Meh­rere Anläufe hatte ich gebraucht, um diese Rei­sen nach Nord­ko­rea über­haupt antre­ten zu kön­nen. Nach eini­gen Jah­ren inten­si­ver jour­na­lis­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zung mit dem bru­ta­len Korea-Krieg und der dar­aus resul­tie­ren­den Tei­lung der Korea­ni­schen Halb­in­sel in zwei Wel­ten, sollte ich 2015 auf Ein­la­dung des heu­ti­gen Ehren­prä­si­den­ten der Deutsch-Korea­ni­schen Gesell­schaft, Hart­mut Koschyk, eine Bun­des­tags­de­le­ga­tion nach Nord­ko­rea beglei­ten – als damals ein­zi­ger Repor­ter. Ein Traum. Bis zum Tage des Abflugs hatte mich die nord­ko­rea­ni­sche Seite aller­dings gezielt im Unkla­ren gelas­sen, ob ich nun ein Visum bekom­men würde oder nicht. Briefe auf hoher diplo­ma­ti­scher Ebene spiel­ten Ping­pong zwi­schen den Bot­schaf­ten von Ber­lin und Pjöng­jang. Letzt­lich blieb ich zu Hause – reine Schi­kane also – und der Besuch der Bun­des­tags­po­li­ti­ker begann mit einem Eklat. Offen­bar stand ich dann auch auf­grund mei­ner regel­mä­ßi­gen Publi­ka­tio­nen über die Lage in der Kim-Dynas­tie auf einer ent­spre­chen­den Liste, denn der stän­dige Ver­such, end­lich ein Visum zu bekom­men, blieb stets erfolg­los. Aber wie annä­hernd über eine total iso­lierte Region fun­diert berich­ten, in die man noch nie zuvor auch nur einen Fuß gesetzt hat? Am Ende war es dann wie so oft im Leben: man muss die rich­ti­gen Leute ken­nen­ler­nen. Ich hatte also Glück. 

Als ich die Foto­gra­fin Xio­mara Ben­der für ein Inter­view zu ihrem mich visu­ell über­ra­schen­den Nord­ko­rea-Bild­band “The Power of Dreams” traf, eröff­nete sich mir ein ganz ande­rer Zugang zu mei­nem jour­na­lis­ti­schen Lieb­lings­thema – der nun schon 71 Jahre alten Dik­ta­tur. Xio­mara foto­gra­fiert seit 2011 regel­mä­ßig in Nord­ko­rea, kennt das Land mitt­ler­weile fast aus­wen­dig, aus allen Blick­win­keln und mit all’ sei­nen Facet­ten. Durch ihren Vater Andreas Ben­der, der welt­weit als Rei­se­füh­rer für eher unge­wöhn­li­che Rei­se­ziele ope­riert und als einer der ers­ten Deut­schen eine Rei­se­lei­ter­li­zenz für Nord­ko­rea sei­tens des kom­mu­nis­ti­schen Regimes erhielt, kann sich Xio­mara auf ein seit über 30 Jah­ren quasi gegen­sei­ti­ges Ver­trau­ens­ver­hält­nis zwi­schen ihrer Fami­lie und der nord­ko­rea­ni­schen Tou­ris­mus­be­hörde ver­las­sen, wel­che die strikte Auf­gabe ver­folgt, alle Aus­län­der im Land zu kon­trol­lie­ren und wäh­rend­des­sen mit min­des­tens zwei soge­nann­ten Rei­se­füh­rern auf Schritt und Tritt zu beglei­ten. Dank Xio­ma­ras Vater bekam ich nun ganz pro­blem­los ein Visum für Nord­ko­rea und beglei­tete Sie zwei Mal in 2018 in das Land am Ende der Welt, trotz des­sen, dass die nord­ko­rea­ni­sche Seite natür­lich wusste, dass ich als Jour­na­list und weni­ger als Tou­rist ope­rie­ren würde. Aber offen­bar bekam ich das Prä­di­kat „harm­los“ verliehen. 

