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Victors Gefühl für Schnee

Der 5642 m hohe Elbrus gilt als höchs­ter Berg Euro­pas. Jedes Jahr rei­sen tau­sende (Ski-)Touristen aus aller Welt nach Russ­land, um ihn zu bestei­gen. Wer Ein­sam­keit sucht, akkli­ma­ti­siert sich mit Ski­tou­ren im wil­den Adyrsu-Tal.

„Don’t worry! It’s finis­hed!“ Vic­tor blickt ver­ständ­nis­los in unsere ent­setz­ten Gesich­ter. Dann don­nert er den Kopf des kau­ka­si­schen Stein­bocks wei­ter gegen den Gra­nit­fel­sen. Das halb­ver­weste Tier wurde offen­bar von einer Lawine getö­tet und ins Tal gespült. Unser rus­si­scher Berg­füh­rer Vic­tor gibt ein bizar­res Bild ab: Unra­siert, in sei­ner geflick­ten grauen Schnee­hose und mit neon­grü­nen, ver­schramm­ten Ski­stie­feln steht er zwi­schen Blüm­chen im Fluss­tal. Seine Skier ragen einen Meter über sei­nen Kopf hin­aus aus dem Ruck­sack. In der einen Hand hält er den Stein­bock­schä­del, in der ande­ren die Ski­stö­cke. Er hat dem Kada­ver den Schä­del abge­ris­sen und ver­sucht nun, die mäch­ti­gen Hör­ner vom Kopf zu lösen, um sie sei­ner Frau in Mos­kau mit­zu­brin­gen. Als wir uns ange­ekelt abwen­den, gibt er schließ­lich auf.

Victor und der SteinbockSkitouren_Adyrsu Tal253Skitouren_Adyrsu Tal685

Wir – eine zehn­köp­fige Gruppe pas­sio­nier­ter Ski­berg­stei­ger – ver­brin­gen sechs Tage im ein­sa­men Adyrsu-Tal im Nord­kau­ka­sus, um uns auf die Win­ter­be­stei­gung des Elbrus vor­zu­be­rei­ten. Schon bei der Ankunft im Hotel in Pja­ti­gorsk erwar­tet uns ein Kul­tur­schock. In den Zim­mern des „Best Eastern“-Hotels füh­len wir uns wie in einen Agen­ten­film der 1980er Jahre: oliv­grü­ner Pols­ter­ses­sel, dun­kel­braune Holz­tä­fe­lung, beige Raut­en­ta­pete, Tele­fon mit Wähl­scheibe und in jedem Stock­werk eine Eta­gen­dame, die sich um das Wohl der (männ­li­chen) Gäste küm­mert. Auf der Bus­fahrt ins Baksan-Tal zie­hen Kar­tof­fel­fel­der und trost­lose Städt­chen mit Lenin­denk­mä­lern, Indus­trie­rui­nen, Plat­ten­bau­ten und kilo­me­ter­lange gelbe Gas­lei­tun­gen an uns vor­bei. Check­points an jeder gro­ßen Kreu­zung ver­an­las­sen unse­ren Fah­rer dazu, sich für fünf Minu­ten anzu­schnal­len. Die letzte Steil­stufe vor dem Adyrsu-Tal über­win­den wir mit einem Schie­nen­auf­zug, der die mili­tär­grü­nen Ural-LKW auf einer Platt­form nach oben trans­por­tiert. Auf der offe­nen Pla­nen­prit­sche eines LKW errei­chen wir unsere Unter­kunft für die nächs­ten fünf Nächte: das Ullu Tau Camp.

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Die zwei­stö­ckige Holz­hütte liegt in einem duf­ten­den Pini­en­hain auf 2200 m Höhe. Dahin­ter erhe­ben sich zackige Gra­nit­türme, zer­klüf­tete Glet­scher, steile Schnee­rin­nen und rie­sige Schot­ter­morä­nen – eine fas­zi­nie­rende Mischung aus Dolo­mi­ten und Hima­laya. Wir schla­fen in Mehr­bett­zim­mern und tei­len uns mit 30 Per­so­nen ein klei­nes Wasch­be­cken und ein Klo. An der Holz­wand im ers­ten Stock hängt ein Ölge­mälde von Trotzki und Lenin. Unter der Treppe im Erd­ge­schoss leh­nen zwei Dut­zend Tou­ren­skier, die jede Stunde mit lau­tem Gepol­ter umfal­len, wenn wie­der Jemand Mikado spielt und seine eige­nen Lat­ten aus dem Hau­fen zieht.

