Das ist schon ein Paradoxon an sich: Auf der Insel der Regellosigkeit lernst du für’s Leben.

Es gibt kein Muss, kein Müs­sen, kein Kön­nen müs­sen, kein Machen müs­sen. Hier nicht. Nicht auf Hol­box. Hol­box ist die Insel der Regel­lo­sig­keit. Du kannst machen, was du willst – aber du kannst eh nicht viel machen. Haupt­sa­che du machst, was du willst. Haupt­sa­che es geht dir gut. Genau in die­ser äußer­li­chen Regel­lo­sig­keit ist genug Platz für die ein­fachs­ten mensch­li­chen Regeln. Wenn man genau hin­guckt, lässt sich das in den kleins­ten Situa­tio­nen beob­ach­ten. Hol­box’ Lek­tio­nen in fünf Kurzgeschichten.

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#1 Das perfekte Leben

Karen lebt auf Hol­box. Dort hat sie ein klei­nes Apart­ment gleich am Strand. Mor­gens steht sie mit der Sonne auf, nimmt ihr Mor­gen­bad im Meer, früh­stückt fran­zö­si­sche Patis­se­rie am Strand. Abends isst sie mit den zur Insel­fa­mi­lie gewor­de­nen Loka­len fri­sche Tacos von müt­ter­li­chen Stra­ßen­strän­den. Sie liegt am Strand in gro­ßen, wei­ßen, wei­chen Bet­ten mit gro­ßen, wei­ßen, schlei­er­haf­ten Tücher­be­hän­gun­gen. Sie nimmt ihr Abend­bad im Meer und freut sich dabei jedes­mal wie­der über das gla­mou­röse Plank­ton, das im Mond­schein bei Bewe­gung glit­zert. Sogar auf der Haut hin­ter­lässt es glit­zernde, meer­jung­frau­ar­tige Par­ti­kel. So sieht Karen auch aus: Fröh­lich im Geh­takt wip­pen­des wel­li­ges Haar, von innen strah­lende Son­nen­haut, offe­ner Blick mit einem Fun­keln in der Iris, Wege immer zwei­mal machend, weil sie vor Ent­span­nung die Hälfte vergisst.

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Irgend­wann zwi­schen Mor­gen­bad und Abend­bad ver­bringt sie ein paar Stun­den am Tag in dem schöns­ten Hos­tel der Insel. Viel­mehr ein Ort der Hän­ge­mat­ten, der Ent­span­nung und der Begeg­nun­gen. Dort begrüßt sie Neu­an­kom­mende und weist sie in das Insel­da­sein ein: Viel Nichts und alles, was du willst. Sie wird immer wie­der neue Ver­traute von Rei­se­see­len und ihren Geschich­ten. Dadurch kann sie das Insel­glo­cken­glück und den Aben­teu­er­drang ver­ei­nen: für sich das Insel­da­sein pfle­gen und mit den Rei­sen­den immer wie­der in die Welt schweifen.

Über eines zer­bricht sich Karens jedoch die ganze Zeit den Kopf: Das per­fekte Leben. In wel­cher Form, an wel­chem Ort, mit wel­chen Men­schen es zu fin­den ist. Immer wie­der sin­niert und dis­ku­tiert sie es, fragt andere nach ihren Mei­nun­gen und teilt ihre. Das ist berei­chernd und füllt so ein­nige Begeg­nun­gen mit guten Gesprä­chen. Durch all das Grü­beln über­sieht sie nur eine wich­tige Sache: Das Ideal, das sie beschreibt, ist ihr Real. Sie lebt ihr selbst defi­nier­tes per­fek­tes Leben, ganz ohne es zu merken.

Suche nicht nach dei­ner Insel, erkenne sie.

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#2 Die Möwe Nimmersatt

Die klei­nen Wel­len well­ten vor sich hin, wie sie es jeden Tag tun. Mal mehr, mal weni­ger, so wie sie gerade Lust hat­ten. An die­sem Tage hat­ten sie Lust einen toten Thun­fisch anzu­spü­len. Klein, aber den­noch groß genug, um die gie­ri­gen Augen der Möwen anzu­zie­hen. Die Möwe Nim­mer­satt war zufäl­lig am nächs­ten, als ers­tes am Thun­fisch und damit selbst­er­nannte Neu­ei­gen­tü­me­rin vom toten Tuna. Über­wäl­tigt von ihrem eige­nen Glück machte sie sich gleich fröh­lich quie­kend über den Fisch her.

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Die ande­ren fünf Möwen aus ihrer Strand­crew kamen ähn­lich fröh­lich quie­kend hinzu und woll­ten auch ein Fisch­por­ti­ön­chen abha­ben – schließ­lich war ja genug für alle da. Doch die Möwe Nim­mer­satt sah das anders. Sie konnte nicht nur fröh­lich, son­dern auch aggres­siv quie­ken. Jeder Möwen­freund, der auch nur wagte, sich dem Fisch zu nähern, wurde ent­schie­den mit gespitz­tem Schna­bel und gespitz­ten Flü­geln weg­ge­quiekt. Sie war schließ­lich vor­her da und der Fisch sollte ganz allein ihrer sein. Dabei würde sie ihn eh nie­mals allein schaf­fen. Das wäre unge­fähr so, als wenn ein Mensch einen gan­zen Hai allein essen würde.