Und ja, Nord­ko­rea hat sich in den letz­ten Jah­ren geöff­net, natür­lich auch des Gel­des wegen, wel­ches das von Sank­tio­nen total gehan­di­capte, ärm­li­che Land auch so bit­ter nötig hat. So bin auch ich letzt­lich nur ein Devi­sen-Brin­ger für das Unrechts­re­gime. Des­sen muss sich jeder Nord­ko­re­ar­ei­sende bewusst sein. Schließ­lich brachte mein Auf­ent­halt je Ein­reise den nord­ko­rea­ni­schen Staat etwa 2500 Euro ein. Ein teu­res Unter­fan­gen also. Vom Abflug (von Peking oder Shang­hai) an über­nimmt die staat­li­che Tou­ris­mus­be­hörde die Kon­trolle. Sie legt Hotels, Restau­rants und Zeit­pläne fest. Wirk­lich Ruhe vor den “Gui­des” hat man erst, wenn man von jenen im “Aus­län­der­ho­tel” abge­ge­ben wird und es hin­ter einem die Türen schließt. Ein Gefäng­nis light, denn auf eigene Faust darf man es nicht ver­las­sen. Zudem blei­ben indi­vi­du­elle Wün­sche (Rei­se­route, Abläufe) bis zuletzt unbe­ant­wor­tet oder im Vagen. Obgleich sie Alles in ihrer Macht Ste­hende ver­su­chen, um Gäste zufrie­den­zu­stel­len. Das liegt in der Men­ta­li­tät der Koreaner. 

Für Tou­ris­ten, die nicht wie ich jour­na­lis­tisch tätig sind, ist der Visa-Antrag heut­zu­tage pro­blem­los. So waren wäh­rend mei­nes ers­ten Auf­ent­halts anläss­lich der Fei­er­lich­kei­ten zu 70 Jah­ren Nord­ko­rea im Sep­tem­ber 2018 so viele Aus­län­der im Land wie nie­mals zuvor. Der Groß­teil davon Chi­ne­sen, für die Nord­ko­rea wie eine Kolo­nie, vor allem aber ein Abhän­gig­keits­staat ist. Und so füh­ren sie sich vor Ort auch auf. Kim Jong-un plant mit nahezu einer Mil­lion chi­ne­si­scher Tou­ris­ten im kom­men­den Jahr, ver­mel­den Nord­ko­rea-Ana­lys­ten. Wie das in der Pra­xis aus­se­hen soll, bleibt mir ein Rät­sel. Für viele Chi­ne­sen ist ein Nord­ko­rea-Trip eine Reise in die eigene mao­is­ti­sche Ver­gan­gen­heit, inklu­sive Kon­trolle und Gän­ge­lung. Viele sind nur bedingt an den Kul­tur­rei­sen durchs Land inter­es­siert, son­dern wol­len in die neu gebau­ten Spa-Hotels oder in die Ski­ge­biete, die alle­samt fernab lie­gen und gut zu kon­trol­lie­ren sind. Aus nord­ko­rea­ni­scher Sicht bedeu­tet „per­fek­ter Tou­ris­mus“, wenn Gäste kom­men, die ihr Geld mit­brin­gen – und ansons­ten gut abschirm­bar im Hotel oder einem iso­lier­ten Gebirge bleiben.

