt. Strom gibt es kei­nen. Und wenn ein Not­fall zu behan­deln wäre? „Dann habe ich eine kleine Lampe hier – aber wirk­lich nur für den Notfall!“

 

„Ich habe keine Horrorgeschichten zu erzählen, da muss ich Euch enttäuschen“

Wir ver­brin­gen eine ruhige Nacht und über­que­ren am Mor­gen die Grenze nach Hon­du­ras. Hier und da gibt es ein paar kleine Geschäfte, die Men­schen lächeln uns freund­lich zu. Nach den gan­zen nega­ti­ven Vor­her­sa­gen sind wir doch ein biss­chen ner­vös, wol­len uns davon aber nicht abschre­cken las­sen. Als wir unsere Stem­pel im Pass haben, lau­fen wir ein Stück an der Straße ent­lang und war­ten auf ein Auto, dass uns mit­neh­men wird.

Schon wenige Minu­ten spä­ter hält ein LKW-Fah­rer an. Ein alter, net­ter Mann, der bis nach Gua­te­mala durch­fah­ren will. Er sagt, dass er schon seit mehr als drei­ßig Jah­ren die selbe Stre­cke durch Mit­tel­ame­rika fährt. Etwas sen­sa­ti­ons­lus­tig wol­len wir ihm die Hor­ror­ge­schich­ten ent­lo­cken, die er als LKW- Fah­rer hier bestimmt bereits erlebt haben muss. Doch er ent­geg­net uns nur schul­ter­zu­ckend: „Ne, bis­her ist noch nie was pas­siert. Ich wurde weder über­fal­len noch hatte ich irgend­wel­che unan­ge­neh­men Begeg­nun­gen. Da muss ich euch enttäuschen“.

 

„Es freut mich riesig, dass ihr hier seid!“

An der Grenze zu El Sal­va­dor stei­gen wir aus, weil wir das Land gerne lang­sam durch tram­pen und ein biss­chen ken­nen­ler­nen wol­len. Von hier aus nimmt uns eine Gruppe von Non­nen hin­ten auf dem Pick-Up mit und wir fah­ren bis zur nächs­ten Groß­stadt. Bei einer net­ten Frau, die am Stra­ßen­rand ihren klei­nen Essens­stand auf­ge­baut hat, pro­bie­ren wir ‚Pupu­sas‘- mit Käse gefüllte Maiz­tor­til­las – ein Natio­nal­ge­richt in El Salvador.

Wir wur­den mit­ten in der Stadt raus gelas­sen, also lau­fen wir die breite Haupt­straße ent­lang und hal­ten dabei ganz bei­läu­fig, ohne wirk­lich damit zu rech­nen, dass uns mit­ten in der Stadt jemand ein­sam­meln wird, unsere Dau­men raus. Kaum eine Sekunde spä­ter hält ein Trans­por­ter mit gro­ßer, offe­ner Lade­flä­che an, auf der schon eine Gruppe von Arbei­tern sitzt. „Wohin geht´s?“ – Rich­tung Küste! „Alles klar, springt auf!“
Die Män­ner kom­men gerade vom Bau und sind auf dem Heim­weg. Sie lächeln und freund­lich zu, wid­men sich dann wie­der ihren eige­nen Gesprä­chen. Der Fah­rer scheint es eilig zu haben. Wir rau­schen durch die Berge, die warme Abend­luft streift unsere Haut.

Eine Weile ver­geht, bis der Trans­por­ter anhält und der Fah­rer sei­nen Kopf aus dem Fens­ter lehnt und uns zuruft „Wir fah­ren gera­de­aus wei­ter. Hier könnt ihr abstei­gen, diese Straße führt wei­ter Rich­tung Küste!“ dabei streckt er sei­nen Arm aus und deu­tet auf die kleine Straße, die nach links abgeht.

Kurz dar­auf sprin­gen wir von der Lade­flä­che und gehen zu Fuß noch ein Stück in die nächste Klein­stadt, die ein paar Kilo­me­ter wei­ter vor uns liegt. Dort ange­kom­men, ruhen wir uns auf einer klei­nen Stein­mauer aus, hin­ter uns auf dem Platz ist eine Horde Kin­der in ein lus­ti­ges Hüpf­spiel ver­tieft. Die Leute in dem Dorf sind freund­lich und neu­gie­rig zu erfah­ren, was uns hier hin geführt hat.