Wie Möwe Nim­mer­satt so beschäf­tigt damit war, Fisch­fleisch zu picken und gleich­zei­tig Möwen­freunde zu ver­scheu­chen, beka­men die Wel­len wie­der Lust. Sie beka­men Lust, noch ein­mal mehr zu wer­den – und der Möwe zu neh­men, was sie ihr zuvor gaben. ‚Schwapp’ kam eine Welle und nahm den Fisch wie­der mit. Und weil ein Mensch auch kei­nen Hai allein hal­ten könnte, kann eine Möwe auch kei­nen Thun­fisch allein hal­ten. Ein paar Möwen­freunde zusam­men aber hät­ten es gekonnt.

Nur geteil­ter Fisch ist Fisch, der bleibt. 

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#3 Marias Fahrrad

Maria lebt in Mexico City und Maria liebt ihr Fahr­rad. Als sie sich ent­schied, auf Rei­sen nach Süd­ame­rika zu gehen, war ihre ein­zige Sorge, ihr Fahr­rad zurück zu las­sen. Also ent­schied sie sich: Das Fahr­rad muss mit. Und zwar nicht in ihrem Kof­fer, son­dern unter ihrem Hin­tern. Anstatt in Chile zu rei­sen, radelte sie jetzt eben nach Chile. Quer durch Mexico, Belize, Gua­te­mala, Hon­du­ras, Nica­ra­gua, Costa Rica und die süd­ame­ri­ka­ni­sche West­küste. So war zumin­dest die Idee. Nach einem Monat und Sta­tion Eins ‚Quer durch Mexico’ stoppte sie für ein paar Tage auf Hol­box. Und blieb. Acht Monate lang bis heute. Seit­dem lebt sie in einer Hän­ge­matte. Tags­über trägt sie Fahr­rad­ho­sen, doch wenn sie los­ra­delt, ist sie in zehn Minu­ten am Ende der Insel. Und in noch­mal zehn am ande­ren Ende. Seit­dem sie das fest­stellte, steht ihr Fahr­rad gleich neben ihrer Hän­ge­matte, wird noch immer genauso geliebt, doch nicht geradelt.

Radle um zu erle­ben, nicht um anzukommen.

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#4 Schönheit

Auf Hol­box scheint die Sonne täg­lich, die Fla­min­gos sind rosa und wild, das Meer hat kleine Wel­len bei Tag und glit­zern­des Plank­ton bei Nacht. Die Sterne sind klar, der Sand weiß und die Kokos­nüsse reif am Baum. Die Bewoh­ner sind fröh­lich und die Hän­ge­mat­ten gemüt­lich, an jeder Ecke lädt eine andere zum abhän­gen ein. Die Bars haben keine Hocker, son­dern selbst­ge­baute Holz­schau­keln vor dem Tre­sen. Oder vor dem Meer. Die ansäs­si­gen Mamas machen ihre Tacos frisch und selbst und bera­ten auch gerne eine halbe Stunde zu jeder Taco­va­ria­tion. Mit klei­nen Stopps auf Sand­bän­ken mit­ten im Meer kann man von einer Mini­in­sel auf die andere Mini­in­sel schwim­men, auf der es unbe­rührte Natur, unbe­nutzte Holz­boote und unschul­dige Schwa­nen­nes­ter gibt.

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Hol­box ist die Post­kar­ten­in­sel. Alles sieht so schön aus, dass man es berüh­ren muss, um es wahr zu wis­sen. Anders­herum ist eines kaum sicht­bar, dafür fühl­bar: Die Mücken. Durch die Nähe der Lagu­nen, gibt es auf Hol­box so viele Mücken wie kaum andern­orts. Und durch die süße euro­päi­sche Bak­te­ri­en­for­ma­tion auf unse­rer Haut, mögen uns die Mücken wie kaum jemand ande­ren. Immer zu Son­nen­auf- und unter­gang über­fal­len sie mich und meine Freun­din Sany in Ultra­ri­e­sen­schwär­men. Zwi­schen­durch in Rie­sen­schwär­men. Kein Abwehr­spray, Mos­ki­to­netz oder Dusch­ver­steck mag hel­fen  – allein auf dem Rücken zählte ich 24 Sti­che. Sanys durch­schnitt­li­cher Stich­durch­mes­ser auf den Bei­nen betrug vier Zen­ti­me­ter. Gegen­sei­tig waren wir unun­ter­bro­chen damit beschäf­tigt, uns vom Krat­zen abzu­hal­ten. Statt par­ti­el­lem Jucken war es eher ein Ganz­kör­per­schmerz. Gegen die jucken­den Schmer­zen hät­ten wir zwi­schen­zeit­lich unsere Haut eingetauscht.