Leer und sonderbar zart

Meine ers­ten Gedan­ken vor Ort waren: diese große Leere, das Nichts zwi­schen den Gebäu­den und Men­schen und diese uni­for­men aber zar­ten, fast zer­brech­lich wir­ken­den Wesen, die mich durch ihre Erschei­nung, die auf­rich­tig und unbe­hel­ligt schien, sogleich in einen Bann zogen. Sie kamen mir ver­wandt vor, aber ebenso wie Außer­ir­di­sche von einem fer­nen, unbe­kann­ten Pla­ne­ten. Oder war ich selbst der­je­nige, wel­cher sich hier­her ver­irrt hatte, von einem nebu­lö­sen – klas­sen­ver­fein­de­ten – Him­mels­kör­per kom­mend? Ich kann es bis heute nicht benen­nen, so skur­ril erschei­nen die jewei­li­gen, gegen­sätz­li­chen Wahr­hei­ten, wenn der Rest der Welt – wie ich – auf Nord­ko­rea trifft. Und dann die­ses Gefühl, wie in einem Bern­stein ein­ge­schlos­sen zu wan­deln, Besu­cher einer kon­ser­vier­ten Kul­tur zu sein. Zu Gast in einer Appa­ra­tur, in wel­cher Denun­zia­tion und strikte Über­wa­chung herr­schen, Depor­ta­tio­nen und Macht­miss­brauch zur Tages­ord­nung zäh­len und kaum Indi­vi­dua­li­tät mög­lich ist, bzw. als Ent­fal­tungs­form der eige­nen Bio­gra­fie völ­lig unbe­kannt sein muss. Zwei ganze Gene­ra­tio­nen schon ken­nen es nicht anders. Wie auch? Wie unter einer Glo­cke erscheint mir hier das Leben, drau­ßen Unmen­gen Was­ser, drin­nen ein wenig Luft zum Atmen. Sie wis­sen es ein­fach nicht bes­ser. Viel­leicht ist Nord­ko­rea die Tief­see unter den Län­dern der Erde. Kaum Licht dringt ein. Kein Inter­net, keine Mode, keine Pop­kul­tur, keine Por­no­gra­fie, kein Hol­ly­wood, kein Ami auf dem Mond, keine Droge, keine Ver­hei­ßung, keine Mög­lich­keit der freien Ent­schei­dung. Die Gesprä­che mit Bruce Lee (so nannte sich einer unse­rer Auf­pas­ser), wel­cher ein sehr gutes Deutsch beherrschte, stie­ßen immer wie­der auf eine Wand aus Unwis­sen­heit. “Die Beat­les? Noch nie gehört!”

Ein Hauch von Nostalgie

Auf einer der brei­ten, end­los wir­ken­den Stra­ßen der 3‑Mil­lio­nen-Metro­pole Pjöng­jang, mit den weit­läu­fi­gen Sicht­ach­sen ent­lang der in Pas­tell­tö­nen ange­mal­ten Pracht­bau­ten, fährt ein älte­res Mer­ce­des-Modell und ein japa­ni­scher Klein­bus auf ver­schie­de­nen Spu­ren in die glei­che Rich­tung. Die Stra­ßen­in­fra­struk­tur einer Groß­stadt mit dem Ver­kehrs­auf­kom­men eines Dorfs in Deutsch­land. Eine Gruppe von Frauen – in einer Art Uni­for­mie­rung – absol­viert einen Appell am Stra­ßen­rand. Zu allen Him­mels­rich­tun­gen die beto­nier­ten Flure für Auf­mär­sche und Ver­samm­lun­gen von – wie sym­pto­ma­tisch für Nord­ko­rea – sorg­fäl­tig orga­ni­sier­ten Men­schen­mas­sen. So viel Raum und Platz. Eine Haupt­stadt mit der Atmo­sphäre einer Film­ku­lisse oder einer Modell­ei­sen­bahn­welt. Alles erscheint akku­rat und auf eine Weise künst­lich, obgleich die­ser Anschein (und so ein Groß­teil des abge­schot­te­ten Lan­des) einer ein­zi­gen Insze­nie­rung gleicht. Nach den Plä­nen und der Ideo­lo­gie der Füh­rer der Kim-Dynas­tie. Den drei Göt­tern Nordkoreas.