Da taucht wie aus dem Nichts ein Mann auf. „Das sind Freun­din­nen von mir. Ich warte schon seit zwei Jah­ren dar­auf, dass sie end­lich mal hier her zu Besuch kom­men.“ sagt er kur­zer­hand zu der Frau, mit der wir in einer Unter­hal­tung ver­tieft waren. Dann wen­det er sich zu uns „Es freut mich rie­sig, dass ihr hier seid!“ Isaac wirkt wie ein Komi­ker und ist uns auf den ers­ten Blick sehr sym­pa­thisch. Schel­misch grinst er uns zu und wir stei­gen ein in das impro­vi­sierte Schau­spiel. Für den Nach­mit­tag sind wir nun also seine Bekann­ten aus Deutsch­land, auf die er schon seit lan­ger Zeit gewar­tet hat. Er stellt uns bei fast allen Dorfbewohner*innen vor, unter­hält uns mit lus­ti­gen, fan­tas­ti­schen Geschich­ten und gemein­sam klet­tern wir  auf den gro­ßen Aus­sichts­turm, der in der Dorf­mitte steht.

 

„Vida loca“- nehmt Euch vor den tätowierten Männern in Acht!

Am nächs­ten Mor­gen wol­len wir wei­ter Rich­tung Küste. Zwei Män­ner, José und Car­los, die gerade auf dem Weg zum Flug­ha­fen sind, laden uns ein. Wir sind uns alle auf Anhieb super sym­pa­thisch. José lebt seit ein paar Jah­ren in den USA und ist gerade auf dem Rück­weg dort­hin. „Die nega­tive Wahr­neh­mung von El Sal­va­dor ist vor allem durch die soge­nann­ten „Maras“ geprägt. Das sind Ban­den, die mit Waf­fen­han­del, Pro­sti­tu­tion, Dro­gen­han­del, Auto­schie­be­rei, Men­schen­han­del, Dieb­stahl und Erpres­sung Geld machen. Morde zwi­schen den Ban­den sind an der Tages­ord­nung.“ erklärt uns José.

„Die Mit­glie­der tra­gen ganz auf­fäl­lige Täto­wie­run­gen, daran kann man sie erken­nen. Es gibt zwei große Ban­den in El Sal­va­dor- die Mara 18 und Mara Sal­va­t­ru­cha. Wenn ihr Män­ner mit täto­wier­ten Gesich­tern, einer täto­wier­ten „18“oder „MS“ seht, rate ich euch, da am bes­ten nicht ins Auto zu stei­gen.“ fügt Car­los hinzu.

„Was viele aber nicht wis­sen ist, dass sich die ers­ten Mara-Gangs in den USA gegrün­det haben. Das waren Kids aus Süd- und mit­tel­ame­ri­ka­ni­schen Migran­ten­fa­mi­lien die in den USA unter ihrer Armut, Arbeits­lo­sig­keit und Dis­kri­mi­nie­rung und den damit ver­bun­de­nen gerin­gen Zukunfts­chan­cen zu lei­den hat­ten. Irgend­wann begann die US- Ame­rik­an­si­che Regie­rung dann, auch gering straf­fäl­lig gewor­dene Flücht­linge in ihre Hei­mat­län­der abzu­schie­ben und da stan­den ihre Zukunfts­chan­cen natür­lich auch nicht bes­ser. Die Gang­mit­glie­der mach­ten dann wei­ter wie zuvor und sicher­ten sich mit­tels Macht- und Gewalt­struk­tu­ren, mit denen sie ihre Wohn­vier­tel regier­ten, ihr Über­le­ben.“ ver­tieft José das Thema.

„Ihr Über­le­ben im mate­ri­el­len Sinne. Es ist ein täg­li­cher Kampf, der oft auch mit dem Leben bezahlt wird“ ergänzt Carlos.

 

Verkehrte Welt: wir bekommen kein Geld geklaut, sondern geschenkt

Gegen 10 Uhr las­sen uns die bei­den an einer Kreu­zung aus, von der aus sie zum Flug­ha­fen und wir wei­ter zur Küste fah­ren wer­den. „Es war eine Freude euch ken­nen­ge­lernt zu haben! Alles Gute für die wei­tere Reise.“ Mit die­sen Wor­ten streckt José mir die Hand ent­ge­gen, öff­net sie und hält mir einen 20 Dol­lar­schein vor die Nase: „Wenn der Flug mir nicht im Rücken sit­zen würde, hätte ich Euch jetzt zum Früh­stück ein­ge­la­den. Also bitte, nehmt den Schein und geht damit was lecke­res essen!“ Mit schüch­ter­ner Über­wäl­ti­gung nehme ich sein Geschenk an.

