„Zweckarchitektur stinkt“

„Zweck­ar­chi­tek­tur stinkt.“ Oscar Nie­meyer grum­melt. Er hat die Schnauze voll.

Kein Wun­der also, dass der bra­si­lia­ni­sche Prä­si­dent JK gerade Nie­meyer für sein futu­ris­ti­sches Pro­jekt ins Boot holt. Bra­sí­lia. Die neue Haupt­stadt Bra­si­li­ens – die Stadt der Zukunft. Im Lan­des­in­ne­ren, fern ab von allem soll sie ent­ste­hen. Es sind die 50er Jahre. Moder­ni­sie­rungs­wahn und Bossa Nova geben den Ton an. Sie passt gut hin­ein, Bra­sí­lia, in die Eupho­rie jener Jahre. Tech­nik als Fort­schritt. Die Stadt als Maschine. Auf­bruch­stim­mung in das Zeit­al­ter der urba­nen Gesellschaft.
Die Uto­pie einer neu erschaf­fe­nen, per­fek­ten Stadt ist in aller Munde. Doch zunächst muss eine Start- und Lan­de­bahn her. Bau­ma­te­ria­lien und Arbei­ter müs­sen her­an­ge­schafft wer­den. Das aus­er­wählte Fleck­chen tro­cke­ner ris­si­ger Erde liegt weit ab vom Schuss. 640 Km sind es bis zur nächs­ten befes­tig­ten Straße. Städ­te­bau per Luft­brü­cke. In drei Jah­ren wird sie aus dem stau­bi­gen Erd­bo­den gestampft. Bra­sí­lia – die Perfekte.
Zukunfts­me­lo­dien schwir­ren durch die Luft. Bra­sí­lia ist kom­plett auf das Auto aus­ge­rich­tet. Große mehr­spu­rige Stra­ßen füh­ren durch die ganze Stadt. In gro­ßen Schlei­fen. Ohne Kreu­zun­gen, ohne Fuß­gän­ger­wege, fast ampel­los. Das Auto als Dogma. Mobi­li­tät als Errun­gen­schaft. Die Stadt der Zukunft. Hier sollte nie­mand zu Fuß gehen. Old school.

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Die Idee der gro­ßen Flä­che. Viel wei­ter Platz. Viel lee­rer Platz. Der Sonne erbar­mungs­los aus­ge­lie­fert. Nichts spen­det Schat­ten, hier in der gro­ßen Weite. Die Wohn­häu­ser ste­hen auf Stel­zen. Es gibt keine Begren­zun­gen. Die unend­li­che Flä­che und unend­lich viel Beton. Moderne Gebäude, vol­ler Leich­tig­keit. Immer mit den schwin­gen­den Kur­ven Nie­mey­ers ver­se­hen, die ihn an die geschwun­ge­nen Hügel sei­ner Hei­mat­stadt Rio und nicht zuletzt an die schö­nen Frauen an den Strän­den Ipan­e­mas und Copa­ca­ba­nas erin­nern. Viel blen­den­des Weiß.

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Die Funk­tion steht im Vor­der­grund. Alles hat seine Ord­nung. Wohn­sek­to­ren. Arbeits­sek­to­ren. Frei­zeit­sek­to­ren. Hotel­sek­to­ren. Regie­rungs­sek­to­ren. Bank­sek­to­ren. Jeder Sek­tor ist wei­ter unter­teilt in Super­qua­dras. Adres­sen in Bra­sí­lia glei­chen che­mi­schen For­meln: ‚’SQE 67 Bloco B apto. 12‘‘ steht für „Öst­li­ches Super-Qua­dra 67, Block B, Woh­nung 12“. Bis ins Detail durch­dacht und kon­zi­piert. Sie scheint per­fekt zu sein. Diese Stadt. Diese Maschine.
Urba­ni­tät und der moderne Mensch. Woh­nen, Arbei­ten und Frei­zeit unter­ste­hen dem Kri­te­rium der größt­mög­li­chen Zeit­er­spar­nis. Keine Zeit für Spa­zier­gänge. Keine Zeit für Parks.
Der Grund­riss der Stadt gleicht einem Flug­zeug. Mehr Zukunft geht wohl nicht.