Es sind Erin­ne­run­gen, wel­che mich wäh­rend mei­ner Auf­ent­halte in Nord­ko­rea heim­su­chen und das Rei­sen durch eine sel­tene Welt – viel­leicht die Letzte ihrer Art – zu einer inten­si­ven Emp­fin­dung haben wer­den las­sen. Ich kannte die Sym­me­trien bereits von irgend­wo­her. Man­che Far­ben, auch Gerü­che, viel­leicht auch die Mode mit ihren stren­gen Schnit­ten, kamen mir bekannt vor. Ganz bestimmt aber die Pjöng­jan­ger Stra­ßen­bah­nen, denn die roten Tatra-Wagen aus der ehe­ma­li­gen Tsche­cho­slo­wa­kei, ruckeln durch die Haupt­stadt der Kim-Dik­ta­tur, als sei ich auf einer Zeit­reise durch meine eigene Kind­heit in der DDR. Auf viel­leicht den­sel­ben Sitz­scha­len saß ich in Dres­den auf dem Weg in den Kin­der­gar­ten, in wel­chem wir uns auf den glei­chen Metall­klet­ter­ge­rüs­ten die Knie und Köpfe auf­schlu­gen. Das Irgend­wo­her in mei­nem Kopf war meine eigene Ver­gan­gen­heit. Hier wurde sie wie­der leben­dig. Sehr schnell kam die­ses Gefühl einer Rück­kehr in mir auf, obgleich mein Unter­be­wusst­sein sehr wenig mit der kul­tu­rel­len Rea­li­tät vor Ort abglei­chen konnte. Aber die Idee von der sozia­lis­ti­schen Stadt, die erkannte ich sofort wieder.

Zerschmetternde Klischees

Ich konnte mir vor Rei­se­an­tritt nur schwer vor­stel­len, wie frei und unein­ge­schränkt Xio­mara in der Kim-Dynas­tie foto­gra­fie­ren konnte, aber dem war so, ich konnte es haut­nah mit­er­le­ben. Ein Fakt, der Sie zu einer Chro­nis­tin des Wan­dels der Dik­ta­tur hat wer­den las­sen. Und so konnte auch ich unge­hin­dert her­um­knip­sen. Wenn ich jetzt wäh­rend des Schrei­bens an Nord­ko­rea zurück­denke, erin­nere ich mich vor allem immer wie­der an ein zärt­li­ches Gefühl den Men­schen gegen­über. Aus­lö­ser vor Ort war zum Bei­spiel ein son­der­ba­rer und berüh­ren­der Moment zugleich. Eine warme Emp­fin­dung brei­tete sich aus­ge­rech­net wäh­rend einer Mili­tär­pa­rade in mir aus. Erwar­tet hatte ich Waf­fen. Stäh­lerne Kano­nen und bedroh­li­che Rake­ten. Feind­se­lige Prah­le­rei und fre­ne­tisch zele­brierte Pro­pa­ganda. Eine Prä­sen­ta­tion der angeb­li­chen Macht hatte ich mir, dem Anlass gerecht, wäh­rend mei­ner Rei­se­vor­be­rei­tun­gen zu Hause aus­ge­malt. Vor allem aber rech­nete ich mit Aggres­sion und Hys­te­rie – gegen die USA, den Impe­ria­lis­mus, die west­li­che Welt. Ganz böse und bewusst beängs­ti­gend wirkte es in mei­nen Gedan­ken vor und erschuf in mir gehö­rig Respekt vor dem erst­ma­li­gen Auf­ent­halt auf der Korea­ni­schen Halb­in­sel. Wie sonst sollte die letzte, im wahrs­ten Sinne des Wor­tes übrig­ge­blie­bene sta­li­nis­ti­sche Dik­ta­tur ihren run­den Geburts­tag zele­brie­ren? Und wie anders könnte ein Land Wir­kung erzeu­gen, wel­ches medial über Jahr­zehnte hin­weg als glo­bale, sogar ato­mare Bedro­hung in den Köp­fen der meis­ten Men­schen welt­weit ein­ge­nis­tet wurde? So asso­zi­iert man mit dem Namen Nord­ko­rea zual­ler­erst Angst, Beklem­mung, Unter­ernäh­rung und eine ver­gleichs­lose Trau­rig­keit, wel­che die unter­drückte Bevöl­ke­rung aus­strah­len muss – glaubt man der Berichterstattung.