Erst als die bei­den mit einem lau­ten Hupen davon rau­schen, rea­li­siere ich, was gerade vor sich gegan­gen ist. Wir hat­ten uns schon inner­lich dar­auf ein­ge­stellt, dass uns hier in El Sal­va­dor womög­lich etwas geklaut wer­den könne, aber nicht, dass wir Geld zum Früh­stü­cken geschenkt bekom­men wür­den. Ver­träumt lächle ich in die Rich­tung, in der die bei­den vor ein paar Sekun­den ver­schwun­den waren und mur­mel ein lei­ses „Danke…“

Wir früh­stü­cken aus­gie­big in einem klei­nen Restau­rant, in dem das Essen für beide aller­dings nur ein vier­tel von dem geschenk­ten Geld kos­tet, stel­len uns an den Stra­ßen­rand und haben inner­halb einer Sekunde wie­der einen Hitch. Hin­ten auf der Lade­flä­che rau­schen wir durch die hei­ßer wer­dende Mor­gen­luft. Die Sonne brennt bereits unbarm­her­zig auf uns herab. Da kommt es uns ganz gele­gen, dass wir, als wir raus gelas­sen wer­den, auch an die­ser Kreu­zung nur fünf Minu­ten ste­hen müs­sen, bis wir wie­der ein­ge­sam­melt werden.

Wir sind uns schnell einig: Was das Tram­pen betrifft, bricht Mit­tel­ame­rika alle Rekorde. Sel­ten ste­hen wir län­ger als 5 Minu­ten am Stra­ßen­rand, bevor uns wie­der jemand einsammelt.

 

‚El Tunco‘ und ein Häusschen im Grünen

Von ein paar Leu­ten hat­ten wir das kleine Küs­tenört­chen „El Tunco“ emp­foh­len bekom­men. Dort stei­gen wir aus. Auch hier bie­tet sich wie­der das glei­che Bild wie in Gra­nada, der Kolo­ni­al­stadt in Nica­ra­gua. Cafés und Bars, Schmuckverkäufer*innen am Stra­ßen­rand, Surf­schu­len – aber keine Besucher*innen. Das Dörf­chen ist wie leer gefegt. Die nega­tive Fama hat auch hier ihre Folgen…

Am Abend hal­ten wir Aus­schau nach einem Plätz­chen zum über­nach­ten. Zuerst wol­len wir am Fluss schla­fen, der direkt ins Meer mün­det, dann gehen wir doch noch zu Fuß eine ver­las­sene Berg­straße hin­auf- hier wer­den uns die Stech­mü­cken nicht so über­fal­len wie in Was­ser­nähe. „Huuuhh ob wir das über­le­ben?“ schmun­zeln wir uns zynisch zu. Nach ein paar Minu­ten errei­chen wir eine Bau­stelle. Das kleine Beton­häus­chen, von dem aus wir einen groß­ar­ti­gen Aus­blick aufs Meer haben, bie­tet eine ein­la­dende kleine Ter­rasse, auf der wir für heute Nacht unser Zelt aufschlagen.

 

Eine Einladung ins Farmhaus

Es ver­ge­hen noch ein paar Tage, mit vie­len schö­nen Begeg­nun­gen, bis wir Gua­te­mala erreichen.

Gegen fünf Uhr Nach­mit­tags kom­men wir in dem Grenz­städt­chen Pedro de Alva­rado an. Zum ers­ten Mal wird es uns hier ein biss­chen mul­mig zumute, denn es scheint, als wür­den recht viele Per­so­nen bewaff­net her­um­lau­fen. Ent­we­der steckt ein Klein­ka­li­ber im Hosenbnd, ein Jagd­ge­wehr hängt läs­sig über der Schul­ter oder Mache­ten ste­cken in einer leder­nen Scheide, die um die Hüfte gebun­den ist. Mit miss­traui­schen, skep­ti­schen Bli­cken wer­den wir beäugt, als wir mit den Ruck­sä­cken durch die Sied­lung lau­fen und uns an der Aus­fahrt zum Tram­pen hin­stel­len. Hier war­ten wir einige Stun­den, län­ger als gewöhnlich.