Hotel Intourist, PjatigorskHotel Intourist, Pyatigorsk

Es ist Mitte Mai und ziem­lich warm. Am Rand des brei­ten Fluss­tals blü­hen Rho­do­den­dron und Glo­cken­blu­men. Uns bleibt nichts ande­res übrig, als mit Ski­stie­feln und den Ski­ern auf dem Rücken dem Schnee ent­ge­gen zu wan­dern. Die ers­ten Son­nen­strah­len las­sen die Gip­fel rot leuch­ten, als wir nach einer Stunde Stol­per­marsch end­lich die Felle auf die Skier zie­hen. Beim Auf­stieg über die stei­len Firn­flan­ken las­sen wir alle Hül­len fal­len, sogar im T‑Shirt kom­men wir noch ziem­lich ins Schwit­zen. Irgend­wie haben wir uns Russ­land käl­ter vor­ge­stellt… Selbst an unse­rem heu­ti­gen Tages­ziel auf rund 3500 m Höhe sit­zen wir ohne Hand­schuhe auf den röt­li­chen Gra­nit­fel­sen und genie­ßen das Pan­orama. Um uns herum erhe­ben sich zahl­lose Drei- und Vier­tau­sen­der mit gewal­ti­gen Glet­schern. Beim Gedan­ken an die über­füll­ten baye­ri­schen Haus­berge füh­len wir uns pri­vi­le­giert, diese gran­diose Berg­welt aus Fels, Eis und Schnee ganz alleine zu genie­ßen. Nur etwa zwei­hun­dert Meter über uns liegt der Gar­vash-Pass, zu dem wir nicht auf­stei­gen dür­fen. Wegen des anhal­ten­den Kon­flikts mit Geor­gien darf man die Region nur mit einem spe­zi­el­len Per­mit besu­chen und die meis­ten Pässe und Gip­fel in unmit­tel­ba­rer Grenz­nähe nicht bestei­gen. Wir hal­ten uns lie­ber daran, denn unten im Tal thront ein Wach­turm des rus­si­schen Mili­tärs – die ein­zige Beschäf­ti­gung der dort­hin ver­setz­ten jun­gen Män­ner besteht in der Kon­trolle der Per­mits, der Jagd auf Stein­bö­cke und der Beob­ach­tung der Tou­ris­ten mit ihren Ferngläsern.

Als Beloh­nung für den schweiß­trei­ben­den Auf­stieg erwar­tet uns eine 1300 Höhen­me­ter lange Traum­ab­fahrt über unver­spurte Firn­hänge. Die Schnee­de­cke schim­mert gold­gelb vom ange­weh­ten Gobi-Sand. Vic­tor schwingt vor­aus und hält Aus­schau nach Glet­scher­spal­ten. Er führt seit mehr als 20 Jah­ren Tou­ris­ten auf die Gip­fel des Kau­ka­sus und kennt hier jeden Stein. Ziel­si­cher fin­det er die steils­ten Rin­nen mit dem bes­ten Schnee. Sein wil­der Slang aus Deutsch, Rus­sisch und Eng­lisch sorgt regel­mä­ßig für Erhei­te­rung – oder rat­lose Bli­cke. Für die nächs­ten zwei Wochen ist er unser Mitt­ler zwi­schen zwei Wel­ten und mit sei­ner lie­bens­wert-schrul­li­gen Art wächst er uns schnell ans Herz.

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Zurück an der Hütte brei­ten wir unsere Socken und Felle zum Trock­nen auf der Wiese aus, wäh­rend die immer gut gelaunte Köchin Fatima den Tisch für ein spä­tes Mit­tag­essen deckt. Es gibt eine kräf­tige Borscht-Suppe und Chit­schin, eine Art kau­ka­si­scher Pfann­ku­chen mit Käse­fül­lung. Dazu ste­hen Salz und rohe, rote Knob­lauch­ze­hen auf dem Tisch, die wir erst anrüh­ren, als Vic­tor empört fragt: „Warr­rum nicht essen? Isst gut?!“ Den Nach­mit­tag ver­brin­gen wir mit einem ver­dien­ten Nicker­chen im Dau­nen­schlaf­sack, bevor uns Fatima schon wie­der Schasch­lik mit einer Fla­sche Wodka ser­viert. Spä­ter erwar­tet uns Vic­tor im Kamin­zim­mer zum Kul­tur­pro­gramm: „Guter Film, must see!“ Doch statt eines Doku­men­tar­films über den Kau­ka­sus schiebt er eine DVD von „Mascha und der Bär“ in den Recor­der. So sit­zen wir zusam­men­ge­drängt auf den abge­wetz­ten Sofas vor dem win­zi­gen Kas­ten­fern­se­her und schauen rus­si­sche Ani­ma­ti­ons­filme über das fre­che Mäd­chen Mascha, das bei einem gut­mü­ti­gen Bären lebt und die­sen mit sei­nen Strei­chen zur Weiß­glut treibt. Die Serie „Mascha i Med­wed“ basiert auf einem rus­si­schen Volks­mär­chen. Inzwi­schen haben die sie­ben­mi­nü­ti­gen Ani­ma­ti­ons­filme offen­bar Kult­cha­rak­ter: Die pink bemützte Mascha prangt nicht nur in Form von Auf­kle­bern auf den Gelän­de­wa­gen har­ter rus­si­scher Kerle son­dern auch auf T‑Shirts, Plüsch­tie­ren, Süßig­kei­ten und Glückwunschkarten.

Auch in den nächs­ten Tagen kennt Vic­tor keine Gnade: Auf­bruch im Mor­gen­grauen, eine Stunde Fuß­marsch durchs geröl­lige Fluss­tal bis zum Schnee, 1500 Höhen­me­ter Auf­stieg bei strah­len­dem Son­nen­schein und steile Glet­scher­ab­fahr­ten mit unse­rem fer­nen Ziel stets vor Augen: der Dop­pel­gip­fel des Elbrus…

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Cate­go­riesRuss­land
Astrid Därr

Astrid Därr (35, Dipl.-Geografin) wuchs in einer Globetrotter-Familie auf, die sie schon als Kleinkind auf Afrika-Expeditionen mitnahm. Als Abenteurerin, Reisejournalistin und Reiseleiterin für einen Trekkingreiseveranstalter ist Astrid mehr als 7 Monate des Jahres in der Welt unterwegs – am liebsten draußen in der Natur. Astrid veröffentlichte mehr als zehn Reisebücher in verschiedenen Verlagen.

  1. Stefanie says:

    Tol­ler Bericht! Im Kau­ka­sus mit Tou­ren­ski ist ein Traum :) War dort als Stu­den­tin (2000, vor lan­ger Zeit) mal auf der Piste, von Asau aus. Das Flair war sehr abenteuerlich.

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