Doch es sollte der fried­vollste, fröh­lichste und bun­teste Auf­marsch sein, den ich bis­her erle­ben sollte. Und so stand ich also da, neu­gie­rig und erstaunt, inmit­ten einer die­ser typi­schen, aus­la­den­den und ellen­lang gera­den Pracht­stra­ßen Pjöng­jangs. Wäh­rend­des­sen roll­ten die Last­wa­gen­kon­vois mit offe­ner Lade­flä­che, auf der sehr junge, zier­li­che Sol­da­ten und Sol­da­tin­nen jubel­ten, zu mei­nen bei­den Sei­ten an mir vor­über. Sie hiel­ten Luft­bal­lons, anstatt Geweh­ren in ihren Hän­den und sie wink­ten unge­niert und lach­ten fast kind­lich zu der Menge an hübsch her­aus­ge­putz­ten Nord­ko­rea­nern am Stra­ßen­rand, wel­che ihrer­seits je Kon­voi ein herz­li­ches Danke aus­rie­fen. Die Frauen in tra­di­tio­nel­ler, bon­bon­far­be­ner Tracht, die Män­ner mit schlich­ten Kra­wat­ten und in grau­tö­ni­gen Sakkos.

Es war ein Kli­schee-zer­schmet­tern­des Bild, wie die aus Sowjet­zei­ten stam­men­den LKW auf mich zuroll­ten und aus­ge­las­sene Freude, statt Zorn trans­por­tier­ten. Ich stand da allein auf wei­tem Asphalt, kei­ner der zahl­rei­chen Poli­zis­ten, Ord­nungs­hü­ter oder einer unse­rer bei­den obli­ga­to­ri­schen Auf­pas­ser hat­ten mich daran gehin­dert, die Men­schen­menge zu durch­bre­chen und ein­fach auf die Fahr­bahn zu tre­ten. Ich glaube in die­sem Moment war die Kon­trolle über uns ver­lo­ren­ge­gan­gen, denn ein jeder aus unse­rer Gruppe ver­schwand für einige Augen­bli­cke in der Menge der jubeln­den Nord­ko­rea­ner. Und so reckte ich meine Hand mal links mal rechts aus, zu den Hän­den der viel­leicht jüngs­ten Garde der nord­ko­rea­ni­schen Armee. Die zier­li­chen Hand­flä­chen schlu­gen von oben auf die meine, wel­che ich ihnen von unten ent­ge­gen­hielt. Hun­derte vor­bei­fah­rende Bli­cke konnte ich so erha­schen. Man­che der gegen­sei­ti­gen Berüh­rungs­punkte konnte ich für Sekun­den fest­hal­ten, indem sich mein Blick­feld mit dem jewei­li­gen Kopf auf dem Kon­voi mit­drehte. Aus dem kur­zen Klat­schen wurde so fast ein sehn­süch­ti­ges, bei­der­sei­ti­ges Hin­ter­her­schauen. So hielt ich man­chen Gesichts­aus­druck in mei­nen Gedan­ken fest und nahm diese Form der Ein­dring­lich­keit und Berüh­rung mit mir zurück nach Hause, gen Deutsch­land, in die Frei­heit. In eine andere Welt, so weit weg wie der Mond und seine erd­ab­ge­wandte, dunkle Seite. Denn ich war hier der Voy­eur, wel­cher uner­reich­bar hin­ter den Mau­ern, Land­mi­nen und Sta­chel­dräh­ten, jen­seits der Abschot­tung, eigene Ein­drü­cke sam­melte. Und eben Gesich­ter, die ich so zuvor noch nir­gendwo gese­hen hatte und denen ich nicht näher kam, als mit mei­nem eige­nen Lächeln. Gesich­ter, die ein biss­chen stolz, ein biss­chen gut­gläu­big, schmäch­tig, etwas schüch­tern, lie­be­voll und vor allem eines aus­strahl­ten: Würde und Güte.