Gegen­über von uns ist an einer der Beton­wände mit schwar­zer Farbe „hos­pe­daje“(Gäs­te­haus) gekrit­zelt wor­den. Die­ses her­un­ter­ge­kom­mene, ver­git­terte, kleine Beton­häus­chen, vor des­sen Ein­gang es sich schon eine Horde Stra­ßen­hunde bequem gemacht hat, könnte unsere Not­un­ter­kunft für diese Nacht wer­den. Zel­ten ist hier in die­sem Dorf viel­leicht keine so gute Idee.

Dann aber hält doch noch ein Auto an. Figlias und sein Cou­sin Ruán laden uns ein und neh­men uns noch ein Stück mit aus dem Dorf raus. Am Spie­gel klemmt ein ver­bli­che­nes Fami­li­en­foto, seine Frau und Toch­ter sind dar­auf zu sehen. Kaum haben wir ein paar Kilo­me­ter zurück­ge­legt, lädt er uns kur­zer­hand zu sich nach Hause ein und so lan­den wir bei Figlias und sei­ner Fami­lie, auf einer klei­nen Farm mit­ten im Grünen…

 

Letztes Kapitel: Eine Geschichte wird so erinnert, wie wir sie erzählen. 

All­ge­meine Geschichte wird oft so geschrie­ben, als seien die Könige oder Herr­sche­rin­nen, Poli­ti­ke­rIn­nen, Pries­ter, Dik­ta­to­ren und Macht­ha­ber die ein­zi­gen Akteure gewe­sen. Wir spre­chen über die herr­schende Klasse, Gesetze, Refor­men, Ent­de­cker – aber kaum über die Bevöl­ke­rung. Und so ist es auch in den Nach­rich­ten. Unser Bild einer uns frem­den Nation und deren Men­schen ist von den Berich­ten geprägt, die von dort nach außen dringen.

Aber wie leben die Men­schen ihren All­tag? Wer sind sie? Sind sie, nur weil sie einen kor­rup­ten Poli­ti­ker / ( sel­ten auch Poli­ti­ke­rin) an der Spitze haben ALLE so? Reprä­sen­tiert die herr­schende Klasse der USA das Gedan­ken­gut aller Bürger*innen? Sind ALLE Men­schen in El Sal­va­dor gewalt­be­reit, nur weil es dort „Mara- Gangs“ gibt? Waren in Nazi- Deutsch­land ALLE Nazis (das wer­den wir oft gefragt, so haben es die ande­ren schließ­lich über uns gelernt) ?

Im End­ef­fekt sind wir ALLE nur Men­schen- ob wir nun in Gua­te­mala, Deutsch­land, Nige­ria, Tai­wan, Russ­land oder Kanada gebo­ren sind, spielt doch gar keine Rolle. Denn in jedem Land, gibt es Men­schen die Hass und Gewalt sähen und andere die Hilfs­be­reit, offen und lie­bens­wür­dig sind.

Wir haben es ohne Flug­zeug bis nach Mexiko geschafft. Aber ohne die unzäh­li­gen Men­schen, die uns in auf ihrem Boot, ihren Autos oder LKW’s mit­ge­nom­men, uns Essen, Unter­kunft und Klei­dung geschenkt, uns über­rascht, umarmt, Mut gemacht, unter­stützt oder ein­fach nur ange­lä­chelt haben, wäre das gar nie­mals mög­lich gewe­sen. Und dafür sind wir unglaub­lich dank­bar! Das will ich expli­zit in die­sem Bei­trag noch­mal unterstreichen,weil es all die­sen und noch vie­len ande­ren, denen wir nicht begeg­net sind, unrecht tut, abge­wer­tet, kri­mi­na­li­siert, ste­reo­ty­pi­siert oder dämo­ni­siert zu wer­den, nur weil sie einer bestimm­ten Nation angehören.

Unsere Reise ist so erfül­lend und schön wie sie ist, weil die Men­schen, denen wir begeg­nen, sie dazu machen!

Dazu eine kleine Geschichte, die mir letz­tens jemand erzählt hat.