Die pure Insel­schön­heit sahen wir zwar vor uns, aber den puren Mücken­schmerz fühl­ten wir auf uns – und die Macht der Mücken siegte.

Alle Schön­heit ist nur so schön, wie sie sich anfühlt.

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#5 Im Schlaf

Euge­nio war für eine Nacht nach Hol­box gekom­men. Seine schönste Hose und sein schöns­tes Hemd hatte er ein­ge­packt. Beige-blau mit Orna­me­ten dar­auf. Er wollte auf dem klei­nen Fes­ti­val, das die­ses Wochen­ende statt­fand, trin­ken, tan­zen, fei­ern. Dafür gesellte er sich für eine Nacht in unse­ren Bun­ga­low. Seine Haare waren an den Sei­ten rasiert und oben gegelt. Er war groß und breit, doch seine Ges­tik klein und fein. Er setzte sich gerne nur auf die Ecke des Stuhls. Aus dem grob geform­ten Mund kamen sen­si­bel gewählte Worte. Seine Stimme kam hoch und sanft aus dem eigent­li­chen Bari­ton-Klang­kör­per. Mit sei­nen gro­ben Hän­den und den sau­be­ren Nägeln wank er gerne mit kur­zen fin­ger­krüm­men­den Bewe­gun­gen. Auch wenn er eigent­lich in Sprech­di­stanz war.

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Irgend­wann nachts wachte ich von lau­tem Schnar­chen und lau­tem Han­dy­klin­geln auf. Die Fes­ti­val­nacht hatte Euge­nio aus­ge­knockt. Er lag mit längs gegel­ten Haa­ren und quer gestreif­ter Unter­hose in sei­nem Bett und sein Schlaf machte ihn zu einem ande­ren Men­schen. In ers­ter Schlaf­trun­ken­heit dachte ich noch jemand ande­res hätte Euge­nios Bett geka­pert. Grob­schlich­tig nahm er nicht mehr nur die Stuhl­kante, son­dern jetzt das gesamte Bett und gefühlt alles dar­über hin­aus ein. Auf dem Rücken lie­gend und alles von sich gestreckt kam sein Bari­ton nun zu vol­ler Gel­tung. Es war tat­säch­lich Euge­nio, der sich laut und tief mit sei­nem Handy einen raum­fül­len­den Wett­kampf lie­ferte. Die sen­si­ble Sanft­heit des Tages war nur noch in dem akri­bisch zusam­men­ge­fal­te­ten Hemd neben dem Bett sichtbar.

Ich fühlte mich im Zim­mer­in­ter­esse han­delnd, als ich ver­suchte Euge­nio zu wecken – mit sanf­tem Schüt­teln bis zu gro­bem Rüt­teln. Doch alle Reak­tion war ein plötz­li­cher schnel­ler Aus­schlag sei­nes Ellen­bo­gens, der knapp an mei­nem Gesicht vor­bei­ging. Nichts war zu machen, Euge­nio hatte keine Anten­nen in sei­nem aus­ge­prägt männ­li­chen Schlaf. Also nahm ich selbst sein Kis­sen unter sei­nem Kopf, denn da war sein durch­gän­gig leu­ten­des Handy drin, und schal­tete es aus. Für das Schnar­chen gab es lei­der kei­nen Knopf. Als er am nächs­ten Tag mit sei­nem Täsch­chen in der Elle auf dem Rück­weg an uns vor­bei­fuhr, wank er uns wie­der fin­ger­krüm­mend mit geneig­tem Kopf zu. Er wusste nicht, dass wir wuss­ten, dass er so eigent­lich nicht winkt.

Bleib du selbst – und wenn nicht, dann schlafe lie­ber alleine. 

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Cate­go­riesMexiko Welt
Lena Kuhlmann

Es geht nicht um Orte. Sondern um Begegnungen, Menschen, Erlebnisse. Es geht Lena darum in Lebenswelten einzutauchen und dabei in den kleinsten Details das Größte zu finden. Und das findet Lena in den Orten da draußen.

  1. Sehr schö­ner Bericht und echt tolle Fotos. War selbst vor 4 Jah­ren als Back­pa­cker mit mei­nem freund unter­wegs, aller­dings in Thai­land, und die Fotos erin­nern mich an die­sen Urlaub. Wirk­lich para­die­sisch und halt Ulaubs-Fee­ling pur.
    Ansonste mal ganz anders geschrie­ben als so viele Rei­se­be­richte die man sonst so liest…schön! ;-)

    1. Lena says:

      Danke für dei­nen Kom­men­tar und für’s Mögen, Leo­nie! Ich freue mich immer, wenn jemand mit­füh­len kann bei dem, was ich schreibe.

  2. Hol­box hört sich ver­dammt inter­es­sant an. Gut das ich nächs­tes Jahr in Mit­tel­ame­rika unter­wegs bin, kann mir also even­tu­ell einen klei­nen Abste­cher dort­hin erlauben.

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