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Heute, 53 Jahre nach ihrer Grün­dung, brö­ckelt bereits hier und da ein wenig der Putz ab. Ich gebe es zu. Doch die alte Dame wirkt immer noch ver­dammt fancy. Wie mag sie wohl damals gewirkt haben? 1960. Die ver­wirk­lichte Vision von Visionären.
Mein ers­ter Ein­druck: Diese Stadt ist nicht zu ver­glei­chen. Ein Museum futu­ris­ti­scher Archi­tek­tur. Im Regie­rungs­sek­tor befin­den sich in sym­me­trisch geord­ne­ten Blö­cken die Minis­te­rien. Jedes Gebäude ein Augen­schmaus. Bei der Frage, wo man denn hier in der Nähe einen Kaf­fee trin­ken könnte, wird jedoch tief ein­ge­at­met. Zu Fuß sei das Ganze schwie­rig, erklärt man mir etwas lahm. Ich müsste aus dem Regie­rungs­sek­tor, über den Arbeits­sek­tor und den Bank­sek­tor hin zum Frei­zeit­sek­tor. Dort gäbe es die Restau­rants und Bars. Ich traue kaum mei­nen Ohren. Kei­nen Kaf­fee, nicht mal einen Auto­mat, keine Tank­stelle? Nichts?! Der junge Diplo­mat muss abwin­ken. Das sei eines der Pro­bleme die­ser Stadt. Aber wir könn­ten zu ihm ins Büro kom­men. Dort gäbe es eine Kaffeemaschine.
Ich werde stut­zig. Ist Bra­sí­lia, die Per­fekte, doch nicht perfekt?

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Die Sonne brennt. Die Stra­ßen sind wie leer­ge­fegt. Tage­lang frage ich mich, wo die Men­schen sind. Hier gibt es ein­fach keine Men­schen. Ich sitze an einer Bus­hal­te­stelle und warte. Der Bus kommt nicht. Ich frage nach. Die Ant­wort macht mich wie­der stut­zig. Der Bus sei um 15 Uhr gefah­ren. Der nächste käme erst mor­gen. Zu Fuß kämp­fen wir uns durch die Stadt. Gezwun­ge­ner­ma­ßen gehen wir auf der Fahr­bahn. Die Büsche am Stra­ßen­rand sind nun wirk­lich nicht für Fuß­gän­ger geeig­net. Mehr­fach über­que­ren wir wag­hal­sig die rie­sige, mehr­spu­rige Fahr­bahn. Einen Fuß­gän­ger­über­weg oder eine Ampel brau­chen wir wohl nicht zu suchen. Wir blei­ben unverletzt.

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Wahr­schein­lich ist die U‑Bahn in die­ser Stadt vol­ler Auto­fah­rer nur ein Zei­chen von Pres­tige. Sie besteht aus 2 Linien und wird kaum genutzt. An der Metro-Sta­tion sind wir fast alleine. Als wir ein­stei­gen, huscht mir ein Lächeln übers Gesicht. Wahr­schein­lich wusste man schon vor­her, dass diese Bahn völ­lig über­flüs­sig ist. In einem Wagon befin­den sich gerade mal eine Hand­voll Sitze und ansons­ten, wie man es hier gewohnt ist: eine Menge freier Fläche.
Ein wenig lang­wei­lig ist sie viel­leicht, die Per­fekte, die eigent­lich auch nur eine Beam­ten­stadt ist. Gebaut für die Mit­ar­bei­ter der Regie­rung. Wie im Film. Kei­ner, der ohne Schlips und Kra­gen zur Arbeit fährt. Die geho­bene Klasse unter sich. Rei­che Weiße, deren Eltern schon reich waren. Schwarze sieht man hier nicht.
Einige wit­zeln. Bra­sí­lia läge nur so weit im Lan­des­in­ne­ren, damit die Regie­rung hier unge­stört ihre Spiel­chen trei­ben könne. Wer schaut einem hier schon auf die Fin­ger? In einer Stadt vol­ler Regie­rungs­mit­ar­bei­ter. Und tat­säch­lich muss es sich für den einen oder ande­ren schon ein biss­chen wie Nar­ren­frei­heit ange­fühlt haben. Kor­rup­tion und Vet­tern­wirt­schaft blüh­ten hier in der Ver­gan­gen­heit beson­ders präch­tig. Eine so iso­lierte Haupt­stadt bringt eben doch mehr Vor­teile, als nur die Stär­kung der Infra­struk­tur in der Landesmitte.

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50.000 Bau­ar­bei­ter set­zen die küh­nen Pläne des Prä­si­den­ten Kubit­schek in kür­zes­ter Zeit um. Jedoch waren sie bei der Pla­nung der Stadt nicht berück­sich­tigt. Für sie ist kein Sitz im Grund­riss des Flug­zeu­ges vor­ge­se­hen. Sie haben sich in den Vor­or­ten, den Satel­li­ten­städ­ten Bra­sí­lias, nie­der­ge­las­sen. Mitt­ler­weile sind diese Mega­sied­lun­gen grö­ßer als die Haupt­stadt, rücken immer näher an sie heran. Wei­te­rer Ringe haben sich um die Satel­li­ten­städte Bra­si­lias gebil­det. Fave­las. Wenige Kilo­me­ter vom Prä­si­den­ten­pa­last ent­fernt blü­hen hier Dro­gen­han­del und Kri­mi­na­li­tät, wäh­rend der Wohl­stand in den Flü­geln des Flug­zeu­ges, in den Wohn­sek­to­ren der Haupt­stadt, wei­ter wächst.