Ein Paar sitzt Rücken an Rücken gelehnt auf einer Treppe. Die Frau rich­tet ihren Blick auf eine grüne Wiese, das Gesicht wird von der Sonne gewärmt, kleine bunte Schmet­ter­linge flie­gen an ihr vor­bei. „Schau, wie schön die Welt doch ist.“ Der Mann, mit Blick zur grauen Mauer, die ein Schat­ten über ihn wirft ant­wor­tet: „Nein! Die Welt ist häss­lich und grau!“. Wären beide nun bereit dazu, sich ein­mal um die eigene Achse zu dre­hen, wür­den sie die Per­spek­tive des ande­ren ver­ste­hen und dadurch viel­leicht auch die eigene Wahr­neh­mung ändern kön­nen. Aber die Mühe scheint ihnen zu groß, also blei­ben sie so sit­zen und hal­ten an ihrer jewei­li­gen Über­zeu­gung fest.“

Mehr lesen:

„Die offe­nen Adern Latein­ame­ri­kas“ von Edu­ardo Gal­le­ano „ Mexiko pro­fundo“von Guil­lermo Bon­fil Batalla und „How the world works“ von Noam Chom­sky, sind groß­ar­tige Bücher und geben auf unter­schied­li­che Art und Weise einen Ein­blick in die kom­ple­xen sozia­len, poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Zusam­men­hänge Lateinamerikas

*-> „Die Bezie­hun­gen zwi­schen Latein­ame­rika und den Ver­ei­nig­ten Staa­ten sind seit dem 18. Jahr­hun­dert geprägt durch den Gegen­satz zwi­schen dem Unab­hän­gig­keits­stre­ben der latein­ame­ri­ka­ni­schen Staa­ten und der Ein­fluss­nahme der USA auf deren Poli­tik und Wirt­schaft. Tra­di­tio­nell wer­den vor allem die Staa­ten Mit­tel­ame­ri­kas von den USA als ihr „Hin­ter­hof“ (back­yard) betrach­tet. Je nach außen­po­li­ti­scher Ori­en­tie­rung der Ver­ei­nig­ten Staa­ten kam es dabei zu Pha­sen mas­si­ver Ein­fluss­nahme, bis hin zu von Washing­ton, D.C. orga­ni­sier­ten Regie­rungs­wech­seln, Put­schen gegen gewählte Regie­run­gen und direk­ten mili­tä­ri­schen Interventionen.
Beson­ders wäh­rend des Kal­ten Krie­ges (ca. 1947–1989) befürch­te­ten die USA eine Aus­wei­tung des Kom­mu­nis­mus und stürz­ten in eini­gen Fäl­len demo­kra­tisch gewählte Regie­run­gen auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, die als links und/oder als unfreund­lich gegen­über US-ame­ri­ka­ni­schen Wirt­schafts­in­ter­es­sen ein­ge­stellt ange­se­hen wur­den. Dazu gehör­ten etwa der Staats­streich in Gua­te­mala 1954, der Putsch in Chile 1973 und die Unter­stüt­zung der Auf­stän­di­schen im nica­ra­gua­ni­schen Con­tra-Krieg, wobei oft mit Unter­stüt­zung des Aus­lands­ge­heim­diens­tes CIA rechts­au­tori­täre Régime oder Mili­tär­dik­ta­tu­ren ein­ge­setzt wur­den. In den 1970er und 1980er Jah­ren wurde als Folge die­ser Poli­tik schließ­lich ein Groß­teil der Län­der Mit­tel- und Süd­ame­ri­kas von rechts­ge­rich­te­ten Mili­tär­dik­ta­tu­ren regiert, die wegen ihrer anti­kom­mu­nis­ti­schen Aus­rich­tung von den USA gestützt und geför­dert wur­den, wobei man die mas­si­ven Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch die Régime bil­li­gend in Kauf nahm bezie­hungs­weise sogar inof­fi­zi­ell befür­wor­tete (siehe auch Domino-Theo­rie und Schmut­zi­ger Krieg)…“ (…) Aus­zug aus dem Wiki­pe­di­ar­ti­kel Bezie­hun­gen zwi­schen Latein­ame­rika und den Ver­ei­nig­ten Staaten.

 

 

Cate­go­riesMit­tel­ame­rika
  1. Hallo Lisa und Julia, wow das muss das Aben­teuer eures Lebens gewe­sen sein. So weit weg von Zuhause und soviel erlebt. Nun stö­ber ich mal biss­chen wei­ter in euren Rei­se­be­rich­ten. Macht wei­ter so und bleibt gesund, Grüße Mar­cel von

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