Formation und Gemeinschaft

Diese alter­tüm­li­che Beschei­den­heit und Ein­fach­heit begeg­nete mir sowohl in der Haupt­stadt, als auch auf dem Land, in den Dör­fern, in den Fabri­ken und land­wirt­schaft­li­chen Genos­sen­schaf­ten, am Meer wie im Gebirge. Ein Klein­bus fuhr uns hol­pernd und schep­pernd in die Hafen­städte Won­san und Ham­hung im Nord­os­ten. Dazwi­schen Fel­der, Ebe­nen und Hügel – aber vor allem land­wirt­schaft­li­ches Gewu­sel. Alle Kraft für die genos­sen­schaft­li­che Pro­duk­tion. Ein Ein­druck domi­nierte meine Wahr­neh­mung dabei immer wie­der: Das Auf­tre­ten in For­ma­tio­nen und immerzu in Gemein­schaft. Ob bei der Mais­ernte, beim Tai Chi am Fluss­ufer des Taedong, bei gym­nas­ti­schen Übun­gen oder Tanz­ein­la­gen am Stra­ßen­rand der pseudo-moder­nis­ti­schen Haupt­stadt, wel­che vor allem den soge­nann­ten Pri­vi­le­gier­ten vor­be­hal­ten ist – also den Par­tei­treuen. Nie­mand erscheint allein, ent­schei­det allein nach sei­nem eige­nen Gefal­len oder hegt auch nur irgend­eine denk­bare, ver­gleichs­bare Frei­heit, wie wir sie ken­nen und um deren Ver­wirk­li­chung wir uns erei­fern. Die­ses Wis­sen schwingt stän­dig im Hin­ter­kopf mit und trübt das roman­ti­sche Erschei­nungs­bild, die sonst ursprüng­li­che Natür­lich­keit des Anblicks.

Den abso­lu­ten Super­la­tiv die­ser Grup­pen­dy­na­mik stellt das Ari­rang-Fes­ti­val dar, wel­ches ich im „Sta­dion Ers­ter Mai“ in Pjöng­jang zur Pre­mière anläss­lich der Jubi­lä­ums­fei­er­lich­kei­ten erle­ben konnte. Eine akri­bisch per­fek­tio­nierte Insze­nie­rung der sieb­zig­jäh­ri­gen Geschichte Nord­ko­reas, eine gewal­tige Cho­reo­gra­fie aber­tau­sen­der Akro­ba­ten, Tän­zer, Ath­le­ten, Musi­ker und Kin­der­grup­pen. In einer Syn­chro­ni­tät jen­seits von etwas je Gese­he­nem, von wel­cher hie­sige Cho­reo­gra­fen nur träu­men kön­nen. In einer Ästhe­tik und Epik wel­che man mit jener einer Leni Rie­fen­stahl ver­glei­chen kann – aller­dings in Farbe. Die Orga­ni­sa­tion von Mas­sen beherrscht wohl kaum ein ande­res Land der­ar­tig opti­miert und kon­di­tio­niert, wie es die Ideo­lo­gie der Kim-Dynas­tie sei­nen Unter­ta­nen durch Drill und Dis­zi­pli­nie­rung auf­er­legt hat. Und so offen­barte sich vor mir eine noch nie erlebte Dra­ma­tik, ein Schau­spiel, wel­ches sei­nes Glei­chen sucht. Die Per­fek­tion der Per­for­mance, der par­al­le­len Bewe­gun­gen und Abläufe der etwa hun­dert­tau­send Betei­lig­ten, beein­druckt mich bis heute. Unsere Tri­büne war keine hun­dert Meter Luft­li­nie von der Herr­scher­loge ent­fernt, in wel­cher kein Gerin­ge­rer als Kim Jong-un selbst, nebst sei­nen Getreuen, Platz genom­men hatte. Ein sono­res Rau­nen ging durchs weite Rund, des größ­ten Sta­di­ons der Welt, mit einem Fas­sungs­ver­mö­gen für etwa 150.000 Men­schen, als der oberste Füh­rer höchst­per­sön­lich in Erschei­nung trat. Gefei­ert fast wie ein Mes­sias, wie ein Enkel Got­tes in jedem Falle, ihres Got­tes. Denn sie wis­sen von kei­ner ande­ren Glau­bens­form. Doch was weiß ich, der ein­ge­bil­dete Freie? Das wird eine ganz andere Frage sein, bei wel­cher ich immer noch über­lege, wie meine per­sön­li­che Ant­wort ausfällt.