Einen Besuch ist sie alle­mal Wert, Bra­sí­lia, die Zukunfts­vi­sion der Ver­gan­gen­heit. Eine Stadt am Reiss­brett ent­wor­fen, funk­tio­nal und ein wenig unchar­mant. Am Ende habe ich sie doch gefun­den, die Men­schen, die Bewoh­ner Bra­sí­lias. Im Shop­ping­cen­ter der Stadt. Hier in der kli­ma­ti­sier­ten Hölle aus Neon­licht­röh­ren, haben sie gefun­den, was die Stadt­pla­ner schlicht­weg ver­ges­sen hat­ten: einen öffent­li­chen Raum – abseits von Eigen­heim und Auto.

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Morten & Rochssare

Per Anhalter und mit Couchsurfing reisen Morten und Rochssare ab 2011 zwei Jahre lang zwischen Feuerland und der Karibik kreuz und quer durch Südamerika. Seit 2014 trampen die beiden auf dem Landweg von Deutschland nach Indien und weiter nach Südostasien. Von ihren Abenteuern und Begegnungen erzählen sie auf ihrem Blog und in ihren Büchern „Per Anhalter durch Südamerika“ und „Per Anhalter nach Indien“, jeweils erschienen bei Malik National Geographic.

  1. Skraal says:

    Inter­es­sant, wie sehr die Vor­stel­lung von der Zun­kunft von der Gegen­wart abhängt …
    Klingt unglaub­lich span­nend und auch trost­los, viel­leicht schaff ich’s doch noch­mal nach Südamerika.
    Sehr schö­ner Arti­kel, vie­len Dank!

    1. Freut uns, dass dir der Bei­trag gefällt.
      Brasì­lia ist wirk­lich eine Reise Wert. Die Stadt als nost­al­gi­sche Uto­pie. Unglaub­lich span­nend, aber wie du schon rich­tig gesagt hast, auch ein wenig trostlos.

  2. Hagen says:

    Ja, Bra­si­lia war und ist eine gebaute Uto­pie. Und eine Ikone der moder­nen Archi­tek­tur. Denn hier hat Oscar Nie­meyer eine Stadt gebaut, die, ohne auf vor­han­dene Struk­tu­ren Rück­sicht neh­men zu müs­sen, den Lebens­raum für eine Gesell­schaft der Gegen­wart und Zukunft gestal­ten wollte und will. 

    Wie jede Stadt­pla­nung aller Jahr­hun­derte ist auch diese im Kon­text der dama­li­gen Sicht auf die Gesell­schaft zu betrach­ten. Die Trans­pa­renz der Regie­rungs­ge­bäude sym­bo­li­siert die demok­tra­ti­sche Staats­form, der Glaube an den Fort­schritt – und die Vor­stel­lung, das Auto­mo­bil würde die ein­zige wich­tige Art der Fort­be­we­gung sein. Auch Oscar Nie­meyer sieht die Ver­kehrs­si­tua­tion heute kri­tisch und würde, wenn er Bra­si­lie heute neu pla­nen könnte, den Fuß­gän­gern mehr Raum geben.

    In einem Punkt muss ich dem Bericht jedoch wider­spre­chen, denn gerade auch für Fami­lien aus den unte­ren Schich­ten war Bra­si­lia vor­ge­se­hen wor­den. Diese Stadt sollte auch die Uto­pie einer Gesell­schaft, in der alle Schich­ten gemein­sam leben und arbei­ten, rea­li­sie­ren. In den Wohn­kom­ple­xen wur­den daher Woh­nun­gen unter­schied­li­cher Größe geplant, so dass der Regie­rungs­di­rek­tor Tür an Tür mit der Putz­frau wohnte. Erst in der Zeit der Mili­tär­dik­ta­tur nach dem Bau von Bra­si­lia wur­den die unte­ren Schich­ten aus den Wohn­kom­ple­xen ver­bannt bzw. ver­trie­ben und wegen der heute hohen Mie­ten kön­nen sie nicht zurück keh­ren. Lei­der blieb hier der Grund­ge­danke des Archi­tek­ten Utopie.

    1. Danke, Hagen für dei­nen aus­führ­li­chen Kommentar.
      Oscar Nie­meyer aber auch der Stadt­pla­ner Costa hat­ten viele Visio­nen bei der Pla­nung der neuen Haupt­stadt. Lei­der ist vie­les davon nicht ein­ge­trof­fen. Dazu gehört nicht nur die Situa­tion in den Wohn­kom­ple­xen, wie du sie bereits rich­tig beschrie­ben hast. Auch soll­ten die Wege zwi­schen Arbeit und Frei­zeit aber auch den all­täg­li­chen Besor­gun­gen mög­lichst kurz gehal­ten wer­den. Durch die Aus­deh­nung der Stadt trifft dies heute nicht mehr zu. Nicht ohne Grund, hat Nie­meyer es zu Leb­zei­ten bevor­zugt, in Rio de janeiro zu leben. Ein Besuch der Haupt­stadt lohnt sich den­noch zweifelslos.

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