Der Reisende wird gespiegelt

Doch so oder so: Nord­ko­rea hält uns West­lern den Spie­gel vor. Das Land am Ende der Welt ist schlicht und ein­fach das ganze Gegen­teil des­sen, was wir von hier, von Deutsch­land, von unse­rem Leben im Über­fluss, ken­nen. Obgleich ich Erin­ne­rungs­re­lik­ten mei­ner Kind­heit in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik über­all begeg­nete. Die spä­ten Acht­zi­ger sind hier noch all­ge­gen­wär­tig. Mit den Plat­ten­bau­ten in Reihe und Glied, den klei­nen Büd­chen, in denen es das Nötigste zu kau­fen gib. Hier und da hüllte es mich immer wie­der in eine nost­al­gi­sche Stim­mung. Zwei Male konnte ich Xio­mara in die­ses Land vor unse­rer Zeit beglei­ten und davon pro­fi­tie­ren, dass Sie sich ver­hält­nis­mä­ßig frei bewe­gen kann. So bilde ich mir ein, den ein oder ande­ren Blick hin­ter die Kulis­sen, an den Wider­sprüch­lich­kei­ten vor­bei, erhascht zu haben. Was an Ein­drü­cken domi­niert, fühlt sich absurd und auch befremd­lich an. Aber ebenso bleibt eine unglaub­li­che, sel­tene Form der Schön­heit jen­seits der Uni­for­mie­rung und Kol­lek­ti­vie­rung zurück.

Was nimmt man mit, zurück in die rest­li­che Welt? Den fes­ten Glau­ben daran, dass eine Wie­der­ver­ei­ni­gung Koreas mög­lich ist? Ja! Und ich wün­sche es von gan­zem Her­zen! Behut­sam und sen­si­bel müsste es dann aller­dings von­stat­ten­ge­hen. So fra­gil schei­nen die See­len der Men­schen durch ihr Unwis­sen, ihre Unschuld. An einer Stelle der Reise wurde mir beson­ders mul­mig zumute. Auch, weil man als Deut­scher auf eine ähn­li­che Geschichte zurück­blickt, dank­ba­rer­weise mit glück­li­chem Aus­gang. Ich lief allein auf wei­ter Flur über ein para­die­si­sches Sand­stück an der Ost­küste Nord­ko­reas, die Sonne schien wie auf einer Urlaubs­post­karte und ich blickte über das Japa­ni­sche Meer, quasi in Rich­tung Frei­heit. Viele Nuss­scha­len ver­lie­ßen schon diese Küste. In der Hoff­nung auf ein selbst­be­stimm­tes Leben – dabei ist die Küste Japans viel zu weit weg, viele Boote ken­tern oder die ver­zwei­fel­ten Flücht­linge ver­hun­gern auf offe­ner See. Wer Nord­ko­rea als Nord­ko­rea­ner ver­lässt, muss es für immer tun, tot oder leben­dig. Es gibt kein Zurück, so oder so. Zwei Tage spä­ter steige ich ganz selbst­ver­ständ­lich und pri­vi­le­giert in den Flie­ger nach Peking. Kei­nen der Men­schen, denen ich begeg­net bin, werde ich sehr wahr­schein­lich so schnell je wiedersehen.

Cate­go­riesNord­ko­rea
Marc Oliver Rühle

Marc Oliver Rühle arbeitet als Journalist, Autor und Texter.
Neben seinen Schwerpunktthemen Politik und Kultur schreibt
der gebürtige Dresdner am liebsten über entlegene Reiseziele,
ursprüngliche Orte und Menschen. Während sein Hauptfokus dabei
anfangs auf dem Mittelmeerraum lag, gilt sein Interesse seit einigen
Jahren vermehrt Osteuropa und Nordkorea: https://www.instagram.com/oli_tours

  1. Kerstin Schmidt says:

    Ja.. Nord­ko­rea ist ein Land für Rei­sende, die bereits viel von der Welt gese­hen haben und etwas Außer­ge­wöhn­li­ches suchen, ein Land, das man mit kei­nem ande­ren ver­glei­chen kann..

    MfG Kers­tin

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